Was man für Geld nicht kaufen kann (eBook)
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491893-8 (ISBN)
Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit begeisterte online Millionen von Zuschauern und machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. »Was man für Geld nicht kaufen kann« wurde zum internationalen Bestseller. Seine Bücher beschäftigen sich mit Ethik, Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus und wurden in 27 Sprachen übersetzt.
Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit begeisterte online Millionen von Zuschauern und machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. »Was man für Geld nicht kaufen kann« wurde zum internationalen Bestseller. Seine Bücher beschäftigen sich mit Ethik, Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus und wurden in 27 Sprachen übersetzt. Helmut Reuter, geboren 1946, arbeitet seit 1995 als freier Übersetzer aus dem Englischen und Französischen. Neben den Werken Michael J. Sandels hat er u.a. Bücher von John Hands, Lawrence M. Krauss oder Niall Ferguson übersetzt. Er lebt in der Nähe von München.
2 Anreize und Belohnungen
Bargeld für die Sterilisation
Jedes Jahr werden Hunderttausende Babys von drogenabhängigen Müttern geboren. Manche dieser Babys sind von Geburt an selbst drogenabhängig, und sehr viele von ihnen werden misshandelt oder vernachlässigt. Barbara Harris, Gründerin einer in North Carolina ansässigen Hilfsorganisation namens Project Prevention, bietet eine auf der Logik des Marktes beruhende Lösung an: Drogenabhängige Frauen erhalten 300 Dollar in bar, wenn sie sich sterilisieren lassen oder langfristig Empfängnisverhütung betreiben. Seit das Programm 1997 begonnen wurde, haben mehr als 3000 Frauen das Angebot angenommen.[1]
Kritiker bezeichnen das Projekt als »moralisch verwerflich« und als »Bestechung«. Drogenabhängigen einen finanziellen Anreiz zu geben, damit sie ihre Fortpflanzungsfähigkeit aufgeben, laufe auf Zwang hinaus – insbesondere deshalb, weil das Programm auf anfällige Frauen in armen Wohngebieten abziele. Anstatt den Empfängern zu helfen, ihre Abhängigkeit zu überwinden, werde die Sucht subventioniert, meinen die Kritiker. Oder wie es in einem Werbe-Flugblatt für das Programm heißt: »Lass dir deine Drogensucht nicht durch eine Schwangerschaft verderben.«[2]
Wie Harris einräumt, verwenden ihre Klienten das Geld recht häufig dazu, sich weitere Drogen zu beschaffen. Sie ist jedoch davon überzeugt, dies sei, gemessen an ihrem Ziel – zu verhindern, dass drogenabhängige Kinder geboren werden –, nur ein kleiner Preis. Manche der Frauen, die sich für Geld sterilisieren lassen, sind schon ein Dutzend Mal oder häufiger schwanger gewesen; viele haben bereits mehrere Kinder in Pflegeeinrichtungen gegeben. Harris fragt: »Wieso soll das Recht einer Frau auf Fortpflanzung wichtiger sein als das Recht eines Kindes auf ein normales Leben?« Sie spricht aus Erfahrung: Sie und ihr Mann haben vier Kinder einer von Crack abhängigen Frau in Los Angeles adoptiert. »Ich werde alles Notwendige tun, um zu verhindern, dass Babys leiden. Ich glaube nicht, dass irgendjemand das Recht hat, einem anderen Menschen seine Sucht aufzuzwingen.«[3]
2010 exportierte Harris ihr Belohnungsmodell nach Großbritannien, wo die Vorstellung von Bargeld gegen Sterilisation auf heftigen Widerstand beim britischen Ärzteverband und in der Presse stieß – ein Artikel im Telegraph sprach von einem »gruseligen Vorschlag«. Harris hat die Initiative mittlerweile auf Kenia ausgedehnt, wo sie HIV-positiven Frauen 40 Dollar bezahlt, damit sie sich Spiralen einsetzen lassen. In Kenia und Südafrika (dort will Harris demnächst tätig werden) haben Vertreter von Gesundheitsbehörden und Menschenrechtsaktivisten mit Empörung und Ablehnung reagiert.[4]
Aus Sicht der Marktlogik ist nicht nachvollziehbar, warum das Programm für Entrüstung sorgen sollte. Auch wenn manche Kritiker vorbringen, dies erinnere sie an die Eugenik der Nazis, ist der Tausch von Bargeld gegen Sterilisation ein freiwilliges Arrangement zwischen privaten Parteien. Der Staat ist nicht eingebunden, und niemand wird gegen seinen Willen sterilisiert. Einige meinen, Drogenabhängige, die dringend Geld benötigten, seien nicht in der Lage, eine wirklich freie Entscheidung zu treffen. Wenn ihr Urteilsvermögen aber tatsächlich so stark beeinträchtigt sei, entgegnet Harris, wie kann man von ihnen dann vernünftige Entscheidungen in Sachen Schwangerschaft und Kindererziehung erwarten?[5]
Sieht man es als einfaches Geschäft, bringt der Deal beiden Seiten einen Gewinn und steigert den gesellschaftlichen Nutzen. Die Süchtige erhält 300 Dollar im Tausch dafür, dass sie ihre Gebärfähigkeit aufgibt. Harris und ihre Organisation erhalten für ihre 300 Dollar die Gewissheit, dass die Süchtige künftig keine drogenabhängigen Kinder mehr in die Welt setzen wird. Nach der normalen Logik des Marktes ist dieser Tausch ökonomisch effizient. Er teilt ein Gut – in diesem Fall die Kontrolle über die Fortpflanzungsfähigkeit der Süchtigen – jemandem (Harris) zu, der es so sehr schätzt, dass er bereit ist, einen hohen Geldbetrag dafür zu bezahlen.
Wieso also die ganze Aufregung? Sie beruht auf zwei Gründen, die zusammen Licht auf die moralischen Grenzen der Marktlogik werfen. Einige kritisieren die Sterilisation gegen Cash als Zwang, andere nennen sie Bestechung. Letztlich sind das zwei verschiedene Einwände. Jeder verweist auf einen anderen Grund, sich dem Zugriff des Marktes auf Bereiche zu widersetzen, in denen er nichts zu suchen hat.
Der auf Zwang abzielende Einwand ist von der Sorge getragen, dass Drogenabhängige, die sich gegen Geld sterilisieren lassen, nicht frei handeln. Zwar hält ihnen niemand ein Schießeisen an den Kopf, doch der finanzielle Anreiz könnte trotzdem unwiderstehlich sein. Angesichts ihrer Sucht und ihrer Armut erfolgt die Entscheidung, sich für 300 Dollar sterilisieren zu lassen, nicht wirklich frei. Tatsächlich könnten die Frauen aufgrund ihrer Lage unter Zwang stehen.
Natürlich gibt es unterschiedliche Ansichten, welche Anreize unter welchen Bedingungen auf Zwang hinauslaufen. Wenn wir also den moralischen Status einer beliebigen Markttransaktion einschätzen wollen, müssen wir uns vorher fragen: Unter welchen Bedingungen beruhen die Marktbeziehungen auf einer freien Entscheidung, und unter welchen Bedingungen üben sie einen gewissen Zwang aus?
Der Einwand der Bestechung ist von anderer Art. Er betrifft nicht die Bedingungen, unter denen man einen Handel abschließt, sondern die Art des gehandelten Gutes. Nehmen wir einen Standardfall für Bestechung. Wenn ein skrupelloser Typ einen Richter oder Staatsbeamten schmiert, um einen illegitimen Vorteil zu erhalten, kann die schändliche Transaktion durch und durch freiwillig erfolgen. Keine Partei wird gezwungen, und beide gewinnen dabei. Einwände gegen die Bestechung beziehen sich nicht darauf, dass sie mit Zwang einhergeht, sondern darauf, dass es sich um Korruption handelt. Die Korruption besteht darin, dass etwas gehandelt wird (etwa ein Gerichtsurteil oder politischer Einfluss), was nicht verkäuflich sein sollte.
Oft bringen wir Korruption mit ungesetzlichen Zahlungen an Behördenvertreter in Verbindung. Doch wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, hat Korruption auch eine breitere Bedeutung: Wir korrumpieren ein Gut, eine Handlung oder eine gesellschaftliche Praxis immer dann, wenn wir sie unangemessen behandeln, also gemäß einer niedrigeren Norm, als ihr zusteht. Um ein extremes Beispiel zu nehmen: Kinder zu bekommen, um sie zu verkaufen, ist demnach als Korrumpierung der Elternschaft zu sehen, weil hier Kinder als Gebrauchsgegenstände behandelt werden und nicht als Personen. Politische Korruption kann man im gleichen Licht betrachten: Wenn ein Richter Schmiergeld annimmt und dann ein korruptes Urteil fällt, handelt er, als sei seine gesetzliche Autorität ein Werkzeug für persönlichen Profit (und missbraucht damit das Vertrauen, das in ihn als Amtsträger gesetzt wurde). Er entwertet und entwürdigt sein Amt, weil er es gemäß einer niedrigeren, unangemessenen Norm behandelt.
Dieser weiter gefasste Begriff von Korruption steht hinter dem Vorwurf, Bargeld für Sterilisation sei eine Form von Bestechung. Wer hier von Schmiergeld spricht, will darauf hinaus, dass der Handel (unabhängig davon, ob er Zwang einschließt oder nicht) verwerflich sei, weil beide Parteien – der Käufer (Harris) und der Verkäufer (die Drogenabhängige) – das gehandelte Gut (die Gebärfähigkeit der Verkäuferin) auf falsche Weise bewerten. Harris behandelt drogenabhängige und HIV-positive Frauen als beschädigte Gebärmaschinen, die gegen eine bestimmte Gebühr abgeschaltet werden können. Und wer auf das Angebot eingeht, schließt sich dieser abwertenden Sicht seiner selbst an. Hier liegt die moralische Stärke des Bestechungsvorwurfs. Wie korrupte Richter und Beamte verkaufen diejenigen, die sich sterilisieren lassen, etwas, was nicht verkäuflich sein sollte. Sie behandeln ihre Fortpflanzungsfähigkeit als Mittel für finanziellen Gewinn und nicht als Geschenk oder etwas, mit dem sie verantwortungsvoll und umsichtig umgehen sollten.
Dagegen ließe sich vorbringen, dass die Analogie falsch ist. Ein Richter, der im Tausch für ein korruptes Urteil Schmiergeld annimmt, verkauft etwas, dessen Verkauf ihm nicht zusteht – das Urteil ist ja nicht sein Eigentum. Eine Frau, die einwilligt, sich gegen Bezahlung sterilisieren zu lassen, verkauft dagegen etwas, was ihr gehört, nämlich ihre Fortpflanzungsfähigkeit. Es ist schließlich nicht an sich falsch, wenn sie beschließt, sich sterilisieren zu lassen (oder keine Kinder zu bekommen); der Richter jedoch verhält sich falsch, wenn...
Erscheint lt. Verlag | 24.1.2024 |
---|---|
Übersetzer | Helmut Reuter |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bürger • Demokratie • Ethik • Gemeinwohl • Harvard • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Neoliberalismus • Philosophie • Solidarität • unregulierte Märkte |
ISBN-10 | 3-10-491893-7 / 3104918937 |
ISBN-13 | 978-3-10-491893-8 / 9783104918938 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 4,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich