Systemsturz (eBook)

Spiegel-Bestseller
Der Sieg der Natur über den Kapitalismus

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
320 Seiten
dtv (Verlag)
978-3-423-44316-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Systemsturz -  Kohei Saito
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Ohne Kapitalismus in die Zukunft Wenn wir glauben, die Welt durch nachhaltigen Konsum vor der Klimakatastrophe zu retten, betrügen wir uns selbst. Das sagt der japanische Philosoph Kohei Saito. Denn der Kapitalismus ist nicht zukunftsfähig. Klar und überzeugend vertritt Saito die These: Nichts, was die Welt jetzt braucht, lässt sich innerhalb eines kapitalistischen Systems realisieren. Grünes Wachstum ist unmöglich. Was wir stattdessen brauchen? Einen neuen Kommunismus. Genauer gesagt: einen Ökosozialismus, der nicht auf Wachstum ausgerichtet ist, der das Produktionstempo herunterfährt und Wohlstand umverteilt. Schon Marx plädierte für eine nachhaltige Wirtschaftsordnung. Und nur damit wird es uns gelingen, die Natur - unsere Lebensgrundlage - zu erhalten. Die bahnbrechende Neuinterpretation der Marx'schen Theorie von einer der aufregendsten jungen Stimmen der internationalen Philosophie »Neoliberale Maßnahmen wie Deregulierung oder Beschneidung des Sozialstaats, mit denen das Wachstum angetrieben wurde, haben soziale Gräben und Instabilität hinterlassen. Warum sollen wir so weitermachen, unser ganzes Leben auf Arbeiten, Geldverdienen, Konsumieren ausrichten? Wir brauchen einen >new way of life<.« Kohei Saito

Kohei Saito, geboren 1987, ist Associate Professor für Philosophie an der Universität von Tokio. Er promovierte 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin, ist Mitherausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe und wurde 2018 mit dem Isaac-Deutscher-Preis ausgezeichnet. Saitos »Systemsturz« wurde in Japan ein großer Erfolg, das Buch verkaufte sich dort mehr als 500.000 Mal.

Wie die imperiale Lebensweise Opfer fordert


Bei der Analyse des Verhältnisses zwischen dem Kapitalismus im Anthropozän und der Umweltkrise sollten wir unseren Blick zuerst auf den globalen Süden richten. Mit dem Begriff »globaler Süden« bezeichnet man ein Gebiet, das von der Globalisierung geschädigt wird, sowie dessen Einwohner. Früher sprach man auch vom »Nord-Süd-Konflikt«. Doch mit dem Aufkommen der Schwellenländer und der verstärkten Einwanderung in Industrieländer muss man das Nord-Süd-Gefälle nicht mehr zwangsläufig an geografischen Gesichtspunkten festmachen. Auch unter den Industrienationen gibt es Gebiete, die von Armut und Diskriminierung betroffen sind, und ebenso gibt es in Entwicklungsländern wohlhabende Gesellschaftsschichten, deren Lebensstil dem der Industrieländer in nichts nachsteht. Deshalb ziehe ich es vor, den Ausdruck »globaler Süden« zu verwenden.

Blickt man auf die Geschichte des Kapitalismus zurück, wird jedenfalls klar, dass sich die Kehrseite des Wohlstands der Industrienationen in verschiedensten Tragödien ausdrückt, die sich im globalen Süden wiederholt abgespielt haben. Man kann auch sagen, dass die Widersprüche des Kapitalismus dort in konzentrierter Form zu finden sind.

Auch wenn wir den Rückblick auf die letzten Jahre beschränken, ist die Zahl der Opfer zu groß, um sie alle hier anzuführen. Als Beispiele erwähnt seien die von der englischen BP verursachte Ölpest im Golf von Mexiko, Amazonas-Waldbrände, die auf das Konto der ungezügelten, schädlichen Entwicklung des multinationalen Agribusiness gehen, oder aber die vor der Küste von Mauritius durch den Unfall des von der japanischen Mitsui-Reederei betriebenen Frachters Wakashio ausgelöste Schwerölpest.

Das Ausmaß der Zerstörung ist groß. Der Dammbruch von Brumadinho in Brasilien forderte 2019 um die 270 Menschenleben. Der Damm befindet sich im Besitz von Vale, einem der drei größten Bergbauunternehmen weltweit. Er diente nicht etwa der Trinkwasserversorgung, sondern der Lagerung von Eisenerzabraum (ein schleimartiges Abfallgemisch aus Wasser und Mineralien, das beim Erzabbau entsteht).

Vale war zwar bereits 2015 für einen ähnlichen Unfall an einem anderen Ort verantwortlich gewesen, doch auch 2019 war dieser Dammbruch, bei dem eine mehrere Millionen Tonnen schwere Schlammflut ein nahegelegenes Dorf unter sich begrub, auf schlampiges Management zurückzuführen. Natürlich wurden außerdem umliegende Flüsse durch die in alle Richtungen verstreuten Mineralien verschmutzt, und das Ökosystem nahm immensen Schaden.

Waren all diese Unfälle einfach nur »unglückliche« Ereignisse? Nein, natürlich nicht. Experten, Arbeiter sowie Anwohner wiesen wiederholt auf die Unfallgefahr hin. Ungeachtet dessen versäumten es Staat und Unternehmen, effektive Gegenmaßnahmen zu ergreifen, das hätte schließlich höhere Kosten bedeutet.

Es waren menschengemachte Katastrophen, die sich abgezeichnet hatten.

Und dennoch fürchte ich, dass die Anteilnahme des globalen Nordens an Unfällen in Mexiko oder im ebenso fernen Brasilien begrenzt ist. Außerdem wird es wohl auch Leserinnen und Leser geben, die sich denken, das Ganze habe mit ihrem eigenen Leben überhaupt nichts zu tun. Doch in Wirklichkeit tragen auch wir, die Einwohner der Industrieländer, zweifellos eine Mitschuld an diesen Katastrophen. Ob nun Eisen und Benzin für unsere Fahrzeuge, Baumwolle für unsere Kleidung oder Rindfleisch: All das kommt von »weit her«. Ohne die ausgebeuteten Arbeitskräfte und die geplünderten Rohstoffe des globalen Südens wäre unser Leben im Wohlstand unmöglich.

Die deutschen Soziologen Ulrich Brand und Markus Wissen bezeichnen den auf Ausbeutung von Rohstoffen und Energie des globalen Südens beruhenden modernen Lebensstil der Industrieländer als »imperiale Lebensweise«. Sie meinen damit die Massenproduktions- und Massenkonsumgesellschaft des globalen Nordens, die uns ein Leben im Wohlstand ermöglicht. Hinter den Kulissen dieser gesellschaftlichen Ordnung steht jedoch eine Struktur, die den globalen Süden ausbeutet und seine gesellschaftlichen Gruppen sowie geografischen Gebiete den Preis für unseren Wohlstand zahlen lässt. Ohne die Auslagerung der Ausbeutung in den globalen Süden könnte man keine imperiale Lebensweise pflegen. Sich verschlechternde Lebensbedingungen im globalen Süden sind eine Grundvoraussetzung des Kapitalismus, und das Verhältnis von Dominanz und Unterordnung zwischen Nord und Süd ist keine Ausnahme, sondern kapitalistischer Normalbetrieb.[6]

Und dennoch haben wir die jetzige Lebensweise als etwas überaus Attraktives akzeptiert, von dem wir uns nicht mehr trennen können. Wenn uns der globale Süden am Herzen liegt, müssen wir unseren Lebensstandard senken. Da wir uns also zu Komplizen der imperialen Lebensweise gemacht haben, wird unser Leben letztlich beschwerlicher.

Ein Beispiel: Die sogenannte Fast Fashion ist schon gänzlich Teil unseres Lebens geworden. Die Kleider dafür werden unter miesen Bedingungen von Arbeiterinnen und Arbeitern in Bangladesch hergestellt. Im Jahr 2013 erlangte der Einsturz des Gewerbegebäudes »Rana Plaza«, in dem fünf Textilfabriken untergebracht waren, traurige Berühmtheit, kostete das Unglück doch über 1000 Menschenleben. Zu erwähnen bleibt auch, dass die Baumwolle für die bengalische Textilproduktion von mittellosen indischen Bauern angebaut wird, die ihre Arbeit in brütender Hitze bei etwa 40 °C verrichten.[7] Wegen der verstärkten Nachfrage der Modeindustrie wurde angefangen, im großen Stil genetisch veränderte Baumwolle anzubauen. Dadurch ging das selbst angebaute Saatgut verloren, und die Landwirte müssen seitdem jedes Jahr gentechnisch veränderte Saatgutsorten, chemische Düngemittel und Unkrautvertilgungsmittel ankaufen. Kommt es wegen Dürre und Hitzewellen zu Missernten, sind die Bauern gezwungen, Schulden aufzunehmen, was unter ihnen bereits zu Suiziden geführt hat.

Das Tragische hierbei ist ja, dass der globale Süden von der Produktion und dem Konsum der imperialen Lebensweise abhängig und dadurch, der Struktur des Kapitalismus sei Dank, auch auf dessen Normalbetrieb angewiesen ist.

Wie schon erwähnt, wussten die Brasilianer selbst, dass der Damm von Brumadinho gefährlich war. Und trotzdem wurden sie gezwungen, den Abbau fortzusetzen, obwohl es zuvor ja sogar schon zu einem ähnlichen Unfall gekommen war. So hatten sie keine andere Wahl, als an der Abbaustätte weiterzuarbeiten und in der Nähe des Damms zu wohnen.

Auch in den Textilfabriken im »Rana Plaza« in Bangladesch wies die Belegschaft schon am Vortag auf ungewöhnliche Veränderungen an Wänden und Säulen hin, doch man schenkte ihren Stimmen kein Gehör. Und ebenso wissen die indischen Bauern, dass Pestizide schädlich für Natur und Gesundheit sind, doch trotzdem muss die Modeindustrie weiter expandieren. Man ist gezwungen, die weltweite Nachfrage zu befriedigen, ein Produktionsstopp kommt nicht infrage. Je mehr Menschen sterben, desto mehr Gewinn machen Großkonzerne. Das ist die Logik des Kapitalismus.

Natürlich haben wir solche schmerzhaften Argumente immer wieder gehört. Doch was tun wir? Spenden ein wenig Geld und vergessen dann alles wieder. Dass wir überhaupt vergessen können, bedeutet ja, dass Ereignisse, wie ich sie beschrieben habe, im Alltag unsichtbar gemacht werden.

Stephan Lessenich, seines Zeichens Soziologe an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, führt in diesem Sinne aus, dass das Abwälzen von Kosten bzw. auch Kompensationszahlungen in die Ferne sowie die erwähnte Unsichtbarmachung für »Wohlstand« der Industrienationen unerlässlich seien. Er benennt und kritisiert diese Entwicklung als »Externalisierungsgesellschaft«. Während der globale Süden das Opfer dieser Entwicklung ist, genießen die Industrieländer ein Leben in Wohlstand und versuchen, diesen privilegierten Status »nicht nur heute, sondern auch morgen und in Zukunft« aufrechtzuerhalten, beklagt Lessenich weiter. Die Externalisierungsgesellschaft schafft unaufhörlich Peripherien, wohin Belastungen abgewälzt werden. Dadurch ist unsere Gesellschaft zu Wohlstand gekommen.[8]

Versuchen wir nun, den Zusammenhang zwischen dem Kapitalismus der Industrienationen und dem Opfer des globalen Südens mittels der »Weltsystemtheorie« des im Vergleich zu Lessenich international weitaus bekannteren US-amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein in einfachen Worten zusammenzufassen. Seiner Einschätzung nach setzt sich der Kapitalismus aus einem »Zentrum« sowie der »Peripherie« zusammen. In der Peripherie bzw. im globalen Süden werden billige Arbeitskräfte ausgebeutet, wodurch die Preise der von ihnen...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2023
Übersetzer Gregor Wakounig
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Arbeitsteilung • CO2 • Das Ende des Kapitalismus • Das Kapital • Degrowth • Degrowth-Kommunismus • Erderwärmung • Eurozentrismus • Gesellschaft • grünes Wachstum • IPCC • japanischer Philosoph • Kalter Krieg • Kapital • Kapitalismus • Kapitalismus-Kritik • Kapitalistisches System • Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung • Keynes • Klimakrise • Klimawandel • Klimaziele • Kommunismus • Konsum • Kreislaufwirtschaft • Marx • Marxismus • Marxistische Philosophie • Nachhaltigkeit • Ökologie • Planwirtschaft • Postwachstum • Produktion • Produktivität • Sachbuch Wirtschaft • Schulden • Systemsturz • Systemwandel • Systemwechsel • Thomas Piketty • Tyrannei • Überfluss • Wachstum • Weg aus der Krise • Wirtschaftskrise • Wirtschaftssystem • Zukunft • Zukunftsfragen
ISBN-10 3-423-44316-2 / 3423443162
ISBN-13 978-3-423-44316-6 / 9783423443166
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