Als der Wagen nicht kam (eBook)
384 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31228-2 (ISBN)
Manfred Lütz hat die zeitgeschichtlich bedeutsame Autobiografie seines Großonkels entdeckt und herausgegeben. Als Mitglied des Kreisauer Kreises fühlt sich Paulus van Husen von seinem Gewissen aufgerufen, Widerstand gegen die NS-Diktatur zu leisten, auch unter Einsatz des Lebens. In seinen Erinnerungen schildert Paulus von Husen, wie ihn der Erste Weltkrieg aus seinem wohlgeordneten Leben wirft, wie er in die internationale Politik und nach 1933 in Konflikt mit den Nazis gerät. Er erzählt, wie er Claus Schenk Graf von Stauffenberg begegnet, nach dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler verhaftet wird und die Gestapo-Verhöre und das KZ mit Glück und Geschick überlebt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird Paulus von Husen schließlich der erste Verfassungsgerichtspräsident Nordrhein-Westfalens, seine fesselnde Lebensgeschichte liest sich wie ein Roman.
Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe. Geboren 1954 in Bonn studierte er Medizin, Philosophie und katholische Theologie in Bonn und Rom. Von 1997 bis 2019 war er Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln. 2003 gründete er das Alexianer-Therapie-Forum mit renommieren internationalen Referenten, das er weiterhin organisiert. Bekannt wurde Lütz als Autor zahlreicher Bestseller. Er ist gern gesehener Gast in Talkshows und nimmt in Kolumnen und Artikeln immer wieder zu aktuellen Themen Stellung. Außerdem ist er ein gefragter Vortragsredner und tritt mitunter auch im Kabarett auf.
Mein Großonkel Paulus van Husen
Manfred Lütz
Paulus van Husen war mein Großonkel. Ich habe ihn, den in der Familie immer eine geheimnisvolle Aura umgab, nie persönlich kennengelernt. Aber dann wurde ich ganz unerwartet durch schicksalhafte Fügung sein Erbe. In einem Schrank fand ich tief unten einen verschnürten Papierstapel mit der Notiz, das hier Niedergeschriebene erst zu veröffentlichen, wenn es niemandem mehr schaden könne. Es waren seine Memoiren, die Ernte seines abenteuerlichen Lebens, die nun diesem Buch zugrunde liegt. Es waren die Lebenserinnerungen eines Mannes, der als einer der wenigen Mitverschwörer des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 überlebt hat, der nicht nur Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Peter Graf Yorck von Wartenburg und Helmuth James Graf von Moltke kannte, sondern der auch mit dem obersten Nazipropagandisten Joseph Goebbels, dem SS-Führer Reinhard Heydrich und Feldmarschall Wilhelm Keitel persönlich gesprochen oder gar verhandelt hatte, der von Bundeskanzler Konrad Adenauer ein spektakuläres Angebot bekam, das man eigentlich nicht ablehnen konnte, und am Ende der erste Verfassungsgerichtspräsident Nordrhein-Westfalens wurde.
Es war ein unheimliches Haus, das ich im Jahre 1996 zum ersten Mal in meinem Leben betrat. Die Fenster waren mit alten schweren Vorhängen zugehangen, die Lampe beleuchtete trübe eine Szene, die jedem Hitchcock-Film alle Ehre gemacht hätte. Alte, dunkle, massige Möbel starrten mich im Wohnzimmer an. Da waren Bücherregale, düstere Gemälde mit mir unbekannten Gestalten, alte Fotos in Bilderrahmen auf den wuchtigen Kommoden und Tischen. Und überall lagen Stapel von Papieren und Büchern. Man hätte sich nicht gewundert, wenn zwischen all dem Zeug, das da offenbar schon seit Jahren seinen Platz hatte, der Blick mit der Zeit im Dämmerlicht auf eine vergessene Leiche gefallen wäre.
Hans-Norbert van Husen hatte mir geöffnet, der unverheiratete Neffe und Erbe meines Großonkels. Er war nur zehn Jahre älter als ich, hatte Medizin studiert, war Professor geworden, einer der führenden deutschen Gastroenterologen, am Ende hochangesehener Chefarzt der Raffaelsklinik in Münster. Ich war ihm nur selten begegnet, aber schätzte ihn außerordentlich mit seiner feinen, liebenswürdigen, aber etwas scheu-zurückhaltenden Art. Wir schrieben uns ab und zu. Zuletzt hatte ich ihn auf meiner Hochzeit 1995 gesehen, da war er noch froh und zuversichtlich gewesen. Aber der mir da jetzt die Tür öffnete, war ein gezeichneter Mann. Vor einem Jahr hatte er bei sich selber Darmkrebs diagnostiziert und kurz danach ganz unerwartet einen Schlaganfall erlitten. Hans-Norbert, der nur der Wissenschaft gelebt, Bücher und Aufsätze publiziert und deswegen kaum ein Privatleben gehabt hatte, konnte nun weder lesen noch schreiben und man verstand ihn nur schwer. Er lächelte, als er mir öffnete, und humpelte mir voraus ins Wohnzimmer.
Ich erinnere mich, dass wir mit unserer ganzen Familie Ende der 1960er Jahre nach Münster gefahren waren, um Onkel Leo und Tante Marli, die Eltern von Hans-Norbert, zu besuchen. Leo van Husen war der zwölf Jahre jüngere Bruder von Paulus van Husen. Und dann gab es da noch die Schwestern, meine Großmutter Maria und Luise, die alle Tante Ite nannten, und die unverheiratet mit dem ebenso unverheirateten Paul zusammenlebte. Er legte übrigens wert darauf, Paulus genannt zu werden – was die Familie nicht daran hinderte, immer nur von »Onkel Paul« zu reden. Merkwürdigerweise besuchten wir ihn damals nicht, fuhren mit dem Auto nur an seinem Haus am Aasee vorbei. In diesem Moment machte oben jemand die Fensterläden zu. Meine Mutter zuckte zusammen: »Das war Tante Ite«, flüsterte sie.
Tante Ite, die ich ebenso nie persönlich erlebt habe, hatte in der Familie einen Ruf wie Donnerhall. Das kam daher, dass meine ganz jung verwitwete Großmutter Maria 1935 bei Onkel Paul und Tante Ite in Berlin-Grunewald eingezogen war – mitsamt ihren sechs Kindern zwischen neun und 18 Jahren. Maria war mit ihrer Situation offenbar heillos überfordert und deswegen nahm ihr Bruder sie auf. Doch Paulus van Husen und noch mehr seine Schwester Ite waren von dieser Invasion offenbar genauso überfordert, denn das unverheiratete Geschwisterpaar wusste mit Kindern nichts anzufangen. Das führte vor allem zu endlosen Spannungen mit Tante Ite, die bei Einzug der Großfamilie gerade mal 29 Jahre alt war. In seinen Memoiren spricht Paulus van Husen immer in den höchsten Tönen von seiner »tapferen Schwester«. In Wahrheit war sie wohl, wie alle, die mit ihr zu tun hatten, übereinstimmend berichten, ziemlich schwierig, jedenfalls äußerst launisch und unberechenbar. Onkel Leo sagte mir mal auf meine penetranten Nachfragen zu Tante Ite, seiner jüngeren Schwester, in seinem unnachahmlichen schwarzen westfälischen Humor liebevoll schmunzelnd: »Se is wohl nich ganz gar geworden«. Man erzählte sich, dass Paulus seinem Vater auf dem Sterbebett versprochen habe, für »das Itekind« zu sorgen. Er muss wohl dieserhalb eine Verlobung gelöst haben, hat sich dann aber sein Leben lang wirklich rührend um seine Schwester gekümmert. Und stand natürlich bei Auseinandersetzungen immer auf ihrer Seite. Aber auch sie setzte sich leidenschaftlich für ihren Bruder ein. Dabei nutzte sie offensichtlich auch ihre in der Familie gefürchteten Eigenheiten, als sie zum Beispiel, wie in den Memoiren beschrieben, einen gestandenen Senatspräsidenten am Reichsgericht mit der Androhung, sofort das ganze Gericht zusammenzuschreien, dazu brachte, bei der Gestapo anrufen zu lassen, um nähere Informationen über ihren soeben verhafteten Bruder zu erhalten.
Jedenfalls entstanden offenbar erhebliche Spannungen zwischen der vaterlosen Großfamilie und dem kinderlosen Geschwisterpaar. Meine Mutter berichtete mir, dass auch Onkel Paul wohl für Kinder kein rechtes Verständnis hatte. Als umfassend gebildeter Europäer war er entsetzt, dass sie zum Beispiel Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon nicht kannte. Von den Treffen der Verschwörer im Haus von Onkel Paul hat sie, die zum Zeitpunkt des Attentats immerhin 22 Jahre alt war, nicht das Geringste mitbekommen. Das Einzige, was ihr auffiel, war, dass öfter ein Kaffeewärmer über das Telefon gestülpt wurde und dass einmal Pater König in einem Schrank verschwand, als es an der Tür schellte. Immerhin fand das letzte Treffen Stauffenbergs mit den Mitgliedern des Kreisauer Kreises am 14. Juli 1944 in dem Haus statt, in dem meine Mutter damals wohnte, dennoch hat sie überhaupt nichts davon bemerkt. Mit dieser strengen Geheimhaltung wollte Paulus van Husen natürlich seine Angehörigen schützen. Übrigens hat es bei meiner Mutter einen bleibenden Eindruck hinterlassen, dass er einmal bei irgendeinem Anlass laut durchs Haus rief: »Wie kann man ein Kind nur Horst nennen!« Horst war für ihn ein heidnischer Name, da es keinen heiligen Horst gab, und vor allem war er bei Nazis beliebt, die ja schmetternd das Horst-Wessel-Lied sangen. Onkel Paul war tief katholisch. Ich habe in seinem Haus mehr Madonnendarstellungen pro Quadratmeter gefunden als an jedem anderen Ort, Kirchen eingeschlossen.
Meiner Mutter verübelte es Onkel Paul wohl vor allem, dass sie 1945, festgeklammert auf dem Kühler eines Botschaftsautos, in letzter Minute Berlin verlassen hatte, da sie mit ihren 23 Jahren damals nicht den Russen in die Hände fallen wollte, die sich gerade anschickten, den Ring um die Hauptstadt zu schließen. Daher war Tante Ite im Haus im Grunewald alleine zurückgeblieben.
Aus all diesen Gründen war das Verhältnis meiner Mutter und ihrer Geschwister zu Onkel Paul nicht unkompliziert. Dennoch sieht man Onkel Paul auf den Bildern der Hochzeit meiner Eltern 1953 zusammen mit seiner Schwester, meiner Großmutter Maria, sozusagen als Vaterersatz. Man schrieb sich auch bisweilen, aber der Kontakt war jedenfalls distanziert und so habe ich weder Onkel Paul noch Tante Ite jemals persönlich kennengelernt, was ich natürlich im Nachhinein sehr bedaure. Als Paul am 1. September 1971 starb, erbte alles seine Schwester Ite, nach deren Tod 1974, wie bereits von Paul verfügt, der Sohn von Onkel Leo, Hans-Norbert. Allerdings gab es noch ein kleines juristisches Geplänkel, weil Onkel Paul das Erbe für Hans-Norbert an die Bedingung geknüpft hatte, dass er dermaleinst eine gut katholische wohlbeleumundete Frau heiraten müsse. Das sei sittenwidrig, meinten einige Juristen in der Familie, aber sie ließen das Ganze dann doch auf sich beruhen, zumal Hans-Norbert sich allseitiger Beliebtheit erfreute.
Im Jahre 1997 starb Hans-Norbert mit nur 53 Jahren. Er hatte sehr unter seiner Hilflosigkeit gelitten. Ich hatte ihn einige Male besucht und vor allem Freunde vor Ort hatten sich rührend um ihn gekümmert. Zu meiner völligen Überraschung teilte mir seine Mutter, Tante Marli, mit, dass Hans-Norbert mich immer schon als Erben genannt habe, so dass ich nach ihrem Tod tatsächlich das Erbe von Onkel Paul antrat. Tante Marli konnte mir noch viel von Onkel Paul erzählen. Sie selber war als Tochter eines deutschen Kolonisten in Deutsch-Ostafrika geboren. Zum offensichtlichen Kummer von Onkel Paul war seine Schwägerin evangelisch. In Münster kam hinzu, wie sie mir erzählte, dass sie eben »keine Geborene« sei, keine Münsteranerin also. Onkel Leo, der blitzgescheit, humorvoll, aber völlig ohne Ehrgeiz war, so dass er sein Leben lang Amtsrichter blieb und damit auch zufrieden war, lebte in einer winzigen Wohnung mit seiner Frau und ihrem einzigen Kind, Hans-Norbert. Er war genauso grundsolide wie Paul, nahm aber das Leben wohl etwas leichter. Tante Marli litt unter der westfälischen, etwas ritualisierten Biederkeit der Familie. Regelmäßig gab es ziemlich steife Treffen von Leo und...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Autobiografie • Biografie • Biographien • CDU • Christlicher Widerstand • Claus Schenk Graf von Stauffenberg • eBooks • gott. eine kleine geschichte des größten • Helmuth James Graf von Moltke • Irre! Wir behandeln die Falschen • Judenverfolgung • Judenvernichtung • Konzentrationslager • Kreisauer Kreis • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Nordrhein-Westfalen • NS-Widerstand • Peter Graf Yorck von Wartenburg • Volksgerichtshof • Weimarer Republik • Weiße Rose |
ISBN-10 | 3-641-31228-0 / 3641312280 |
ISBN-13 | 978-3-641-31228-2 / 9783641312282 |
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