Krisenzeit (eBook)
272 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60461-1 (ISBN)
Daniela Schwarzer ist eine der profiliertesten europa- und außenpolitischen Expertinnen Deutschlands. Sie ist seit 20 Jahren in der Forschung und Politikberatung tätig und eine gefragte Stimme in den Medien. Sie ist Vorständin der Bertelsmann Stiftung und Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin. Von 2016 bis 2021 leitete sie die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Daniela Schwarzer ist eine der profiliertesten außenpolitischen Expertinnen Deutschlands. Sie ist seit 20 Jahren in der Politikberatung tätig und eine gefragte Stimme in den Medien. Seit 2021 ist sie Honorarprofessorin an der FU Berlin.
Vorwort
Meine Generation wuchs in der Sicherheit auf, dass sich alles immer weiter zum Guten entwickeln wird: der Frieden auf unserem Kontinent, die stetige Aufwärtsentwicklung der Wirtschaft, das Zusammenwachsen Europas, die Verlässlichkeit unserer Demokratie. Nach dieser Prämisse hat auch die Politik in den letzten Jahrzehnten gehandelt, und eine Ära der Stabilität und des Wachstums schien dem recht zu geben. Doch im Schatten politischer Beständigkeit und wirtschaftlichen Fortschritts brauten sich Risiken zusammen, die sich heute Schritt für Schritt entladen.
Wir durchleben komplexe, polarisierende und sehr ermüdende Krisenzeiten. Ständig muss auf immer neue Herausforderungen sofort reagiert werden. Krisen überlagern sich und erreichen Wendepunkte, die eine Rückkehr zur vorherigen Situation unmöglich machen. Neben kurzfristigem Krisenmanagement ist jetzt langfristiges Umsteuern nötig, in Deutschland, in Europa und weltweit. Wir erleben Brüche, deren Dimensionen Entscheiderinnen und Entscheider in Wirtschaft und Politik und jeder Einzelne erst nach und nach erfassen werden.
Wie wichtig gerade in Zeiten des Umbruchs vorausschauendes Handeln ist, braucht wenig Erläuterung, wenn man vor Augen hat, wie gravierend und unerwartet Erschütterungen auf unserem dicht besiedelten Kontinent sein können. Wie zerstörerisch die Kraft von Egoismus und Hass, von Angst und Verlust, von verletztem Stolz sein kann. Das reflektieren die Geschichten so vieler Familien in Europa und in Deutschland.
Auch meine Eltern haben als Teil der Kriegsgeneration tiefe Brüche und Erschütterungen erlebt. In Berlin geboren, waren sie zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Nach Kindheitsjahren in einer bombardierten Stadt, Evakuierung in den Osten, Flucht in Richtung Westen, Jahren des Hungerns und der tiefen Sorge um verschwundene Elternteile erlebten sie in den späten 1940er-Jahren zum ersten Mal eine Phase der Stabilität. Endlich. In den folgenden Jahrzehnten wurde diese zur Alltagsnormalität, auch wenn natürlich mit der Spaltung Europas in West und Ost neue Bedrohungen entstanden waren.
Wir Kinder der nächsten Generation wurden in den Kalten Krieg der 1960er und frühen 1970er hineingeboren. Im Westen, Norden und Süden von uns wuchs Europa zusammen und versprach Frieden und Wohlstand. Wie gefährlich die Sowjetunion damals schien, verstand ich, als meine Mutter mir erzählte, wie sie ihre Aussteuer aus Westberlin zu Verwandten nach Westdeutschland ausgelagert hatte. Sie wusste, dass man bei einer Flucht fast nichts mitnehmen kann.
Die USA hingegen schienen uns als verlässlicher Freund. Wir sind mit Erzählungen von Rosinenbombern groß geworden, die ab Juni 1948 im Minutentakt Lebensmittel, Medikamente und Kohle nach Westberlin einflogen, als die Sowjetunion die Hälfte der Stadt aushungern wollte. Wenn ich heute am Flugfeld Tempelhof vorbeifahre, denke ich an Kinder, die am Zaun sehnsüchtig auf ein Stückchen Schokolade aus den Händen der US-Soldaten warteten. Und wie sich 15 Jahre und einen Mauerbau später John F. Kennedy unter dem Jubel der Menschen vor dem Rathaus Schöneberg zu »einem Berliner« erklärte.
Die Enkel und Enkelinnen meiner Eltern kamen in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends auf die Welt. Die Mauer war vor über einem Jahrzehnt zusammengebrochen, mit ihr der Ostblock. Politisch ging es zu der Zeit darum, wie nun der ganze Kontinent, nicht mehr nur die Westhälfte, in Frieden, Freiheit und Stabilität zusammenwachsen würde. Die sogenannten Farbrevolutionen in ehemaligen Sowjetrepubliken wurden bejubelt, und es ging um die Integration von acht ehemaligen Ostblockstaaten in eine EU[1], in der sich viele Staaten seit ein paar Jahren sogar die Währung teilten. Nur selten gab es in dieser Zeit die Sorge, dass Sicherheit in Europa, die regelbasierte Weltordnung und unser komfortables Lebensmodell einmal keine Selbstverständlichkeit mehr sein könnten.
Berlin wandelte sich in dieser Zeit rasant: Ost- und Westberlin wuchsen ab 1990 nun zu einer spannenden Hauptstadt zusammen. In deren klaffenden Baulücken entstand die damals modernste Metropolenarchitektur in Europa. Im brandneuen Regierungsviertel rund um den geschichtsträchtigen Reichstag gehörte es zum guten Ton, den Sorgen unserer europäischen Partner vor der wachsenden Macht Deutschlands Zurückhaltung, Verantwortungsbekundungen und Geschichtsbewusstsein entgegenzusetzen. Deutschland betitelte sich als Friedensmacht und schwächte Schritt für Schritt seine Armee.
Hinter den neuen imposanten Glasfassaden führte die Berliner Politik jedoch das vereinigte Deutschland fast lautlos zu immer größerer Stärke in Europa, wirtschaftlich vor allem, aber auch politisch. Die Beziehungen in den Osten und Westen dieser Welt, und ganz besonders zu Russland und China, bauten Politik und Unternehmen gemeinsam aus. Die politische Hoffnung dabei war, dass wirtschaftliche Öffnung und ein engerer Austausch Transformation und schließlich Demokratisierung in diese Länder bringen würden.
Billige Energie, ein starker europäischer Markt und ein stabiler Euro waren die Grundlage deutscher Wettbewerbsfähigkeit und somit Deutschlands politisches Erfolgsrezept. Amerikanische Sicherheitsgarantien waren Geschäftsgrundlage und Rückversicherung unseres prosperierenden Modells, das trotz – oder vielleicht wegen – seiner Behäbigkeit so zukunftssicher erschien. Deutschland verstand sich als Integrationsmotor Europas, gemeinsam mit Frankreich, mit dem es nie ein einfaches, aber oft produktives Verhältnis gab, in dem historisches Verantwortungsbewusstsein und gewachsene Freundschaft neben Eigensinn und nationaler Interessensdurchsetzung abwechselnd für Integrationserfolge und tiefe Vertrauenskrisen sorgten.
Deutschlands Macht und seine europäische Führungsrolle traten in den 2010er-Jahren im Zuge der Finanz- und Verschuldungskrisen deutlicher denn je in der Nachkriegszeit hervor. Und das brachte Berlin viel Kritik und Kontroversen ein: Deutschland galt manchen als wenig weitsichtiger Vetospieler und langsamer Zauderer, etwa als die Finanzmärkte 2010 den Preis für die Rettung Griechenlands in die Höhe trieben. Andere kritisierten Deutschland dafür, dass es anderen EU-Staaten sein eigenes Modell aufzwingen wolle. Auch als Deutschland 2015/16 über eine Million syrischer Kriegsflüchtlinge aufnahm und sich für ein Aufnahmequotensystem in der EU starkmachte, hagelte es Kritik. Deutschland musste lernen, mit immer tieferen europäischen Kontroversen umzugehen, und musste dabei fortwährend überprüfen, ob es als größter Staat in der Gemeinschaft genug für deren Zusammenhalt tat. Immer wieder prallten in dieser Frage Fremd- und Selbstwahrnehmung aufeinander. Berlin versteht sich als zutiefst der europäischen Integration verschrieben, die es für sein Wirtschafts- und Politikmodell ja auch unbedingt braucht. Europäische Partnerstaaten warfen der Bundesregierung derweil puren Egoismus vor und brandmarkten Deutschlands Politik als Gefahr für den Zusammenhalt der Gemeinschaft und – mit Blick auf eine sehr freundliche Russlandpolitik – für die Sicherheit Europas. Noch härteren Gegenwind bekam die im eigenen Verständnis konsequent transatlantisch ausgerichtete Bundesregierung 2017 vom engsten Alliierten, den USA, als der damalige US-Präsident Donald Trump Berlin als »sehr, sehr böse« bezeichnete, Strafzölle auf Importe aus Deutschland verhängte und 2020 einen Abzug der US-Truppen aus Deutschland ankündigte. Doch diese Erschütterungen, die früh auf das Ende von politischen Gewissheiten hindeuteten, brachten zunächst keine Kehrtwende in der deutschen Politik.
Jetzt schreiben wir das Jahr 2023. Und in Europa ist Krieg. Die USA sind als Sicherheitsgarant auf unserem Kontinent so präsent wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Darüber können wir froh sein, denn die europäische Sicherheitsordnung der Zeit nach dem Kalten Krieg ist zusammengebrochen. 1000 Kilometer von Berlin entfernt schlagen Bomben ein, und Millionen von Menschen aus der Ukraine sind auf der Flucht. Viele Familien in Deutschland haben seit Ausbruch der neuen Phase des Krieges im Februar 2022 ukrainische Flüchtlinge beherbergt. In manch einem Berliner Keller lagern Geigerzähler und Gummistiefel für den Fall, dass Russland Atomwaffen einsetzt. Kinder kennen Namen von Panzern und Flugabwehrsystemen, Leoparden sehen sie viel öfter auf Kriegsbildern als...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Amerika • Außenpolitik • China • Deutsche Außenpolitik • Energiekrise • Energieversorgung • Geopolitik • Kritische Infrastruktur • Militär • Rohstoffmangel • Russland • Sicherheit • Sicherheitspolitik • USA • Verteidigung • Weltmacht China • Weltmacht Russland |
ISBN-10 | 3-492-60461-7 / 3492604617 |
ISBN-13 | 978-3-492-60461-1 / 9783492604611 |
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