In Form von Briefen an ihren verstorbenen Vater (früherer Bürgermeister von Teheran und politischer Gefangener des Schah-Regimes), der ihr in ihrer Kindheit die Augen dafür öffnete, wie Literatur uns in Zeiten der Krise retten kann, stellt Nafisi die brennenden Fragen unserer Zeit - mit ihrer Lektüreliste bewaffnet Nafisi die Leser*Innen für den Widerstand. Sie greift dabei auf ihre persönlichen Erfahrungen als Frau, als Leser*in und Lehrende in Teheran zurück, die von der Universität verwiesen wurde, als sie sich weigerte, den Schleier zu tragen, und schließlich in die USA emigrierte, wo sie als Professorin Literatur unterrichtete. Nafisi ist überzeugt: Für das Überleben der Demokratie weltweit ist das Lesen unabdingbar. Ob James Baldwin oder Margret Atwood, ob Platon oder Salman Rushdie, Lektüre ist immer ein Weg in Richtung Freiheit: persönlich und politisch.
Die Iranerin Azar Nafisi unterrichtete Englische Literatur an der Universität von Teheran, der Freien Islamischen Universität und der Universität von Allameh Tabatabai. Weil sie sich weigerte, den Schleier zu tragen, erhielt Nafisi Lehrverbot. 1997 verließ sie den Iran und wanderte in die USA aus. Sie schreibt für die New York Times, die Washington Post, das Wall Street Journal und den New Republic, lehrte als Gastdozentin in Oxford und ist heute Professorin für englische Literatur an der Johns Hopkins Universität in Washington D.C.
Einführung
»Verliebt man sich in ein Buch, hinterlässt es seine Essenz wie radioaktiver Fallout in einem Acker, sodass gewisse Früchte dann nicht mehr im Leser gedeihen, doch gelegentlich entstehen andere Gewächse, merkwürdigere, fantastischere.«
Salman Rushdie
Am 8. Oktober 2016 schrieb ich einen Brief an meinen Vater, der bereits seit zwölf Jahren tot war. Ich weiß das Datum noch, weil ich in dem Brief erwähnte, dass am Vortag die Washington Post über das sexistische Gespräch zwischen Billy Bush und Donald Trump berichtet hatte, in dem Trump mit sexuellen Übergriffen auf Frauen prahlte.
Zu Lebzeiten meines Vaters schrieben wir uns oft Briefe. Das erste Mal schrieb er mir, als ich vier Jahre alt war, in einem Tagebuch, das nur an mich gerichtet war und das ich nach seinem Tod unter seinen Papieren und anderen Tagebüchern fand. Ich selbst schrieb ihm meinen ersten Brief, als ich sechs war und er in Amerika studierte. Ich kritzelte ein paar Worte an ihn auf Papierschnipsel, benutzte dabei die Anrede Baba jan, was auf Persisch »liebster Papa« bedeutet, und unterschrieb mit »Babas Tochter«. Wir schrieben uns, wenn einer von uns auf Reisen war, aber auch, während wir im selben Land lebten – und sogar im selben Haus.
Wir schrieben uns lange Briefe zu wichtigen Anlässen: als ich mit dreizehn Jahren nach England geschickt wurde, um dort zur Schule zu gehen, oder als mein Vater, damals Bürgermeister von Teheran, 1963 aus politischen Gründen ins Gefängnis kam – weil er die Befehle seiner Erzfeinde, des Premiers und des Innenministers, nicht befolgt hatte. Wir schrieben uns Briefe, als er nach vier Jahren Haft in einem sogenannten Übergangsgefängnis schließlich in allen Anklagepunkten freigesprochen wurde. Wir schrieben uns Briefe, als ich mit achtzehn zum ersten Mal heiratete und er nicht zur Hochzeit kommen konnte, weil er im Gefängnis saß, und ich schrieb ihm, als ich an der University of Oklahoma studierte, zusammen mit meinem ersten Mann. Mein Vater war der Erste, dem ich von meiner unglücklichen Ehe und meiner Entscheidung schrieb, mich scheiden zu lassen, und einige Jahre später von meinem zweiten Mann, Bijan, und meiner Entscheidung, ihn zu heiraten.
Ich machte meinen Collegeabschluss und blieb für die Promotion, die ich kurz nach der Islamischen Revolution 1979 abschloss. Ich kehrte in den Iran zurück und arbeitete als Dozentin, wurde aber von der Universität verwiesen, weil ich mich weigerte, den vorgeschriebenen Schleier zu tragen. Natürlich ging es in unseren Briefen auch um diese Ereignisse. Wir schrieben uns, als meine Tochter Negar und mein Sohn Dara geboren wurden. Als ich im Juli 1997 wieder nach Amerika zog, schickten wir uns lange Faxe, in denen wir uns über verschiedenste Themen austauschten, persönliche, politische und intellektuelle – darüber, wie glücklich ich mich schätzen konnte, dass ich mit meinem Mann und unseren Kindern in Washington, D. C., lebte, derselben Stadt, in der auch einige meiner engsten Freunde und meine lieben und großzügigen Schwägerinnen mit ihren Familien lebten; wie toll es war, unzensierte Filme zu sehen und unzensierte Bücher zu lesen; wie sehr ich ihn vermisste. Ich schrieb darüber, wie interessant meine neue Arbeit war, und wir tauschten uns über die Bücher aus, die wir gerade lasen, darüber, was man von Gandhi, Dr. Martin Luther King jr. und Montaigne lernen kann. Er erstellte eine Liste mit großen Werken der iranischen Literatur, die ich meinen Kindern zu lesen geben solle, »damit sie sich an den Iran erinnern«, wie er sagte. Wir sprachen über die Bücher, die ich in meinen Seminaren unterrichtete, über Amerikas Flucht vor der Realität und seine zunehmende Vereinnahmung durch Komfort und Unterhaltung. Ich schrieb ihm, wenn ich glücklich war, und schrieb ihm, wenn ich unglücklich war, ich schrieb ihm, wenn ich mich freute und wenn ich wütend oder frustriert war.
An jenem Tag im Oktober schrieb ich ihm, weil ich frustriert war von den beiden Ländern, in denen ich zu Hause war und bin. Im Iran herrschte weiterhin die Theokratie; trotz der enormen Unzufriedenheit der Menschen und der anhaltenden Proteste hatte sich nichts geändert. Die Ayatollahs schikanierten, inhaftierten, folterten und töteten nach wie vor unschuldige Bürgerinnen und Bürger. In Amerika kam es dagegen zu einer rasant fortschreitenden Polarisierung der Gesellschaft, bedingt durch zu viel Ideologie und zu wenig Diskussion – und so drastisch sich das Land in vielem von der Islamischen Republik unterschied, gab es doch auch immer wieder Ähnlichkeiten. Mein Vater und ich tauschten uns oft darüber aus, wie wir mit unseren Unterdrückern umgehen sollten, mit Menschen, die wir nicht nur als Gegner, sondern als Feinde bezeichnen. Viele unserer Briefe drehten sich im Laufe der Jahre um seine Haft und die dafür Verantwortlichen, und durch die Revolution und den Krieg wurde die Frage nach dem Umgang mit dem Feind später zu einem fast täglichen Thema.
Und jetzt, in Amerika, komme ich auf dieselbe Frage zurück, weil ich sie als zentral für den Erhalt der Demokratie betrachte. Ich schrieb meinem Vater, dass mir die Worte fehlten angesichts der Kandidatur Trumps, nicht nur wegen Trump als Mensch, sondern auch wegen allem, wofür er steht, und was das über uns als Land aussagt. Ich schrieb ihm, dass wir uns in der Ära Trump nur mit unseren Feinden beschäftigten, seien sie real oder erfunden, dass unser Handeln vor allem in Reaktionen auf diese realen oder erfundenen Feinde bestand. Ich schrieb meinem Vater auch, dass ich ihn vermisste: »Wie wir auf Persisch sagen: Dein Platz ist leer.« Noch nie war sein Platz so leer gewesen.
Ich schrieb ihm, dass ich mich zeitlebens als seine größte Verteidigerin, Vertraute, Freundin und Mitverschwörerin gefühlt hätte, trotz der Zeiten, in denen wir verärgert waren über den anderen oder uns von ihm verlassen fühlten und enttäuscht waren. Ich schrieb: »Manchmal war ich hart zu dir, mit derselben Konsequenz, mit der ich dich geliebt habe. Doch dein Tod und die Distanz haben nun andere Gefühle zum Vorschein gebracht, die in mir aufsteigen, wenn ich an die glücklichsten Momente meiner Kindheit zurückdenke: an das Geschichtenerzählen.«
Wie alle liebevollen und engen Beziehungen hatte auch unsere ihre Höhen und Tiefen, aber es gab etwas zwischen uns, das davon vollkommen unberührt blieb: die Geschichten, die er mir in meiner Kindheit jeden Abend erzählte. Wenn mein Vater sich zu mir setzte, um mir meine Lieblingsgeschichten zu erzählen, traf mich die freudige Überraschung wie ein elektrischer Schlag. Bereits in meiner frühen Kindheit wusste ich intuitiv, dass es ein heiliger Moment war, dass mir etwas sehr Kostbares und Seltenes geschenkt wurde: der Schlüssel zu einer geheimen Welt.
Er wählte die Geschichten nach einem demokratischen Prinzip aus. An einem Abend erzählte er aus dem Königsbuch Schāhnāme unseres Epikers Ferdausi; am nächsten Abend reisten wir mit dem Kleinen Prinzen nach Frankreich; am übernächsten Abend mit Alice nach England. Dann nach Dänemark mit dem Mädchen mit den Schwefelhölzern, in die Türkei mit Hodscha Nasreddin, nach Amerika mit Charlotte und Wilbur oder nach Italien mit Pinocchio. Er brachte mir die große, weite Welt in mein kleines Zimmer. Als Jugendliche und später als Studentin, Dozentin, Schriftstellerin, Aktivistin und Mutter bin ich immer wieder in das Zimmer zurückgekehrt, um Kraft aus diesen Geschichten zu schöpfen.
Ich habe den Iran zum ersten Mal im Alter von dreizehn Jahren verlassen, um in England zur Schule zu gehen, und seitdem waren Bücher und Geschichten meine Talismane, meine tragbare Heimat, die einzige Heimat, auf die ich mich verlassen konnte, von der ich wusste, dass sie mich nie enttäuschen würde; die einzige Heimat, aus der man mich niemals vertreiben konnte. Lesen und Schreiben haben mir in den schlimmsten Momenten meines Lebens Schutz geboten, in Zeiten der Einsamkeit, des Grauens, der Ängste und Zweifel. Und sie haben meine Sicht auf mein Heimatland und meine Wahlheimat geprägt.
Im Iran schenkt das Regime, wie in allen totalitären Staaten, den Dichtern und Schriftstellern zu viel Aufmerksamkeit, schikaniert, inhaftiert und tötet sie sogar. In Amerika ist das Problem dagegen, dass ihnen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Sie werden nicht durch Folter und Gefängnis zum Schweigen gebracht, sondern durch Gleichgültigkeit und Desinteresse. Ich muss an James Baldwin denken, der in seinem Roman Beale Street Blues schrieb: »Weder Liebe noch Grauen macht blind: Gleichgültigkeit macht blind.« In den Vereinigten Staaten sind das Problem vor allem wir, das Volk; wir, die wir es für selbstverständlich halten, dass es literarische Werke gibt, die uns herausfordern, oder auch wir, die wir uns vom Lesen Behaglichkeit und Trost erwarten und daher nur Texte lesen, die die eigenen Überzeugungen und Vorurteile bestätigen. Vielleicht empfinden wir die bloße Vorstellung von Veränderung als gefährlich und vermeiden es daher, gefährlich zu lesen.
Autoren sind nicht unfehlbar. Auch die Großen unter ihnen sind Kinder ihrer Zeit. Das Wunderbare an großen Büchern aber ist ihre Fähigkeit, die Vorurteile sowohl des Autors als auch seiner Zeit und seines Umfeldes zu reflektieren und zu überwinden. Aufgrund genau dieser Eigenschaft ist es möglich, dass eine junge Frau im Iran des 20. Jahrhunderts einen Griechen namens Aischylos liest, der Tausende von Jahren vor ihr gelebt hat, und sich in ihn einzufühlen vermag. Lesen führt nicht unbedingt zu politischem Handeln, aber es fördert ein Denken, das hinterfragt und...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2023 |
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Übersetzer | Cornelius Reiber |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Read Dangerously |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Demokratie • eBooks • Frauen im Iran • Iran • Literatur und Politik • literatur und politischcher diskurs • Literatur und Zensur • Neuerscheinung • New-York-Times-Bestsellerautorin |
ISBN-10 | 3-641-29838-5 / 3641298385 |
ISBN-13 | 978-3-641-29838-8 / 9783641298388 |
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