Himmel hilf! (eBook)
320 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-29816-6 (ISBN)
Auf den ersten Blick wird unsere moderne Zeit von Vernunft und Wissenschaft geprägt. Doch angesichts multipler Menschheitskrisen und damit verbundener Ängste feiert zugleich der Glaube an übernatürliche Phänomene eine Auferstehung - das Spirituelle, die Esoterik und der Wunderglaube auch in Form von Verschwörungsmythen, kurz: das magische Denken. Tillmann Bendikowski zeigt, wie wir Menschen schon immer Halt und Trost bei übernatürlichen Kräften gesucht haben, aber auch, wie so manche Rituale verloren gegangen sind. Er unternimmt eine erzählerische Entdeckungsreise in die Welt des »Aberglaubens« seit dem Mittelalter, berichtet von Geistern, Engeln und Hexen und lässt Planetenleser, Wunderheiler oder Teufelsjäger zu Wort kommen. Dabei wird klar, warum wir auf der Suche nach Sicherheit Zuflucht bei magischen Ritualen fanden und warum in unserer Geschichte Krisenzeiten immer zugleich magische Zeiten waren.
Dr. Tillmann Bendikowski, geb. 1965, ist Journalist und promovierter Historiker. Als Gründer und Leiter der Medienagentur Geschichte in Hamburg schreibt er Beiträge für Printmedien und Hörfunk und betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen. Seit 2020 ist er als Kommentator im NDR Fernsehen zu sehen, wo er in der Reihe »DAS! historisch« Geschichte zum Sprechen bringt, und zudem regelmäßiger Gesprächspartner bei Spiegel TV. Bei C.Bertelsmann erschienen »Ein Jahr im Mittelalter« (2019), »1870/71: Der Mythos von der deutschen Einheit« (2020), der Bestseller »Hitlerwetter. Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich 1938/39« (2022) und zuletzt »Himmel Hilf. Warum wir Halt in übernatürlichen Kräften suchen: Aberglaube und magisches Denken vom Mittelalter bis heute« (2023).
Wenn die Angst kommt
Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann …
Der größte Schrecken, das war schon immer so, lauert oft genug hinter unschuldiger Kulisse. Das gilt auch für den »Butzemann«. Bevor er auftritt, ist alles friedlich: Die kleinen Kinder liegen nach Einbruch der Dunkelheit brav in ihren Bettchen, haben womöglich ihr Nachtgebet gesprochen, sind schon fast eingeschlafen oder bereits im Reich der süßen Träume – und dann kommt urplötzlich: die Angst! Vor dem schwarzen Mann, der nachts in das Haus eindringt! War da nicht ein Geräusch im Flur? Ein Rumpeln und Knarzen auf der Treppe? Ist das der Butzemann, der womöglich vor Stunden noch in dem bekannten Kinderlied fröhlich besungen wurde? »Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserem Haus herum, fidebum …« Doch in der Dunkelheit ist jetzt keinem Kind mehr zum Singen zumute, denn der Butzemann ist eine Furcht einflößende Gestalt, ein Kobold oder womöglich ein Geist, niemand weiß das so genau. Aber als sicher gilt, dass er sich von verschlossenen Türen nicht abhalten lässt, sondern sie auf unheimliche Weise einfach passieren kann. Die Kinder haben Angst vor ihm – und ihre Eltern womöglich ebenfalls …
Dabei sind es über Jahrhunderte hinweg ausgerechnet die Erwachsenen, die ihren Kindern Geschichten von Gestalten wie dem Butzemann erzählen und damit die Ängste ihres Nachwuchses erst wecken und schüren. Ihre Erzählungen sollen dem pädagogisch höchst fragwürdigen Zweck dienen, den Kindern Angst vor Strafen zu machen, wenn sie sich nicht an die Anweisungen der Erwachsenenwelt halten. Wenn die Kleinen Blödsinn anstellen, so die simple und gerade deshalb so weit verbreitete Logik, kommt eben zur Strafe der Kinderschreck. Der trägt in den Regionen unterschiedliche Bezeichnungen: »Buhmann« oder »Butzemann«, »Nachtmann« oder generell der »schwarze Mann«, der als Figur auch in das kindliche Fangespiel »Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann« eingeht.[2] Die Drohung mit diesem Mann ist allerdings alles andere als lustig: Je nach erzählerischer Ausprägung und nach »pädagogischer« Grobheit hat er einen Sack dabei, in den er die unartigen Kinder steckt, eine Rute, mit der er die Kleinen schlägt (hierin zuweilen identisch mit der Vorstellung vom weihnachtlichen Knecht Ruprecht)[3], oder einen langen Haken, mit dem er die widerstrebenden Kinder an sich zieht, um sie umstandslos zu fressen! Mit der Drohung mit so einem Unhold lässt sich munter agieren: Das Kind soll abends brav im Haus bleiben? Da hatte die Mutter einst Verse wie diesen parat: »Gang nit hinaus, der Mann ist draus!«[4] Welches Kind blieb da nicht lieber erschrocken daheim?
Die Angst gilt uns als ein negatives Gefühl, das wir lieber meiden und auf das wir im Alltag am liebsten so weit wie möglich verzichten wollen. Doch sie war immer auch ein nützliches Warnsignal vor Unglück und möglichem Schaden – für jeden Einzelnen wie für die Gemeinschaft. So war es in Zeiten, als die Menschen auf eine karge Getreideernte für ihr Überleben angewiesen waren, eben keine hinnehmbare Kinderei, wenn der Nachwuchs balgend über die Felder zog und die Pflanzen zertrampelte. Die Ängste, die mit den Erzählungen der Erwachsenen geschürt wurden, konnten hier helfen. Deshalb herrschten in den Feldern mit dem lebenswichtigen Getreide im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit die »Korndämonen«, die »Roggenmuhme« oder der
Alle haben sie Angst vor dem Butzemann, der die Kleinen holt. Hier eine Darstellung der spanischen Version »El Coco« von Francisco de Goya (aus dem Zyklus »Los Caprichos«, 1799). [>>]
»Roggenwolf«, die Kinder von diesem Treiben abhalten sollten. Und wenn die Kinder sich in den Weinbergen verbotenerweise über die ebenso süßen wie kostbaren Trauben hermachten, kamen die dort verborgenen »Trubehans« oder »Hanselima« und sperrten sie weg.[5]
Die Angst vor dem Butzemann und allen anderen Typen von »schwarzen Männern« konnte Kinder durch die damit erzwungene Verhaltensänderung womöglich schützen, und dies auch vor wilden Tieren, allen voran vor dem bösen Wolf, der in so manchem Märchen bis heute nicht fehlen darf. Denn tatsächlich gab es einst entsprechende Gefahren, und kein Kind sollte sich im Mittelalter nachts in den heimischen Wäldern herumtreiben, in denen Wölfe, Bären oder auch Räuber unterwegs waren. In vielen Geschichten wurden diese Gefahren geschildert, und sie sorgten beim Publikum zu allen Zeiten für Erregung und Unruhe, für Sorge, Furcht und blanke Angst. An die Tradition solcher Erzählungen mögen wir uns heute erinnern, wenn wir in den Medien von einer besonders spektakulären Begegnung eines Spaziergängers mit einem der hier wieder heimischen Wölfe hören. Dann wird offensichtlich: Nicht nur der Wolf ist wieder da, sondern auch die alte, fast zeitlose Angst vor ihm …
An diesem Beispiel zeigt sich, wie wir alle – wenngleich abhängig von unserer persönlichen Lebenssituation – noch immer von einem kollektiven Angstgedächtnis beeinflusst werden, das sich über Jahrhunderte hinweg gebildet hat. Und unsere heutige Wahrnehmung der Welt verbindet uns noch immer mit den Menschen, die vor vielen Generationen gelebt haben. Wenngleich es Zeiten gab, in denen die Menschen mal unbeschwerter und optimistischer, mal wieder in großer Not und voller Zukunftsängste lebten: Die Angst war stets ein Grundgefühl menschlichen Lebens, ein Gefühl, das ganz nach Ausprägung wahlweise auch als »Furcht«, als »Schrecken« oder als »Horror« bezeichnet wird.[6]
Dass eine begründete Furcht durchaus auch ein Akt der Klugheit ist, wurde dabei schon früh erkannt. Der französische Schriftsteller und Philosoph Michel de Montaigne (1533 – 1592) riet schon dazu, nicht aus falsch verstandener Tapferkeit übergroße Gefahren aushalten zu wollen – »Begriffsstutzigkeit und Dummheit« erweckten dann irrtümlich »den Eindruck von Tugendhaftigkeit«.[7]
Der Blick in die Geschichte der kollektiven Ängste zeigt, dass sich keine Gesellschaft diesen einfach nur ausgeliefert fühlte, sondern stets Mittel und Wege suchte, ihnen zu begegnen. Schon das erwähnte Beispiel mit dem Schutz der Getreidefelder vor herumstrolchenden Kindern verweist darauf: Die gefährlichen »Korndämonen«, die angeblich dort hausten, sollten eben die karge Ernte retten – und dahinter steckte eine der großen Urängste der Menschheit: die Angst vor dem Hunger. Wer klug war, hatte Angst vor Hunger, und deshalb tat er auch alles dafür, ihm bloß nicht zum Opfer zu fallen. Das erzählerische Verschrecken von Kindern auf den Feldern war da nur der Anfang. Es gab viele magische Mittel, die Ernte zu sichern, vor allem wenn es um den Schutz vor Unwetter ging. Die Bauern konnten zwar säen und pflügen, sie konnten die Felder umsorgen. Aber, so würden wir heute behaupten, Wetter machen konnten sie schließlich nicht. Doch das ist aus mittelalterlicher Perspektive nur zum Teil richtig. Denn oft genug kannten die Bauern damals sehr wohl Leute, die zumindest Einfluss auf das Wetter hatten oder Zugang zu höheren Wesen und übernatürlichen Kräften, die dann auf entsprechende Bitten hin Regen, Sturm und Sonnenschein beeinflussen konnten. Diese »Profis« holten die Bauern in ihrer Not zu Hilfe.
Oft – vielleicht sogar in der Mehrzahl der Fälle – waren diese professionellen Helfer zunächst die örtlichen Priester, die in vielen Fällen von persönlicher Not ohnehin die ersten Ansprechpartner waren. Bei ihnen war in der Regel Rat und Hilfe zu erwarten, denn Gott, so das selbstbewusste Versprechen der mittelalterlichen Kirche, ist in seiner Allmächtigkeit selbstverständlich auch Herr über alle Naturgewalten und Naturgesetze. Wenn er will, kann er Feuer entfachen und löschen, er kann wahlweise Regen und Sonnenschein schicken oder verwehren, er lässt aber auch Sturm und Unwetter über die Welt kommen. Die Menschen taten deshalb gut daran, sich mit diesem Gott gut zu stellen und nicht durch ein sündiges Leben oder gar gotteslästerliches Verhalten seinen Zorn zu provozieren. Denn Gott galt ihnen nicht nur als gerechter, sondern immer auch als strenger und strafender Gott.[8]
Aber solange sich die Gläubigen nicht allzu viel Böses zuschulden kommen ließen, konnte ihnen dieser Gott wie kein anderer helfen. Die überlieferten Gebete lesen sich heute wie ein Katalog aller denkbaren Nöte und Heimsuchungen, vor denen sich die Menschen schon immer fürchten. So auch jenes Gebet, das im 19. Jahrhundert an den heiligen Donatus als Schutz gegen Donner und Unbilden des Wetters gerichtet wurde:[9]
Möge der Herr uns durch deine heilige und mächtige Fürsprache die Gnade gewähren, uns mit allen Unbilden der Witterung zu verschonen, die nicht den Jahreszeiten entsprechen und die das Wachstum der Feldfrüchte beeinträchtigen, die unser größter Reichtum und zugleich zu seiner Erhaltung notwendig sind. Er bewahre uns vor Viehseuchen und vor Mißernten und gewähre uns den gerechten Lohn für unseren Schweiß und unsere durchwachten Nächte. Er möge unsere Häuser vor jeglicher Zerstörung bewahren.
Neben diesen eher allgemeinen Bitten vor Schutz bot sich immer auch die Möglichkeit, direkt Gottes Einwirken auf das Wetter zu provozieren. So war die Vorstellung verbreitet, dass der Herr es...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2023 |
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Zusatzinfo | Mit zahlreichen Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Aberglaube • Alchemie • Alraune • Animalismus • Böser Blick • Dämonologie • Drachenblut • eBooks • Einhorn • ein jahr im mittelalter • Esoterik • ferdinand sterzinger • Geisterglaube • Hexen • Hexerei • Hildegard von Bingen • Hitlerwetter • Legenden • Magie • Magisches Denken • Mesmerismus • Mystizismus • Mythen • Neuerscheinung • Orakel • Sagen • Satanismus • Spiritualität • Talisman • übernatürliche Kräfte • Übernatürliches • Unglücksbringer • Volksglaube • Zauberei |
ISBN-10 | 3-641-29816-4 / 3641298164 |
ISBN-13 | 978-3-641-29816-6 / 9783641298166 |
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