Das Ende der Unsichtbarkeit (eBook)

Warum wir über anti-asiatischen Rassismus sprechen müssen | »Ein wirklich wichtiges Buch.« Alice Hasters

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3030-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Ende der Unsichtbarkeit -  Hami Nguyen
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Wie fühlt es sich an, aufgrund seines Aussehens ausgegrenzt zu werden? Wie kann eine Familie in Deutschland ankommen, wenn sie auf gepackten Koffern leben muss, in der Angst, abgeschoben zu werden? Wie kann ein Kind einfach Kind sein, wenn die ersten Erinnerungen geprägt sind von Sorge, Scham und Traurigkeit? Wenn es nicht im Kindergarten war, kein eigenes Bett besaß? In diesem persönlichen Buch verhandelt Hami Nguyen die Themen Rassismus und Klasse am Beispiel ihrer eigenen Lebensgeschichte. Anti-asiatischer Rassismus wird in der Debatte oft ausgeklammert, weil asiatisch gelesene Menschen als 'angepasst' gelten. Sie sind unsichtbar. Die Geschichten der vietnamesischen Migrant:innen in Deutschland sind kaum erzählt - dabei sind sie ein Teil der deutschen Geschichte.

Hami Nguyen ist 1989 in Vietnam geboren und 1991 mit ihrer Mutter nach Deutschland geflohen, wo ihr Vater als Vertragsarbeiter in der DDR gearbeitet hatte. Sie studierte VWL, Soziologie und Politikwissenschaften in Halle/Saale und Luzern. Sie arbeitet als Referentin in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/Main und setzt sich als Aktivistin unter @hamidala_ für eine gerechtere Gesellschaft ein.

Hami Nguyen ist 1989 in Vietnam geboren und 1991 mit ihrer Mutter nach Deutschland geflohen, wo ihr Vater als Vertragsarbeiter in der DDR gearbeitet hatte. Sie studierte VWL, Soziologie und Politikwissenschaften in Halle/Saale und Luzern. Sie arbeitet als Referentin in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/Main und setzt sich als Aktivistin unter @hamidala_ für eine gerechtere Gesellschaft ein.

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Vietnamesische Migrant*innen waren willkommen − zunächst


Die Geschichte Deutschlands ist der vietnamesischen Geschichte, trotz kultureller und ethnischer Unterschiede, nicht so unähnlich, wie man zunächst vermuten würde. Beide Länder waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und zu Beginn des Kalten Kriegs zweigeteilt und es wirkten gegenläufige geopolitische Kräfte zwischen den liberalen westlichen und den sozialistisch-kommunistischen Machtpolen innerhalb eines Landes. Zwei Länder, die etwa 10 000 Kilometer voneinander entfernt sind, verbindet eine Geschichte der Teilung, die wiederum zu gegenseitigem Einfluss führte.

1954 wurde Vietnam im Rahmen der Genfer Vereinbarungen am siebzehnten Breitengrad in eine sozialistische nördliche Zone und in eine republikanische südliche Zone geteilt: die Demokratische Republik Vietnam mit der Hauptstadt Hanoi im Norden und die Republik Vietnam mit der Hauptstadt Saigon im Süden. Allen Vietnames*innen wurde das Recht eingeräumt, innerhalb von dreihundert Tagen zu wählen, in welchem Landesteil sie leben wollten. Etwa 130 000 Menschen zogen in den Norden, während 928 000 in den Süden gingen. Vereinfacht kann die DDR als Pendant zu Nordvietnam betrachtet werden, die BRD zu Südvietnam. Nordvietnames*innen waren damals in politischer Hinsicht den DDR-Bürger*innen näher als ihren eigenen Landsleuten, den Südvietnames*innen. »Brüder und Schwestern waren durch die räumliche Trennung zu Klassenfeinden geworden, während Fremde zu Verbündeten wurden«, beschreibt Andreas Margara es in seinem Buch Geteiltes Land, geteiltes Leid.16 Andreas Margara: Geteiltes Land, geteiltes Leid. Geschichte der deutsch-vietnamesischen Beziehungen von 1945 bis zur Gegenwart. regiospectra Verlag, Berlin, 2022, S. 13. Diese Teilung hatte weitreichende Folgen, nicht nur innerhalb Vietnams. Bis heute bestimmt sie maßgeblich das Leben vietnamesischer Einwander*innen in Deutschland.

Mein Vater war siebzehn Jahre alt, als in Vietnam vor allem junge Menschen rekrutiert wurden, um als Vertragsarbeiter*innen in die DDR zu kommen. Es war Frühjahr 1980, kurz nachdem die DDR und Vietnam ein Abkommen über die Entsendung von Arbeitskräften beschlossen hatten. Das wiedervereinte Vietnam befand sich mitten in der Nachkriegszeit, erst fünf Jahre waren seit dem sogenannten Vietnamkrieg gegen die USA vergangen, der zwanzig Jahre lang gewütet hatte. Mein Vater war gerade dabei, seinen Schulabschluss zu machen, und sein Traum war es, Pilot zu werden. Er hatte große Ziele, die meine Großeltern teilten, denn er war ihr ganzer Stolz. Diese Chance konnte damals in seinen kühnsten Träumen kaum übertroffen werden: Ihm bot sich die einmalige Gelegenheit, in den reichen Westen zu ziehen und dort zu arbeiten; die Kultur und das Leben, von dem die meisten nur Geschichten kannten, tatsächlich kennenzulernen. Was für ein unglaubliches Privileg.

Die Gruppe vietnamesischer Migrant*innen in Deutschland war sehr heterogen, weshalb eigentlich auch nicht von der einen Community gesprochen werden kann. Vor 1975 lebten hauptsächlich vietnamesische Austauschstudierende aus der Oberschicht Vietnams in der BRD und in der DDR, aber es waren wenige. Die in der DDR lebenden gingen nach Abschluss ihrer Ausbildung oftmals zurück, während diejenigen, die in der BRD gelandet waren, einen Aufenthaltsstatus erhielten und sich in der westdeutschen Gesellschaft einlebten. Die heute oft als »ehemalige Studierende« bezeichnete Gruppe kam überwiegend aus den südvietnamesischen Städten Saigon und Hue, also dem südlichen Teil Vietnams.17 Manfred Horr: »Demographische Merkmale, berufliche Qualifikationen und Erwerbstätigkeit der Vietnamesen in den alten Bundesländern.« In: H. W. Schönmeier (Hrsg.): Prüfung der Möglichkeiten eines Fachkräfteprogramms Vietnam. Sozialwissenschaftliche Studien zu internationalen Problemen, Saarbrücken, 1991, S. 48 ff. Erst nach der Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam kam es zu größeren Einwanderungsschüben: Die beiden großen Gruppen waren vietnamesische »Bootsflüchtlinge«, die nach Kriegsende zwischen 1975 und 1989 aus Südvietnam in die BRD einreisten, und vietnamesische Vertragsarbeiter*innen aus Nordvietnam, zu denen mein Vater gehörte.

Der 30. April 1975: Die Generation meiner Eltern und Großeltern werden dieses Datum wohl nie vergessen. Mit der Eroberung Saigons durch die nordvietnamesische Armee und der bedingungslosen Kapitulation Südvietnams am 30. April 1975 wurde der Grundstein für die Wiedervereinigung an diesem bedeutsamen Tag gelegt. Offiziell wurde am 2. Juni 1976 die Sozialistische Republik Vietnam gegründet, was für die südvietnamesische Bevölkerung eine grundlegende Veränderung ihrer Lebensverhältnisse bedeutete. Durch politische Indoktrination wurde die Kontrolle des sozialen Lebens angestrebt und die sozialistische Transformation Südvietnams begann. Dazu gehörte die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung, wobei Wohnsitzänderungen auf eine Ortschaft beschränkt waren und Reisen darüber hinaus bei den zuständigen Behörden angemeldet werden mussten.18 Olaf Beuchling: Vom Bootsflüchtling zum Musterschüler. Migration, Integration und schulischer Erfolg in einer vietnamesischen Exilgemeinschaft, Waxmann, Münster, 2001, S. 21.

Aus Angst vor politischer Destabilisierung und dem Aufbegehren politischer Gegner*innen wurde ein Netzwerk informeller Mitarbeitender aufgebaut, die verdächtige Aktionen denunzieren sollten. Die Regierung forderte Abstand von allen westlich geprägten Medien, Konsumgütern und Verhaltensweisen und machte sich marxistisch-leninistisches Gedankengut zu eigen. Saigon wurde in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt und die Verwendung der alten Bezeichnung wurde verboten; große Transparente, die den Sieg über den Kapitalismus feierten, dominierten das Stadtbild. Ein weiteres wichtiges Moment der Umgestaltung Vietnams war die Einführung einer sozialistischen Wirtschaftspolitik. Im Zuge dessen wurde Landeigentum verstaatlicht und Familien, die als potenziell regimefeindlich eingeordnet wurden, mussten ihr Vermögen und ihre Häuser oder Wohnungen an die Regierung abgeben. Durch die verstärkte Kollektivierung der südvietnamesischen Wirtschaft wurde so vielen Familien die Lebensgrundlage entzogen, sodass es zunehmend zu Fluchtbewegungen über das Südchinesische Meer kam.

Die wegen dieser Route Boat People oder »Bootsflüchtlinge« genannten Geflüchteten wurden nach Beschluss der Genfer Flüchtlingskonvention auf viele Länder Europas sowie auf die USA, Kanada und Australien verteilt. So kamen Mitte der 1980er-Jahre etwa 30 000 »Bootsflüchtlinge« in die BRD.19 Frank Bösch: »Engagement für Flüchtlinge. Die Aufnahme vietnamesischer ›Boat People‹ in der Bundesrepublik.« In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 14, 2017, S. 13–40. Nach ihrer Ankunft wurden sie als sogenannte Kontingentflüchtlinge in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht mit anerkannten Geflüchteten gleichgestellt. Das bedeutete, dass sie direkt Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse, Sprachkurse und berufliche Umschulungen und Weiterbildungen erhielten.

Schon während des Vietnamkriegs hatte sich die BRD an humanitärer Hilfe in Vietnam beteiligt, sich militärisch jedoch nicht eingemischt und keine Soldat*innen entsandt. So äußerte sich 1966 der amtierende Bundeskanzler Ludwig Erhard: »Unsere Unterstützung für Vietnam ist nicht militärischer oder quasimilitärischer Art, sondern erstreckt sich ausschließlich auf humanitäre und sanitäre Hilfe.«20 Andreas Margara: Geteiltes Land, geteiltes Leid. Geschichte der deutsch-vietnamesischen Beziehungen von 1945 bis zur Gegenwart. regiospectra Verlag, Berlin, 2022, S. 61. Für die Umsetzung wurde sogar ein eigenes Referat für humanitäre Hilfe an der Botschaft in Saigon eingerichtet.

Das mediale Interesse an den »Bootsflüchtlingen«, von denen viele auf der Flucht ertranken, war aufgrund der emotional aufgeladenen Berichterstattung hierzulande sehr groß. 1966 wurde das erste humanitäre Schiff, »Helgoland«, nach Südvietnam entsandt und von der internationalen Presse euphorisch begleitet. Ein Spiegel-Reporter schrieb dazu: »Ein weißes Schiff, schlank und schön wie ein weißer Riese durch allen Schmutz dieser Welt – ein Stuyvesant-Bild. Germaniens maritimer Friedensengel trug einen Hauch von Unschuld und Luxus in den Kriegshafen von Saigon. Bonns humanitäres Engagement in Vietnam ging vom Anker.«21 Hermann Schreiber: »Das wahre Ungemach ist Made in Germany.« In: SPIEGEL 39/1966, S. 141. Auf dem Schiff fanden etwa einhundertfünfzig Krankenbetten Platz, und es war mit einer OP- und Radiologieabteilung, einer Apotheke, einem Labor, Zahn- und Schwerkrankenstation ausgestattet.22 Andreas Margara: Geteiltes Land, geteiltes Leid. Geschichte der deutsch-vietnamesischen Beziehungen von 1945 bis...

Erscheint lt. Verlag 19.10.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anti-Asiatischer Rassismus • Armut • berührende Geschichte • Debattenbuch • Diskriminierung • Flucht • Flüchtlinge • Intersektionalität • Klasse • Klassismus • Memoir • Migration • Politisches Memoir • Politisches Sachbuch • Prekariat • Rassismus • Vertragsarbeiter • Vietnam
ISBN-10 3-8437-3030-X / 384373030X
ISBN-13 978-3-8437-3030-3 / 9783843730303
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