Sex (eBook)
512 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-28721-4 (ISBN)
In »Sex - Die ganze Geschichte« untersucht Kate Lister historische Phänomene rund um die Sexualität, seit es Zeugnisse hiervon gibt. Einen besonderen Fokus legt sie dabei auf das Mittelalter und die viktorianischer Zeit. Es geht um gesellschaftlichen Verschiebungen in unserer Haltung zum Sextrieb. Sie untersucht das Wort »cunt« als bösestes aller bösen Wörter, schreibt über rassistische Fetische und Kuriosa wie Duschen als Schwangerschaftsverhütung. Das Buch enthält eine Vielzahl literarischer Quellen und Abbildungen, es ist die fundierte Sammlung einer akribischen Wissenschaftlerin, die in der Popkultur zu Hause ist und ihre Erkenntnisse immer mit den Themen unserer Zeit verknüpft. Kate Lister setzt sich dabei für die Entkriminalisierung von Sexarbeit, für eine gendergerechte Sprache und eine gesunde, schamfreie Sexualaufklärung ein.
Dr. Kate Lister ist Universitätsdozentin und Kolumnistin u. a. für iNews und Vice sowie für den Wellcome Trust, für den sie über Sex schreibt. Dazu kuratiert sie das Online-Forschungsprojekt Whores of Yore und ist Vorstandsmitglied des International Sex Work Research Hub. Im Jahr 2017 gewann sie den Sexual Freedom Award als »Publicist of the Year«.
Vorspiel
Nicht ausgedrückte Gefühle sterben niemals.
Sie sind lebendig begraben und kommen eines Tages auf unangenehmere Art und Weise wieder ans Tageslicht.
Sigmund Freud
Sex gehört zu den großen Gleichmachern dieser Welt. Um es mit den Worten von Geoffrey Rush alias Marquis de Sade zu sagen: »Wir essen, wir schlafen, wir scheißen, wir vögeln und wir sterben.«[1] Sexuelle Begierde durchbricht die Grenzen von Kultur, Geschlecht und Klasse. Sie interessiert sich nicht für unsere »Regeln« und noch viel weniger für Vernunft, was jeder Mensch bestätigen kann, der schon einmal mit heruntergelassenen Hosen erwischt wurde. Natürlich machen Menschen weit mehr als essen, scheißen und vögeln – es ist unser Intellekt, der uns wirklich von den Tieren trennt. Und genau da liegt das Problem. Zu behaupten, dass Menschen viel über das Thema Sex nachdenken würden, wäre eine gnadenlose Untertreibung.
Alles Leben auf diesem Planeten ist von demselben Verlangen getrieben, sich fortzupflanzen. Was uns Menschen aber einzigartig macht, das sind die unendlich komplexen und zahlreichen Wege, auf denen wir unsere sexuelle Begierde ausleben. In Necrophilia: Forensic and Medico-legal Aspects of Sexual Crimes and Unusual Sexual Practices (2008) listete Professor Anil Aggrawal 547 von der Norm abweichende sexuelle Neigungen auf und stellte fest, dass »sexuelle Erregung wie Allergien durch alles Erdenkliche unter der Sonne, einschließlich der Sonne selbst«[2] hervorgerufen werden kann. Falls ihr euch das jetzt fragt: Sexuelle Erregung durch die Sonne heißt Aktirastie.
Menschen sind darüber hinaus die einzigen Lebewesen, die stigmatisieren, bestrafen und Scham erzeugen, wenn es um ihr sexuelles Verlangen geht. Alle Tiere pflegen Paarungsrituale, aber noch nie ist ein Gnu zur Therapie gegangen, weil es sich schwertut, seinen Latexfetisch auszuleben. Eine Bienenkönigin knallt bis zu vierzig Typen in einem Rutsch und fliegt dann samengetränkt und mit dem abgetrennten Schwanz ihrer letzten Eroberung im Gepäck zu ihrem Bienenstock zurück – nicht eine Drohne nennt sie eine Schlampe. Männliche Paviane treiben es munter den lieben langen Tag miteinander, ohne auch nur eine Sekunde Gefahr zu laufen, ins Umerziehungslager für Homosexuelle geschickt zu werden. Doch die Schuldgefühle, die wir Menschen in Bezug auf unser sexuelles Verlangen haben, können lähmend sein, und diejenigen, die »die Regeln« brechen, müssen seit jeher mit harten Strafen rechnen.
Der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez schrieb einmal, jeder Mensch habe drei Leben: »ein öffentliches Leben, ein privates Leben und ein geheimes Leben«[3]. Es ist paradox, aber unser geheimes Leben ist zugleich unser ehrlichstes. Wir zwingen diesen ehrlichen Teil von uns in die Verborgenheit, weil das System, das wir selbst geschaffen haben, bestimmt, dass er unvereinbar ist mit unserem öffentlichen und unserem privaten Leben. In dem Versuch, diesen geheimen Teil von uns zu kontrollieren, haben wir Sex zu einer Moralfrage gemacht und komplexe soziale Strukturen entwickelt, die unsere Triebe regulieren sollen. Um sie im Zaum zu halten, haben wir uns Kategorien ausgedacht: schwul, lesbisch, hetero, monogam, keusch, promiskuitiv etc. Aber Sexualität lässt sich nicht fein säuberlich in menschengemachte Schubladen stecken, sie lässt sie überquellen, und irgendwann geht alles drunter und drüber. Wenn wir versuchen, unser Verlangen zu unterdrücken, wird daraus ein Vulkan, der unterhalb unserer Strukturen von Moral, Ethik und Anstand vor sich hin brodelt. Und irgendwann kommt es zum Ausbruch – denn für einen Orgasmus haben Menschen seit jeher Haus und Hof riskiert.
Der sexuelle Akt an sich hat sich nicht verändert, seit wir zum ersten Mal kapiert haben, was wohin gehört. Penisse, Zungen und Finger haben auf der Jagd nach Orgasmen Münder, Vulven und Polöcher erforscht, seit die ersten Menschen aus dem Urschlamm gekrochen sind. Was sich allerdings verändert, ist das gesellschaftliche Drehbuch, das vorgibt, wie Sex kulturell verstanden und ausgeführt wird. Laut Pornhub, der weltweit erfolgreichsten Pornoseite im Internet, ist zum Beispiel »lesbisch« die Nummer eins unter den Suchbegriffen, seit die Seite 2007 gelauncht wurde. In den Niederlanden entfielen zwischen 2016 und 2018 auf dieses Schlagwort fünfundvierzig Prozent der Suchanfragen.[4] Die Holländer*innen finden die Lesbennummer also super, wie’s aussieht. Tatsächlich waren sie aber nicht immer so begeistert davon. Zwischen 1400 und 1550 wurden in den Niederlanden fünfzehn Frauen als »Sodomitinnen«[5] lebendig verbrannt. Diejenigen, die nicht zum Tode verurteilt wurden, mussten harte Strafen über sich ergehen lassen. Im Jahr 1514 wurden Maertyne van Keyschote und Jeanne van den Steene in Brügge öffentlich ausgepeitscht, man versengte ihr Haar und verbannte sie aus der Stadt, weil sie »eine bestimmte Art der unnatürlichen Sünde der Sodomie mit einigen jungen Mädchen«[6] begangen hatten. Sechshundert Jahre später ist die »bestimmte Art der unnatürlichen Sünde der Sodomie mit einigen jungen Mädchen« die beliebteste Pornokategorie unter den Ahnen der Menschen, die einst dachten, es sei eine angemessene Idee, Lesben auf den Scheiterhaufen zu werfen.
Die Suchanfragen nach »Pornos für Frauen« waren bis 2018 um 359 Prozent gestiegen, wobei im selben Jahr Frauen 197 Prozent häufiger Lesbenpornos schauten als Männer. Das wäre ein ganz schöner Schock für Dr. William Acton (1813 – 1875) gewesen, der behauptet hatte: »Die Mehrheit der Frauen wird (ein Glück für sie) nicht sehr stark von sexuellen Gefühlen irgendeiner Art heimgesucht.«[7] Und was der Herausgeber des Sunday Express, James Douglas (1867 – 1940), davon gehalten hätte, darüber lässt sich bloß spekulieren. Dieser attackierte Radclyffe Halls bahnbrechenden Roman über lesbische Liebe, Well of Loneliness (Quell der Einsamkeit, 1928), mit den Worten: »Diese Pestilenz ist verheerend für die jüngere Generation. Sie zerstört junges Leben. Sie beschmutzt junge Seelen.« Douglas beschwor die Gesellschaft, sich von der »Krankheit dieser Kranken«[8] zu befreien. Tja, und nun, neunzig Jahre später, holen sich Millionen von Frauen zu dieser Pestilenz einen runter, mit recht intakten Seelen. Herrliche Zeiten!
In diesem Buch geht es darum, wie sich die Einstellungen zum Thema Sex im Lauf der Geschichte verändert haben. Es geht um die wundersame Geschichte von Sex und um einige der Dinge, die wir uns selbst und anderen auf der Suche nach (und der Flucht vor) dem allmächtigen Orgasmus angetan haben. Das hier ist keine vollständige Studie zu allen sexuellen Marotten, Spielereien und Ritualen, die es jemals und in allen Kulturen gegeben hat, denn das würde in einer Enzyklopädie enden. Vielmehr ist das Buch ein Tropfen in einem Ozean, ein Ruderschlag im flachen Wasser der Sexgeschichte, aber ich hoffe trotzdem, ihr werdet zwischendurch auch ein bisschen angenehm feucht. Ich habe versucht, Aspekte zu beleuchten, die einen wertvollen Beitrag zu Themen unserer Zeit leisten, ganz besonders zu Genderfragen, sexueller Scham, Schönheit, Sprache und der Kontrolle von Lust. Ich habe Themen gewählt, die mir am Herzen liegen, etwa die Geschichte der Sexarbeit, aber auch tief emotionale Themen wie Abtreibung und solche, die mich zum Lachen bringen, wie Herzmuschelbrot oder Orgasmen auf dem Fahrrad. Obwohl es leicht ist, über die albernen Sachen zu lachen, an die Menschen in der Vergangenheit geglaubt haben (und ich hoffe, das werdet ihr), so ist es doch noch weit wertvoller zu erkennen, wie ähnlich wir diesen Menschen im Grunde sind, und in der Folge unsere eigenen Glaubensgrundsätze zu überprüfen. Sex ist nach wie vor auf der ganzen Welt eine extrem polarisierende Angelegenheit, an vielen Orten sogar eine Frage von Leben und Tod. Diese Einstellungen wandeln und wandeln sich immer weiter – hoffentlich zum Guten. Aber wir werden es niemals schaffen, Sex von Stigma und Scham zu befreien, wenn wir nicht verstehen, woher wir kommen.
Eine Bemerkung noch zur Ausdrucksweise in diesem Buch. Was anstößige Sprache angeht, betretet ihr nun vermintes Gelände. Hier werden historische Einstellungen zu Sex und Geschlecht offengelegt. Unsere Ahnen hatten keine Vorstellung von Genderfluidität und verstanden Geschlecht als binär und biologisch bestimmt, darum haben im historischen Material, das diesem Buch zugrunde liegt, Frauen Vulven und Männer Penisse. Im Kapitel über die Geschichte des Wortes cunt (»Fotze«) zum Beispiel wird cunt einfach als Bezeichnung für das weibliche Genital benutzt. Heute wissen wir, dass manche Frauen Fotzen haben und manche nicht, genau wie manche Männer und manche nicht. Aber unsere Ahnen haben Geschlecht oder Biologie nicht unter solchen Gesichtspunkten betrachtet – für sie war cunt das Genital der Frau. Das mag sich für moderne Ohren beleidigend anhören, aber wenn wir wirklich durchdringen wollen, wie Heteronormativität und die Idee von binärer Maskulinität und Femininität zu den dominierenden Narrativen unserer Zeit geworden sind, dann ist es essenziell, historische Haltungen zu Geschlechtsidentität und sexuellen Spielarten zu verstehen.
Die Sprache, die in diesem Buch benutzt wird, ist authentische historische Sprache, und ich gebe stets den ältesten überlieferten Nachweis an. Meine wichtigste Quelle hierfür ist Jonathon Greens Dictionary of Slang, das ich gar nicht genug anpreisen kann,...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2024 |
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Übersetzer | Nina Lieke |
Zusatzinfo | durchgehend bebildert |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Curious History of Sex |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • eBooks • Erotik • Geschichte • Kulturgeschichte • Liebesglück • Lust • Mittelalter • Neuerscheinung • Prostitution • Prüderie • Sexarbeit • Sexspielzeug • Sexualität • Viktorianische Zeit • Vulva |
ISBN-10 | 3-641-28721-9 / 3641287219 |
ISBN-13 | 978-3-641-28721-4 / 9783641287214 |
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Größe: 47,4 MB
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