Kartonwand (eBook)

Spiegel-Bestseller
Das Trauma der Arbeitsmigrant/innen am Beispiel meiner Familie
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31033-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kartonwand -  Fatih Çevikkollu
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Als Fatih Çevikkollus Mutter starb, war das für ihn ein Wendepunkt. Sie litt an einer Psychose und war im Alter nicht mehr gesellschaftsfähig. Und er fragte sich: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den psychischen Problemen und ihrem Schicksal als sogenannte Gastarbeiterin in den Sechzigerjahren in Deutschland? Alle Arbeitsmigrant:innen kennen sie, denn sie steht symbolisch für den Traum vom baldigen Glück in der Heimat: eine ganze Wand aus Kartons, in denen alles verstaut wurde, was schön und wertvoll war - für das spätere Leben in der Türkei.  Willkommen war man in Deutschland nicht, doch was hält man nicht alles aus, wenn es nur von kurzer Dauer ist? Es lohnte sich weder, die deutsche Sprache zu lernen, noch sich ein Zuhause zu schaffen, schließlich sollte es bald zurückgehen. Die Kinder wurden als Kofferkinder hin- und hergeschickt. Was macht es mit Menschen, wenn sie irgendwann merken: Der Traum zurückzukehren hat sich nicht erfüllt? Fatih Çevikkollu beschreibt sein Leben und das seiner türkischen Familie, die Träume und Enttäuschungen seiner Eltern, und er spricht mit Expert:innen über die Folgen der Arbeitsmigration, die bis heute in den Familien Wunden hinterlassen hat. Ein Thema, das bisher nur in Fachkreisen behandelt wurde und dringend in den Mittelpunkt der Debatten gehört.

Fatih Çevikkollu ist ein deutscher Kabarettist, Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und Sohn türkischer Eltern, die in den 60er Jahren als Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen. Er studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und ging dann ans Düsseldorfer Schauspielhaus. Im Fernsehen spielte er die Rolle des Murat Günaydin in Alles Atze. Für sein erstes Soloprogramm Fatihland wurde er 2006 mit dem Prix Pantheon Jurypreis ausgezeichnet. 

Fatih Çevikkollu ist ein deutscher Kabarettist, Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und Sohn türkischer Eltern, die in den 60er Jahren als Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen. Er studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und ging dann ans Düsseldorfer Schauspielhaus. Im Fernsehen spielte er die Rolle des Murat Günaydin in Alles Atze. Für sein erstes Soloprogramm Fatihland wurde er 2006 mit dem Prix Pantheon Jurypreis ausgezeichnet. 

Inhaltsverzeichnis

Kindheitserinnerungen an Adana


Der Anfang meines Lebens, meine Kindheit, hat sich zu einem großen Teil in Deutschland und zu einem kleinen Teil in der Türkei abgespielt. Wie viele andere Familien auch hatten meine Eltern die Idee, die Kinder spätestens zur Einschulung in die Heimat zu schicken und selbst nachzukommen, sobald genug Geld verdient war. Schließlich lebten meine Großeltern in der Türkei, sie konnten zwischenzeitlich die Betreuung übernehmen, dachten sie.

So kam es, dass ich, noch bevor ich ein Verständnis von verschiedenen Ländern, verschiedenen Nationalitäten, verschiedenen Kulturen entwickeln konnte, schon munter zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergeschickt wurde. Ich habe Bilder von Adana im Kopf, der Stadt, aus der meine Eltern kamen. Sie liegt im Süden der Türkei, die heute knapp 1,5Millionen Einwohner:innen hat und die 2023 von dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien betroffen war. Ende der 60er-Jahre hatte sie nur etwas über 300.000 Einwohner.

Das Haus, in dem wir lebten, lag am Anfang einer Gasse. Genau genommen waren es zwei miteinander verbundene kleine Häuser. Zur Straße hin gab es ein kleines Ladenlokal, das mein Opa betrieb, in dem es Lebensmittel, Zeitungen, Brot und, für mich ganz aufregend, Coca-Cola zu kaufen gab. Es war nicht größer als eine Garage. Mein Opa hatte nach seiner Pensionierung aus Langeweile (und wahrscheinlich wegen finanzieller Schwierigkeiten) die an der Straße liegende Mauer aufgerissen und an dem so entstandenen Ladengeschäft ein Rolltor angebracht. Auf der anderen Straßenseite gab es bereits mehrere Lebensmittelläden, und die anderen Händler schlugen vor, er möge doch kein komplettes Sortiment führen, sondern nur einfache Grundnahrungsmittel. So geschah es dann auch.

Die beiden Häuser waren durch einen Trampelpfad und einen winzigen Garten miteinander verbunden. Im vorderen Haus zum Laden hin wohnte meine Uroma, die Mutter meines Opas. Im hinteren Haus mein Opa, meine Oma, meine Mutter, mein älterer Bruder und ich sowie zwei meiner Onkel. Als meine Uroma starb, zogen meine Mutter, mein Bruder und ich in dieses erste Haus. Mein Vater arbeitete zu der Zeit allein in Deutschland, meine Mutter wohnte mit uns Kindern in ihrem Elternhaus. Mein Bruder war zur Einschulung in die Türkei geschickt worden. Die Idee, dass wir Kinder zunächst bei den Großeltern aufwuchsen und die Eltern in Deutschland arbeiten, gefiel meinen Großeltern irgendwann nicht mehr. Sie fanden, dass Eltern sich selbst um die Kinder kümmern müssen. Da mein Vater aber in Deutschland das Geld verdiente, war meine Mutter allein zu uns in die Türkei gekommen. Die Familie war also getrennt.

Mein Vater besuchte uns ab und zu hier. Dass das auf die Dauer auch keine Lösung sein konnte, war allen klar. So zogen wir irgendwann wieder nach Deutschland – allerdings nur meine Mutter und ich, mein großer Bruder sollte in der Türkei bleiben: Es war ja alles nur vorübergehend, bald würden wir alle in der Türkei leben.

Erinnerungen an die Türkei sind eher verschwommene Bilder, unser Leben in dieser Sackgasse, meine Freunde, mit denen ich da herumtobte. Ich war in der Familie das Nesthäkchen, der Jüngste, der Kleinste, irgendwas zwischen drei und fünf Jahre alt und damit beschäftigt, durch die Gegend zu streunen. Morgens sah ich meinen älteren Bruder, der sich für die Schule fertig machte, seine schwarze Schuluniform mit dem weißen Kragen anzog, seinen grün-orangen Tornister aufsetzte, vorne an der Straße auf den Bus wartete, der ihn dann zur Schule fahren sollte. Mein älterer Bruder hat in der Türkei mit der Grundschule begonnen. Für mich war das alles noch in sehr weiter Ferne, ehrlich gesagt wusste ich auch gar nicht, wo er morgens hinfuhr, ich fand es nur total cool, dass er so eine Uniform hatte.

Mein Opa war ein Mann mit nach hinten gekämmtem dünnem Haar, der ein bisschen so aussah wie der Staatsgründer Atatürk. Draußen lief er nur im Anzug herum, auf der Arbeit mit Krawatte. Privat auch schon mal ohne, aber nicht immer. Konservativ würde ihn ganz gut beschreiben, religiös war er aber nicht. Er hatte mit meiner Oma sechs Kinder. Und es war ihm sehr wichtig, dass die Kinder eine höhere Bildung genießen würden. Er selbst war leitender Angestellter bei der Post, damals hieß es immer, der Opa sei Direktor. Meine Mutter und ihre Schwester wurden beide Lehrerinnen, das war im Adana der 50er-Jahre sehr fortschrittlich. Meine vier Onkel haben alle studiert. Mein ältester Onkel, Fuat, arbeitete beim TRT, dem türkischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, ich nehme an, er war Redakteur, aber es hieß natürlich, er sei Direktor. Mein zweitältester Onkel Ismet hat es aus Adana nach Istanbul geschafft, wo er an der berühmten Yildiz-Teknik-Universität Elektrotechnik studierte. Auch er wurde am Ende Direktor, nämlich der Leiter der Stromwerke von Antalya.

Der Hochschulzugang ist in der Türkei nicht wie bei uns in Deutschland über ein zentrales Abitur geregelt, sondern hängt an einem Test am Ende der Schulzeit. Je nachdem, wie viele Punkte bei diesem Test erreicht werden, wird eine Universität zugeteilt. Die besten haben selbstverständlich die höchste Punktzahl. Jeder Studierende kann zwar Wünsche äußern zu Fächern und der Wunsch-Uni, aber wenn die Punktzahl nicht stimmt, kann man an irgendeiner Feld-Wald-und-Wiesen-Universität irgendein Feld-Wald-und-Wiesen-Fach studieren. Das ist in der Türkei tatsächlich bis heute ein großes Drama, denn wer bei dieser Prüfung zu schlecht abschneidet, muss ein ganzes Jahr auf die nächste Prüfung warten.

Dass die Familie meiner Mutter Wert auf Bildung legte, wird noch wichtig werden bei der Frage nach dem Status, den meine Mutter nach der Heirat mit meinem Vater und der Migration nach Deutschland verlor. Um es kurz zu machen: Es war der Absturz aus einer angesehenen Familie mit Bildung zu einer »Gastarbeiterin« ohne Sprache oder Ansehen, die als Näherin arbeiten musste. Wie schwer wiegt ein solcher Statusverlust? Ich habe mich immer als Arbeiterkind definiert, weil mein Vater in Deutschland bei Ford gearbeitet hat. Dass meine Mutter Lehrerin war und ich somit mit meiner Selbstbeschreibung nur halb richtiglag, sagt viel über unser Selbstverständnis als Familie sowie unseren Status in Deutschland aus: Wir waren als »Gastarbeiterkinder« automatisch Arbeiterschicht, etwas anderes wäre uns nicht in den Sinn gekommen. Dazu gehörte die Wohnung in Köln-Nippes, einem Stadtteil, der damals alles andere als hip war. Die Unternehmen hatten Wohnheime für ihre Arbeiter:innen geschaffen, die in den ärmeren Stadtteilen lagen. In Köln waren das bevorzugt Niehl, Merkenich, Mülheim, Kalk und Nippes. Wenn die Familien sich Wohnungen suchten, blieben sie in diesen Stadtteilen. Es kam zu einer klaren Segregation, die z.T. bis heute beobachtet werden kann, auch wenn sich durch die Mietpreise einiges aufhebt.

Was wäre passiert, wenn wir in Adana geblieben wären? Welches Ansehen hätte die Familie genossen, und wie hätte sich das auf uns ausgewirkt? Darüber kann ich nur spekulieren, aber ich bin mir sicher, dass unser Leben eine andere Wendung genommen hätte.

Meine Mutter mit meinem Bruder (rechts) und mir in Adana

Von meinen beiden Onkeln, die noch mit im Haus wohnten, habe ich damals nicht wirklich viel mitbekommen. Mein jüngster Onkel Selim war vielleicht zehn Jahre älter als ich, somit war ich für ihn komplett uninteressant. Er war so was wie der Wildfang in der Familie, ständig unterwegs und viel Quatsch im Kopf. Einmal brachte er einen großen Schäferhund mit und sagte, der gehöre jetzt ihm. Meine Großeltern waren anderer Meinung, und der Hund musste wieder weg. Dann fing mein Onkel an, auf dem Flachdach Tauben zu züchten, das war ein gängiges Hobby, so mancher hatte eine Taubenzucht auf dem Dach. So richtig erfolgreich war sein Unterfangen jedoch nicht, irgendwann gab er es auf.

Als mein Onkel Selim mit dem Studium begann, mischte er bei den Studentenunruhen, die infolge des Putsches in den 1980er-Jahren tobten, in Adana mit. Als ihm in den Fuß geschossen wurde, beschlossen meine Großeltern, nach Mersin umzuziehen – in die Wohnung meines Vaters, also des Schwiegersohns. Doch dazu später mehr.

Mein nächstälterer Onkel Haluk war um die 15Jahre älter als ich. Er hat sich mir gegenüber ganz anders benommen als Onkel Selim, er hat mich gesehen und sich mit mir unterhalten. Es war mein Onkel Haluk, der mir damals in Adana von Pink Floyd erzählte, davon, was für eine innovative Band das sei, und überhaupt fand er sie richtig gut, und dass er mir das alles erzählt hat, fand ich richtig gut. Mein Onkel hat mir damals auch vom Catchen berichtet, einem Sport aus den Vereinigten Staaten, in dem Menschen unvorstellbar brutal miteinander kämpfen, als Show. Jahrzehnte später tauchte das auch in Deutschland auf, und ich dachte, mein Onkel hatte schon immer ein interessantes Spezialwissen. Vielleicht ist er ja auch deshalb bis heute mein Lieblingsonkel, weil er zugewandt, lustig und erzählfreudig war. In der Familie gilt er bis heute als das schwarze Schaf, weil er Einzelgänger war und sich wenig um die Meinung anderer kümmerte. Aber wie ich im Laufe dieses Buches feststellen musste: Den Stempel bekommt man in meiner Familie sehr leicht aufgedrückt.

In dieser Zeit, Anfang der 70er-Jahre, lebte mein Vater also in Deutschland, und wir fuhren hin und her. In meiner Erinnerung ist Leerstelle, ich erinnere mich nicht an ihn, weder an seine Anwesenheit und auch nicht an seine Abwesenheit. Meine Mutter hat nicht gearbeitet, sie versorgte uns, aber sie war nicht sehr zugewandt,...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2023
Zusatzinfo 14 s/w Abb.
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 60er Jahre • Alles Atze • Arbeitsmigration • Arbeit und Krankheit • Ausgrenzung • Ausländerfeindlichkeit • Cevikkollu • Cevikkolu • Cevikollu • Cevikolu • Comedian • Deutsch-Türkisch • Familie • Fatih Cevikkollu • Fatih Çevikkollu • Fatihland • Gastarbeiter • gastarbeiterfamilien • Integrationserfahrungen • karton wand • Kartonwand • Kofferkinder • Krankheit • Migration • migrationserfahrungen • Migrationsgeschichte • Migrationshintergrund • türkischer schauspieler • Zuwanderung
ISBN-10 3-462-31033-X / 346231033X
ISBN-13 978-3-462-31033-7 / 9783462310337
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