Material World (eBook)
544 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01693-2 (ISBN)
Cover
Verlagslogo
Titelseite
Für Eliza
Inhalt
Einleitung
I Sand
II Salz
III Eisen
IV Kupfer
V Öl
VI Lithium
Dank
Bibliographie
Anmerkungen
Biographie
Impressum
Ich stand am Rand eines Abgrundes und blickte hinunter in das tiefste Loch, das ich in meinem Leben gesehen hatte. Unten am Boden war eine Gruppe von Menschen mit Arbeitshelmen – das jedenfalls hatte man mir gesagt. Sie waren viel zu weit entfernt, als dass ich sie mit bloßem Auge hätte erkennen können. In ihrer Nähe steckten mehrere Hundert Kilo Sprengstoff in der Erde. Die Menge, so erklärte man mir, hätte ausgereicht, um in der Stadt einen ganzen Häuserblock plattzumachen.
Vor mir hatte ich eine Metallkonsole mit zwei Knöpfen, und neben mir stand ein Mann mit einem Walkie-Talkie. Wir waren mit dem Kontrollraum verbunden, wo jemand einen Countdown herunterzählte. Man hatte mir gesagt, ich solle beide Knöpfe gleichzeitig drücken, wenn der Countdown bei null angelangt sei. Bis die Entladung des Zünders am Boden der Grube ankam, würde es einen Sekundenbruchteil dauern, und dann würde ein fußballfeldgroßes Quadrat der Erde von Nevada vor unseren Augen verdampfen.
»Zuerst spürst du die Schockwelle«, sagte der Mann mit dem Walkie-Talkie. »Dann siehst du, wie die Erde sich hebt, und dann hörst du die Explosion. In dieser Reihenfolge. Ist ein bisschen seltsam.«
Ich war nicht mitten in die Wüste gereist, um eine Bombe zu zünden, sondern wegen einer Kalkulationstabelle. Ein paar Monate zuvor hatte ich mir britische Handelsstatistiken angesehen, und dabei war mir etwas Merkwürdiges aufgefallen: Wahre Goldströme verzerrten die Zahlen und damit das Bild von der Wirtschaft unseres Landes. Gold hatte vorübergehend Autos und pharmazeutische Produkte als umsatzstärkstes Exportgut Großbritanniens überholt. Das war erstaunlich, schließlich gibt es in Großbritannien keinen Goldbergbau. Wie konnte ein Land ohne nennenswerte Goldlagerstätten zu einem der größten Goldproduzenten werden? Vermutlich lag es daran, so meine Überlegung, dass ein großer Teil des physischen Goldes auf seinem Weg rund um die Welt irgendwann einmal durch London fließt. Um der Frage auf den Grund zu gehen, reiste ich an Orte, an denen das Edelmetall tatsächlich gewonnen wird. Mit einem Filmteam wollte ich die Wege des Goldes von der Erde zur Verarbeitung verfolgen und dann den Weg der Barren oder Münzen rund um die Welt. Als wir aber mit den Filmaufnahmen begannen, wurde mir klar, dass man eine noch faszinierendere Geschichte erzählen kann, eine Geschichte, die viel über die Beziehung der Menschheit zu ihrer Welt aussagt.
Es hatte ein paar Monate gedauert, bis mein Produzent das fragliche Bergbauunternehmen Barrick Gold Corporation dazu bewegen konnte, seine Tore zu öffnen, und auch die Reise von London hatte ein paar Tage in Anspruch genommen. Die Cortez-Mine ist kein Ort, an den man sich zufällig verirrt. Zwei Flüge und eine vierstündige Autofahrt nach Westen durch die Salzebenen von Utah hatten wir hinter uns gebracht, und dann folgten noch zwei weitere Autostunden mit den Bergleuten von Barrick. Wir fuhren über eine Landstraße, die – abgesehen von gelegentlichen schweren Lastwagen – praktisch leer war, dann ging es über eine lange Wüstenstraße und schließlich über eine Schotterpiste, die sich durch ein langes, trockenes, unbewohntes Tal schlängelte. Cowboyland.
Die eigentliche Mine liegt am Abhang eines Berges namens Mount Tenabo, der für das Volk der Western Shoshone ein heiliger Ort ist. Der Abbauprozess als solcher ist relativ einfach und ähnelt den Methoden, die Goldsucher schon im 19. Jahrhundert anwandten. Hier allerdings findet er in gigantischem Maßstab statt. Das Gestein wird aus der Erde gesprengt, zerkleinert, zu feinem Staub zermahlen und mit Cyanidlösung versetzt, die dazu beiträgt, das Gold abzutrennen.
Das ist die Realität der Ressourcenausbeutung im 21. Jahrhundert: Riesige Gesteinsmengen werden zu Körnern zermahlen, und was übrig bleibt, wird chemisch verarbeitet. Es ist beeindruckend und beunruhigend zugleich. Unter anderem besteht die Gefahr, dass die verwendeten Chemikalien – Cyanid und Quecksilber – ins umgebende Ökosystem gelangen. Zwar behaupten Bergbauunternehmen wie Barrick, sie würden sich an alle von der US-Umweltbehörde EPA vorgegebenen Regeln halten, aber Umweltschützer warnen: Oft finden die Giftstoffe den Weg dennoch aus der Mine. Tatsächlich hatte die EPA erst wenige Jahre zuvor gegen Barrick und ein anderes Unternehmen in der Nähe ein Bußgeld von 618000 Dollar verhängt, weil sie die Freisetzung giftiger Chemikalien, darunter Cyanid, Blei und Quecksilber, nicht gemeldet hatten. Was mir vor allem auffiel, als ich die verschiedenen Stadien des Gewinnungsprozesses beobachtete, war, wie weit wir heutzutage gehen, um uns winzige Krümel eines glänzenden Metalls zu verschaffen.
Die Ausmaße waren einfach schwindelerregend. Als ich in die Grube hinunterblickte, konnte ich am Boden einige Lastwagen in Spielzeugformat ausmachen. Als sie oben ankamen, sah ich, dass sie so groß waren wie ein dreistöckiges Haus. Allein die Reifen waren so hoch wie ein Doppeldeckerbus. Wie viel Erde muss man abtragen, um einen Goldbarren zu produzieren? Ich fragte meine Betreuer. Sie konnten es mir nicht sagen, aber eines wussten sie: Diese Lastwagen bewegen an einem einzigen Arbeitstag Gestein mit dem Gewicht des Empire State Building. Später rechnete ich selbst nach. Für einen Standard-Goldbarren von 400 Feinunzen muss man ungefähr 5000 Tonnen Erde abbauen. Das ist fast das Gewicht von zehn voll beladenen Superjumbos vom Typ Airbus 380, des größten Passagierflugzeugs der Welt – für einen Goldbarren.
Es ist vielleicht allgemein bekannt, wie Gold heutzutage abgebaut wird: nicht indem man in der Erde gräbt, sondern indem man ganze Berge dafür abträgt. Schon weniger bekannt dürfte sein, dass Gold als Rohstoff das Produkt einer chemischen Reaktion ist, bei der einer der giftigsten Chemikaliencocktails der Welt entsteht. Vielleicht war ich naiv, aber mir selbst war das so nicht klar gewesen.
Als ich in die Tagebaugrube und zu den hausgroßen Lastwagen hinunterblickte, wo die Arbeiter wie Ameisen um die gesprengte Stelle herumliefen, fühlte ich mich ein wenig unwohl. Es lag nicht nur an dem Schauspiel, dessen Zeuge ich wurde. Es lag auch an einem Gegenstand, den ich am Finger trug.
Ein paar Monate zuvor hatte ich geheiratet. Meine Frau und ich hatten vor Angehörigen und Freunden als Zeichen unserer Liebe goldene Ringe ausgetauscht. Während in dem Walkie-Talkie neben mir der Countdown lief, betastete ich den Ring und kam ins Grübeln. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte man das Gold, das zu seiner Herstellung nötig war, mit genau diesen Methoden aus der Erde geholt. Warum hatte ich nicht gefragt, woher es kam? Ich hatte mich vergewissert, dass es sich bei den Diamanten im Verlobungsring meiner Frau nicht um Blutdiamanten handelte, aber warum hatte ich mich nicht dafür interessiert, welche Opfer die Menschen in den Goldminen erbrachten? Was der Natur angetan wurde? Später erfuhr ich, dass in früheren Zeiten vielleicht 0,3 Tonnen Erz notwendig waren, um mit traditionelleren Methoden das Gold für einen Ehering zu gewinnen. Heute braucht man dafür zwischen 4 und 20 Tonnen Gestein. Als ich dort stand, den Zünder vor mir, wurde mir jedenfalls plötzlich flau im Magen.
Dann war da noch der Berg selbst. Die Grube, in die ich blickte, war nicht irgendwo in der Nähe des Mount Tenabo. Sie war der Mount Tenabo. Man hatte die Mine buchstäblich in den Abhang des Berges gegraben. Als ich zur anderen Seite des Loches hinüberblickte, sah ich Schicht auf Schicht aus vielfarbigem Gestein, das die Innereien des Berges bildete. Zwar glaubte ich nicht an die Wassergötter der indigenen Western Shoshone, dennoch konnte ich mich nicht des Gefühls erwehren, dass es etwas – nun ja – Brutales hat, die Haut des Bodens abzuschälen und unter die Oberfläche zu blicken.
Noch immer lief der Countdown, und ich drehte mich um und blickte verzweifelt zu meiner Regisseurin hinüber. »Möchten Sie vielleicht lieber?«
Sie sah mich ungläubig an, dann nahm sie meinen Platz ein. Mit beschämtem Gesicht trat ich einen Schritt zurück und sah zu.
Der Countdown erreichte null. »Feuer Schuss eins, Cortez Hills«, sagte der Mann in sein Walkie-Talkie und zeigte auf die Knöpfe. Sie drückte beide. Eine kurze Pause trat ein – vielleicht eine Sekunde. Dann traf uns die Druckwelle – sie war nicht stark, eher wie ein Luftzug. Danach bebte die Erde. Ich blickte mehrere Hundert Meter in die Tiefe und zum Boden der Grube, wo sich die Erde verflüssigt hatte. Die Explosion lief am Fuß der Mine entlang, Staub und Rauch stiegen in die Luft. Erst jetzt hörten wir das Rumpeln. Es dröhnte und hallte gefühlt mehrere Minuten im Tal wider.
Der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes bezeichnete Gold einmal als »barbarisches Relikt«. Damit meinte er, dass es an einer Halskette oder in einem Sarkophag vielleicht hübsch aussieht, aber darüber hinaus keinen großen Nutzen hat.
Natürlich hat es einen Wert – warum würden wir sonst wegen ein paar Goldbarren einen ganzen Berg in die Luft jagen? Aber überlegen wir einmal, was Gold uns wirklich nützt. In Elektronik und Chemie spielt es eine gewisse Rolle, aber die ist heute für weniger als 10 Prozent der Nachfrage verantwortlich. Zu 80 Prozent wird Gold zu Schmuck verarbeitet. Nur zu einem geringen Teil (3 Prozent) dient es...
Erscheint lt. Verlag | 4.1.2024 |
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Übersetzer | Sebastian Vogel |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Geopolitik • Geschichte • Gesellschaft • Handelsbeziehungen • Ingenieur • Journalismus • Klimawandel • Lithium • Mineralien • Moderne • Ressourcen • Rohstoffe • Salz • Technik • Weltwirtschaft • Wirtschaftsbuch • Wirtschaftspolitik • Zivilisation • Zukunft |
ISBN-10 | 3-455-01693-6 / 3455016936 |
ISBN-13 | 978-3-455-01693-2 / 9783455016932 |
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