Das Gespenst der Inflation (eBook)
544 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77554-7 (ISBN)
Ein Lehrstück über den Umgang mit Preissteigerungen
Nach dem Ende von Maos Herrschaft stand die politische Führung in China Ende der siebziger Jahre vor gewaltigen Problemen: Wie sollte sie das bankrotte Wirtschaftssystem neu erfinden? Wie eine galoppierende Inflation vermeiden, die als Schreckgespenst durch das Land spukte? Durch Schocktherapie oder schrittweise Reformen? Letztendlich obsiegten die Kräfte, die für einen staatlich gelenkten Wandel plädierten. Anders als Russland, das nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in einen katastrophalen Abwärtsstrudel geriet, erlebte China einen beispiellosen Aufstieg.
Isabella M. Weber, eine der bedeutendsten Ökonominnen ihrer Generation, zeichnet in ihrem hoch gelobten Buch die damaligen Debatten um die Neugestaltung des chinesischen Wirtschaftssystems minutiös nach und ordnet diese Diskussionen in die langen Traditionen des ökonomischen Denkens im Reich der Mitte und des Westens ein. Insbesondere zeigt sie, wie es gelang, die Inflation zu begrenzen. Chinas Weg zurück in die Weltwirtschaft, so Weber, ist nicht nur die Geschichte einer einzigartigen Transformation. Angesichts der Verwerfungen auf den Energiemärkten und der dramatisch gestiegenen Lebenshaltungskosten sind die Auseinandersetzungen um Preiskontrollen und andere staatliche Eingriffe zudem lehrreich für aktuelle Debatten.
Isabella M. Weber, geboren 1987 in Nürnberg, ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst. Einer breiten Öffentlichkeit wurde sie durch ihren (gemeinsam mit dem Volkswirt Sebastian Dullien) ins Gespräch gebrachten Vorschlag eines Gaspreisdeckels bekannt.
7Vorwort zur deutschen Ausgabe
Als ich dieses Buch schrieb, konnte ich nicht ahnen, welche wirtschaftspolitische Relevanz es kurz nach seiner Veröffentlichung bekommen sollte. Die englische Originalausgabe erschien im Mai 2021. Große Teile der Welt befanden sich wegen der Covid-19-Pandemie immer noch im Lockdown. Europäische Staaten und die USA griffen auf lange nicht gekannte Art und Weise in die Wirtschaft ein. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation im Frühjahr 2020 den Ausbruch einer Pandemie erklärt hatte, plädierten renommierte US-Ökonomen gar für eine Rückkehr zu einer Art Kriegswirtschaft. Eine solche Planwirtschaft wurde nicht von heute auf morgen eingeführt. Aber Regierungsentscheidungen und die Launen des Virus machten dem Markt als Herren der Wirtschaft ernst zu nehmende Konkurrenz. Staaten entschieden, wer zur Arbeit gehen durfte und wer zu Hause bleiben musste und welche Unternehmen ihre Produktion fortsetzen und welche sie vorübergehend einstellen mussten. Praktisch über Nacht veränderten die Konsumenten ihr Verhalten. Sie wollten nun Küchenmaschinen statt Mahlzeiten in Restaurants; Tulpenzwiebeln statt Flugtickets; Fahrräder statt Bahnfahrten usw. Es kam zu plötzlichen Verschiebungen entlang der vielen Wertschöpfungsketten in der globalisierten Wirtschaft. Inputs fehlten, weil Fabriken auf der anderen Seite des Planeten geschlossen wurden oder Chaos an den Häfen zu scheinbar endlosen Verzögerungen führte. Die Überflussgesellschaften, die daran gewöhnt waren, dass die Waren der Welt nur einen Klick entfernt waren, sahen sich auf einmal mit der Gleichzeitigkeit von Knappheit und Überangebot konfrontiert.
Mit einem Mal war Sand im Getriebe des globalen Produktionsnetzwerks, das noch vor Kurzem wie ein Uhrwerk funktioniert hatte. Das führte zu weitreichenden Verwerfungen, die der Preismechanismus nicht auf die Schnelle korrigieren konnte: Auch mit Preissenkungen konnte man die Menschen nicht in die Restaurants oder an die 8Flughäfen zurücklocken, solange Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen untersagt waren oder die Kunden aus Angst um ihre Gesundheit und ihr Leben fernblieben. Preissteigerungen wurden hingegen dort zur Norm, wo Unternehmen ihr begrenztes Inventar mit unsicheren Aussichten auf Neulieferungen zu höheren Preisen verkauften. Handelte es sich um die Preise verzichtbarer Luxusgüter, bescherten die Preissteigerungen so manchem Unternehmen gute Gewinne. Gesamtwirtschaftlich betrachtet, waren sie indes ohne größere Konsequenz. Als jedoch die Preise essenzieller Produktionsinputs wie Chemikalien, Öl, Gas, Nahrungsmittel und Rohstoffe sowie essenzieller Dienstleistungen etwa in der Logistik in die Höhe schnellten, kam es zu einem Kostendruck, der bald gesamte Volkswirtschaften erfasste und zur Rückkehr der Inflation beitrug.
Die meisten Ökonomen in Europa und den USA hatten sich lange Zeit nicht mehr mit dem Thema Inflation auseinandergesetzt. Ein galoppierender Preisanstieg war in den reichen Ländern zuletzt in den siebziger Jahren ein Problem gewesen. In den Jahrzehnten der Globalisierung hatte man sich an stabile Preise gewöhnt. Manche konservativen Ökonomen warnten dennoch, die großen Rettungspakete, die zur Bekämpfung der durch die Pandemie ausgelösten wirtschaftlichen Schwierigkeiten verabschiedet worden waren, würden Inflationsdruck zur Folge haben. Die Zentralbanken, so forderten sie, sollten umgehend die Zinsen erhöhen. Viele progressive und liberale Ökonomen hielten dagegen: Es bestehe kein Handlungsbedarf, weil die punktuellen Preisanstiege keine wirkliche Inflationsgefahr darstellten. Auch gebe es keinen hinreichenden Nachfrageüberhang.
Die Forschungen, die diesem Buch zugrunde liegen, werfen ein anderes Licht auf die Dinge. Chinas Marktreformen in den achtziger Jahren bilden den historischen Fokus der folgenden Kapitel. Thematisch steht die Inflationsgefahr in schnellen Umbruchsprozessen wie dem Übergang von einer Kriegs- zu einer Nachkriegswirtschaft und von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft im Zentrum. Während der Reformen in China, die durch Vermarktlichung einen rasanten Strukturwandel einleiten sollten, war eine aufgrund knapper Vorprodukte 9ausgelöste Inflation eine drohende Gefahr – ein Gespenst, das diesen Prozess von Anfang an begleitete. Als die Wirtschaft infolge der Pandemie in den Lockdown ging und anschließend »wiedereröffnet« wurde, ergaben sich Herausforderungen für die Preisstabilität, die denen in der Volksrepublik während der achtziger Jahre erstaunlicherweise durchaus ähnlich waren, auch wenn es in institutioneller und politischer Hinsicht radikale Unterschiede gibt. Ich erwartete, dass mit der plötzlichen Angebotsverknappung bei Vorprodukten aufgrund von Lieferkettenengpässen Preisanstiege einhergehen würden. Eine ähnliche Situation war auch in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg eingetreten. Damals kam es zu Engpässen und Preisschüben, da die Umstellung der Produktion Zeit kostete. Wie ich in diesem Buch darlege, hatten damals führende amerikanische Ökonomen verschiedenster Denkschulen dafür plädiert, selektive Preiskontrollen zu nutzen, um einer Inflation vorzubeugen. Nur die radikalsten Anhänger des freien Marktes waren unmittelbar nach dem Krieg gegen einen solchen strategischen Einsatz von Preiskontrollen.
Im November 2021 gab der White House Council of Economic Advisors ein Memo heraus, in dem er Parallelen zwischen der Pandemie und dem Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg darlegte. Kurz darauf veröffentlichte ich einen Artikel in der britischen Zeitung The Guardian. Ich verwies auf Präsident Bidens Wirtschaftsberater und darauf, dass einige der wichtigsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts in der unmittelbaren Nachkriegszeit für selektive Preiskontrollen plädiert hatten. Preiskontrollen sind ein äußerst kontroverses wirtschaftspolitisches Werkzeug und nur unter ganz bestimmten Umständen ein Mittel der Wahl. Weder argumentierte ich für eine unmittelbare Umsetzung solcher Kontrollen noch für ein umfassendes Preiskontrollregime. Ich versuchte lediglich darzulegen, dass die dominante Sicht auf die Inflationsbekämpfung wichtige historische Erfahrungen und Argumente ausblendete. Die Geschichte zeige, dass es neben Zinserhöhungen, die eine Rezession zur Folge haben können, und schlichtem Nichtstun noch eine dritte Möglichkeit gibt: Maßnahmen, um Preisschocks dort abzufedern, wo sie auf10treten, anstatt ihre Wirkungen das gesamte Wirtschaftssystem infizieren zu lassen. Es sei an der Zeit, so argumentierte ich, darüber nachzudenken, wie eine solche Preispolitik aussehen könnte.
Ich hatte mich um vorsichtige Formulierungen bemüht. Aber es stellte sich heraus, dass das Stichwort »Preiskontrollen« ausreichte, um in den sozialen Medien einen Sturm der Empörung auszulösen. Nicht zuletzt, um mit den extremen Anfeindungen fertigzuwerden, nahm ich mich selbst beim Wort und fing an, darüber nachzudenken, wie die von mir ins Spiel gebrachte Preispolitik aussehen könnte. Ich fokussierte mich auf Deutschland und den Gaspreis, denn dieser hatte schon vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 ein für viele Verbraucher problematisches Niveau erreicht. Ausgehend von den Einsichten in diesem Buch, kam ich zu dem Schluss, dass eine Preispolitik so angelegt sein müsse, dass sie den Preis dort stabilisieren würde, wo in kurzer Zeit keine ausreichende Angebots- oder Nachfrageanpassungen möglich waren, und gleichzeitig den Marktpreis dort wirken ließe, wo Sparpotenzial bestand. Gemeinsam mit Sebastian Dullien, dem Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf, entwickelte ich diese Idee weiter, bis wir schließlich gemeinsam unseren Vorschlag für einen Gaspreisdeckel am 12. Februar 2022 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten.
Der russische Krieg in der Ukraine, Putins Exportstopps und der Versuch der westlichen Staaten, dem Krieg durch Sanktionen Einhalt zu gebieten, bedeuteten für den Energiesektor, dass der Markt in seiner Funktion als Mechanismus zur Allokation von Gütern und Dienstleistungen noch größere Konkurrenz bekam als während der Pandemie. Ein beträchtlicher Teil des internationalen Öl- und Gasangebotes wurde nun von geostrategischem Kalkül und nicht von den Gesetzen des Marktes bestimmt. Das Ergebnis einer politisch erzeugten Knappheit war, dass die bereits vor dem Krieg schnell steigenden Energiepreise in Europa explodierten, ...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2023 |
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Übersetzer | Stephan Gebauer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | How China Escaped Shock Therapy. The Market Reform Debate |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Adam Tooze • aktuelles Buch • Boris Jelzin • Branko Milanović • Bretton Woods • bücher neuerscheinungen • China • China mein Vater und ich • David Lipton • Deng Xiaoping • Felix Lee • Gaspreisbremse • Gaspreisdeckel • Geldpolitik • Gierflation • Globalisierung • Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik 2024 • Haushalt • Heizungsgesetz • How China Escaped Shock Therapy. The Market Reform Debate deutsch • Hyperinflation • Industrialisierung • Inflation • Internationaler Währungsfonds • Jeffrey Sachs • John Kenneth Galbraith • Jung & Naiv • Kapitalismus • Kommunismus • Kommunistische Partei Chinas • Liberalisierung • Maoismus • Mao Zedong • Marcel Fratzscher • Markt • Markus Lanz • Michail Gorbatschow • Milton Friedman • Neuerscheinungen • neues Buch • Ökonomie • Oral History • Planwirtschaft • Preiskontrolle • Privatisierung • Rationierung • Reform • Russland • Schocktherapie • Schuldenbremse • Sowjetunion • Volkswagen • Wachstum • Währungsreform • Weltbank • Wirtschaft • Wirtschaftsmacht • Wirtschaftsreform • Xi Jingping • Xi Jinping • Zhao Ziyang |
ISBN-10 | 3-518-77554-5 / 3518775545 |
ISBN-13 | 978-3-518-77554-7 / 9783518775547 |
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