Zimmer für immer (eBook)

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2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9628-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zimmer für immer -  Lars Reichardt
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Klingt eigentlich idyllisch: kleines Häuschen am Münchner Stadtrand, sogar mit eigenem Garten. Dort wohnt Lars Reichardt mit wechselnden schrulligen Bewohnern in einer Zweck-WG: Birgit ist Insektenforscherin, Li ein junger modebewusster Chinese, Rudi ein in Österreich prominenter Rockvideoproduzent. Welche Wohnkonzepte gäbe es noch für jemanden, der nicht in der Kleinfamilie oder als Single leben will? Diese Frage stellen sich heute viele Menschen angesichts überteuerter Mieten und zunehmender Vereinzelung. Lars Reichardt inspiziert verschiedene Modelle: eine in die Jahre gekommene deutsche Kommune in Italien, ein Mehrgenerationenhaus, ein Selbstversorgerdorf, das sozial gerecht und ökologisch nachhaltig wirtschaftet, eine Jesuiten-Kommunität, eine multikulturelle Wohnungsbaugenossenschaft, eine Zwei-Frauen-WG, die eint, dass beide mit demselben Mann verheiratet waren. Er spricht mit einem Architekten und mit einem Immobilienentwickler - all das, um sich und uns auf neue Ideen zu bringen.

Lars Reichardt studierte Philosophie und arbeitet beim Magazin der Süddeutschen Zeitung. 2018 erschien sein erstes Buch Barbara. Das sonderbare Leben meiner Mutter Barbara Valentin. Er lebt in München. 

1    KLEINSTER GEMEINSAMER NENNER


Meine Zweck-WG mit Astrid, Li und Mike


Ich lebe in einer Zweck-WG. In einem kleinen Reihenhaus im Münchner Süden mit einem winzigen Garten, ruhig nach hinten raus. Die Frau weg, Kinder aus dem Haus, mit der neuen Freundin lieber nicht zusammenziehen, die Unkosten teilen, und außerdem war ich an den Wochenenden ohnehin meist bei der Freundin oder auf Reisen für den Job – es sind pragmatische Gründe, die für eine Zweck-WG sprechen. Andere wären denkbar: zum Beispiel die Distanz, die man wahren kann. Man muss nicht sprechen in einer Zweck-WG, sich erklären, sich kümmern, sich sorgen, sich helfen. Man darf, wenn man will. Eine Zweck-WG ist eine modernere Version des Wohnheims.

Es gab Jan, meinen Freund und Kollegen bei der Zeitung, er rückte mit seiner Bettdecke und zwei Koffern an, als er die Streitereien mit seiner Freundin nicht mehr aushalten wollte. Er blieb ein Jahr, es war ein gutes WG-Jahr, das beste so weit. Wir kochten füreinander, wir kümmerten uns sogar eine Zeit lang gemeinsam um den verwilderten Garten. Wir redeten, wir schwiegen, Freunde eben. Jan ließ sich nach Berlin versetzen, zu seiner Tochter, er wollte nicht mehr pendeln. Er sagt, er vermisst mich. Ich ihn noch viel mehr. Das Wohnen mit Jan war eine Freundschafts-WG inmitten einer Zweck-WG.

Dann gab es Mike, einen Versicherungsagenten, seine Eltern stammten aus Togo. Als er vor der Tür stand, entdeckte ich den Rassisten in mir, der sich kurz fragte, was wohl die Nachbarn nebenan sagen würden. Niemand sagte später irgendetwas. Mike hatte einen Bandscheibenvorfall, arbeitete mehrere Monate nicht, und begann während seiner Krankschreibung eine Fortbildung. Er ging jeden Sonntag zur Kirche, arbeitete ehrenamtlich mit behinderten Kindern, aber wenn es um Astrid ging, kannte er kein Pardon, ihr verzieh er nichts. Astrid zog ein paar Monate nach ihm ein, sie veranstalte in der Küche angeblich bis spät nachts einen Heidenlärm. Er sagte: Mit der kann kein Mensch auskommen. Sie oder ich. Ich sagte: Mike, warum hast du sie nicht gebeten, leise zu sein? Er: Hab ich. Aber sie ist rücksichtslos. Wegen ihr bin ich bei meiner Prüfung durchgefallen. Ich: Das kannst du ihr doch nicht in die Schuhe schieben? Er: Doch. Drei Nächte habe ich wegen ihr kein Auge zugemacht. Ich kann es beweisen, dass sie der Grund ist. Und dann schickte er mir ein Foto seines Prüfungszeugnisses mit einer Sechs drauf.

Ich sollte vermitteln. Das Haus gehört mir, oder besser gesagt, mir und der Bank und der Ex-Frau, deren Anteil ich abstottere, aber das hieß nicht, dass ich hier den Friedensrichter spielen wollte, der zwischen verfeindeten Parteien vermittelte. Ich tat es trotzdem: Astrid, könntest du Mike nicht fragen, ob es ihm gerade passt, wenn du Obst in der Küche einkochst? Mike, könntest du nicht Astrid fragen, wenn du Pizza machen musst? Ich hatte keinen Erfolg. Mike schickte weiterhin Beweisfotos vom Chaos, das Astrid seiner Meinung nach in der Küche oder im Garten hinterließ. Einmal ging die Waschmaschine nicht mehr, Astrid baute sie auseinander, entdeckte irgendein Teil, das den Abfluss verstopft hatte, wusste aber nicht, wie man die Waschmaschine wieder zusammenbauen könnte. Mike schickte mir tagelang Fotos mit hasserfüllten Bildunterschriften, weil er nicht waschen konnte. Irgendwann erbarmte sich Jan, und baute die Einzelteile so ein, dass die Maschine wieder ging.

Nach der Waschmaschinenaffäre sprachen Mike und Astrid nicht mehr miteinander, sie grüßten sich nicht mehr und mieden einander in der Küche. Ich sagte, das ginge nicht, ich fände das unsozial, es war ihnen beiden egal.

Solche Geschichten kennt jede WG, manche versuchen Konflikte mit einer eigenen Hausordnung zu lösen, aber oft gibt irgendjemand auf und zieht aus. In diesem Fall war es Mike.

Ich hatte mich gegen das Gefühl von Jan und Mike für Astrid entschieden, als sie kam und sich vorstellte. Ich wüsste bis heute kein besseres Kriterium bei der Auswahl eines Mitbewohners als das Bauchgefühl. Es gibt Wohngemeinschaften, die mehrere Bewerber kennenlernen wollen, bei einem Abendessen, in einem Vorstellungsgespräch, um anschließend per Abstimmung zu entscheiden, einstimmig oder per Mehrheitsentscheid. So etwas erinnert mich an Bewerbungsgespräche beim Kindergarten. Ich wollte unbedingt, dass meine Kinder genommen würden, verstellte mich und gab sogar vor, es super zu finden, einmal im Jahr mit allen Kindern samt Kindergarteneltern ein Wochenende auf dem Bauernhof zu verbringen. Die Anspannung bei Vorstellungsterminen verhindert, dass man offen zeigt, wer man ist und für was man sich wirklich interessiert. Das erfährt man mitunter auch nicht nach Monaten des Zusammenlebens.

Ich entscheide jetzt immer nach meinem Bauchgefühl. Das stellt sich nach wenigen Sekunden ein, ich warte dann noch ein paar Minuten ab, bevor ich einem Bewerber zusage. Mein Bauchgefühl hat mich in Sachen Mitbewohner noch nie gänzlich getäuscht, auch wenn es später einige kleinere Reibereien mit Mike oder Astrid gab.

Mike wollte erst keine Miete mehr zahlen – »das sind asoziale Zustände hier« – und suchte sich bald darauf eine Wohnung mit seiner Freundin. Ich war erleichtert, Astrid ohnehin. Mikes Freundin war zuletzt jedes Wochenende zu Gast, es wurde einfach zu eng. Vor allem, als er noch eine andere Bekannte im Keller einquartierte, die zwar einen Job in München gefunden hatte, aber partout kein Zimmer. Drei Monate waren wir zu fünft plus Mikes Freundin. Fünf Leute lebten in fünf Zimmern, wenn man den Keller ohne Heizung als Zimmer bezeichnen darf, mit einem einzigen kleinen Bad und kleiner Küche. Für Notfälle gibt es in der Waschküche im Keller noch ein Klo.

Ich sage allen, ich wisse nicht, was ich mit dem Haus vorhätte, was ich mit meinem Leben vorhätte. Es könne sein, dass ich verkaufen wolle oder müsse. Ich würde ihnen mindestens drei Monate im Voraus Bescheid geben, falls sie ausziehen müssten. Ich bat, dass sie mich vier Wochen im Voraus wissen lassen würden, falls sie ausziehen wollten. Einen Monat Kaution verlangte ich anfangs. Nach sechs Monaten bat Astrid, doch die Kaution für die anstehende Miete einzubehalten, sie sei gerade knapp bei Kasse. Mike meinte bei Einzug, er könne das Geld gerade nicht aufbringen. Li, der nach Jan einzog, habe ich schon gar nicht mehr um eine Kaution gebeten.

Es gab noch jemanden, dessen Namen ich inzwischen vergessen habe. Er hatte sechs Monate Umgangsverbot mit seinem Sohn, der bei der Mutter aufwuchs, die ihn für einen Islamisten verlassen hatte. Weil er den Sohn nach einem Wochenende nicht pünktlich zurückbrachte und anschließend laut wurde. Er blieb fünf Monate und hinterließ einen Fleck auf dem Parkett, der von einem Sack verfaulter Kartoffeln stammte. Am Monatsende kündigte er fristlos und zog am nächsten Tag aus, um einen Job in der Schweiz anzunehmen, den er nicht antreten konnte, weil er an der Grenze bemerkte, dass man einen gültigen Ausweis braucht, um in die Schweiz zu reisen. Selbst auf diesen Mitbewohner blicke ich nicht im Zorn zurück.

Zu mir waren alle immer höflich und ich kam mit allen klar. Ich kann aber nie sicher sein, ob sie mich wirklich mögen oder ob das nur dem Umstand geschuldet ist, dass ich ihr Vermieter bin. Ich habe auch das größte und abgelegenste Zimmer im Haus, ich höre die anderen nicht, mich stört keiner.

Im Augenblick sind wir zu dritt. Li, Astrid und ich. Astrid kocht in einer bayerischen Kneipe. Aber sie kocht nicht für uns. Sie isst selten zu Hause, sondern meist in der Arbeit. Dafür mistete sie im ersten Jahr den Keller aus, fuhr alte Kinderklamotten in die weit entfernte Kirchengemeinde. Räumte den Werkzeugschrank auf. Ich bin ihr heute noch dankbar dafür, auch wenn sie den neu gewonnenen Stauraum gleich mit ihrem Zeugs auffüllte.

Astrid erzählte an einem der ersten Abende, dass sie mit dem Motorrad einmal quer durch die USA gefahren sei, immer wieder habe sie gestoppt und als Köchin gejobt, wenn ihr das Geld auszugehen drohte. Sie hat immer noch einige Freunde aus dieser Zeit, und manchmal telefoniert sie stundenlang mit ihnen. Sie kommt aus dem Umland von Bremen. Ihre Eltern besucht sie regelmäßig. Ich habe sie nie nach ihrem Alter gefragt, ich fürchtete, das könnte lange dauern, denn Astrid erzählt aussschweifend. Sie wird irgendwas zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig sein. Es gibt zwei Männer in ihrem Leben: eine Jugendliebe im Norden und einen Motorradfahrer in den USA. Sie wusste nicht, für welchen sie sich entscheiden sollte, deswegen ist sie nach München gekommen. Sie wollte von beiden entfernt sein, um zu erfahren, wen sie mehr vermissen würde. Sie spricht mit beiden. Nach den Telefonaten ist sie oft so aufgekratzt, dass sie mit einem Glas Bourbon die Küche belagert und Kuchen bäckt, die sie auf ihrem Motorrad frühmorgens in die Kneipe bringt. Oder sie setzt Knochen für Suppen auf, das riecht dann im ganzen Haus. Ich hoffe für sie und uns, dass sie sich irgendwann mal entscheiden kann.

Astrid ist durch und durch öko, sie mixt ihr eigenes Waschpulver und auch eines für die Spülmaschine, das Mike und ich irgendwann nicht mehr verwendeten, weil das Geschirr schmutzig blieb. Sie kocht ein, Äpfel und Pflaumen aus dem Garten. Oder Schlehen und Hagebutten, die sie am See sammelt. Sie sammelt auch unseren Plastikabfall und entsorgt ihn gewissenhaft. Sie wirft so gut wie nichts weg, sondern verkauft unser kaputtes Zeug lieber bei eBay, verschenkt oder repariert es, wann immer möglich. Ich mag das an ihr, auch wenn es manchmal anstrengend wird, wenn sie über den Winter Dutzende leere Plastikbehälter und Marmeladengläser zum Einkochen für den Sommer sammelt und sie überall...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte alternative Dorfgemeinschaft • Architektur • Familie • Kommune • Mehrgenerationenhaus • möbeliertes Zimmer • Sachbuch • Single • WG • Wohnen • Wohnformen • Wohngemeinschaft • Wohnmodelle • Wohnung • Wohnungsnot • Zimmer • Zusammenleben • Zweck-WG
ISBN-10 3-0369-9628-1 / 3036996281
ISBN-13 978-3-0369-9628-8 / 9783036996288
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