Verfolgt, „arisiert“, wiedergutgemacht? (eBook)
432 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-31188-9 (ISBN)
In den 1920er Jahren stand der Warenhauskonzern Hermann Tietz wie kaum ein anderer für eine moderne Kaufhauskultur. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde das Unternehmen den jüdischen Inhabern genommen. Aus der Hermann Tietz OHG wurde die Hertie GmbH unter der Leitung des ehemaligen Angestellten Georg Karg, der den Konzern später übernahm. Die Autoren rekonstruieren die Umstände dieser frühen 'Arisierung'. Die Studie beleuchtet auch das Schicksal der Familie Tietz nach dem Verlust ihres Unternehmens und den Werdegang des Hertie-Konzerns bis zu den Auseinandersetzungen um Restitution und Entschädigung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Gestützt auf vielfältige Quellen, darunter bislang nicht zugängliche Dokumente, entsteht so erstmals ein detailliertes Bild des 'Arisierungsprozesses' und seiner Folgen.
Johannes Bähr, geb. 1956, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Freiburg i. Br. und München. Er wurde 1986 zum Dr. phil. promoviert und habilitierte 1998 an der Freien Universität Berlin. Heute lehrt er als apl. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Einleitung
Als die Familie Tietz/Zwillenberg zum Jahresende 1934 ihren Warenhauskonzern aus der Hand geben musste, war das die bislang größte der immer zahlreicher werdenden »Arisierungen«. Der von den Nationalsozialisten verfemte Name »Hermann Tietz«, einer der glanzvollsten des deutschen Einzelhandels, verschwand aus den Städten, Handelsregistern und später auch aus dem historischen Gedächtnis. Die abgegebenen Warenhäuser blieben, sie gehörten nun der Hertie Waren- und Kaufhaus GmbH, deren Name die Herkunft ihres Vermögens erkennen ließ. Doch danach wurde nicht mehr gefragt, auch nicht, als dies nach der Befreiung des Landes wieder möglich gewesen wäre. Mit der Übernahme durch den 1933 eingesetzten Geschäftsführer Georg Karg war Hertie zum Konzern einer anderen Familie geworden, und im westdeutschen »Wirtschaftswunder« der 1950er- und 1960er-Jahre stand dieser Name dann ebenso selbstverständlich für eine neue Konsumwelt wie Hermann Tietz in früheren Zeiten. Nachdem Hertie 1949 mit der Familie Tietz/Zwillenberg einen Vergleich abgeschlossen hatte, schienen Fragen nach früherem Unrecht vollends als nicht mehr statthaft.
Bei Hertie bekannte man sich zu der Tradition, die mit dem früheren Namen verbunden war. Von einer »Arisierung« war dabei aber nicht die Rede, und da deren Bedingungen unbekannt blieben, konnte sie von Hertie unwidersprochen in ein beschönigendes Narrativ gehüllt werden: Der Hermann Tietz-Konzern sei in der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er-Jahre zugrunde gegangen und deshalb in einer gänzlich unpolitisch motivierten Sanierung übernommen worden. Die Familie Tietz/Zwillenberg habe mit einer großzügigen Abfindung das Land verlassen und sei auch in dem Vergleich mit dem Hertie-Konzern außerordentlich günstig bedacht worden. Zwar ließen quellengestützte Studien spätestens seit den 1990er-Jahren keinen Zweifel daran, dass die Familie Tietz/Zwillenberg ihren Warenhauskonzern durch eine von Hertie betriebene »Arisierung« verloren hatte. Eine umfassende Aufarbeitung stand gleichwohl weiterhin aus, die Folgegeschichte der »Wiedergutmachung« blieb gar gänzlich im Dunkeln. Inzwischen sind seit dem »Arisierungsvertrag« fast 90 Jahre und seit dem Vergleich mehr als 70 Jahre vergangen.
Warum erfolgt die Aufarbeitung erst jetzt? Die Zeitspanne ist zu groß, um sie durch die kollektive Verdrängung brauner Vergangenheit in der Nachkriegsgesellschaft erklären zu können. Auch später, als die Rolle der Unternehmen in der NS-Zeit kritisch wahrgenommen und vielfach untersucht wurde, erfuhren die Kaufhausunternehmen wenig Beachtung. Inzwischen war bekannt, dass diese Branche wie kaum eine andere von »Arisierungen« betroffen gewesen war und die Karrieren fast aller Waren- und Versandhauskönige der Nachkriegszeit darauf gründeten. Umso erstaunlicher ist es, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Schicksale der jüdischen Warenhäuser im Nationalsozialismus bis auf wenige Ausnahmen, wie die bereits in den 1990er-Jahren erschienenen Darstellungen über die Warenhauskonzerne Schocken und Wertheim, kaum erfolgt ist.[1]
Bei Hertie wird dazu beigetragen haben, dass der Konzern nicht mehr existierte, als das beharrliche Schweigen der Unternehmen zu ihrer Rolle im Nationalsozialismus etwa Mitte der 1990er-Jahre erstmals auf breiter gesellschaftlicher Basis kritisiert wurde. Nach der Übernahme durch Karstadt 1994 fehlte es an Struktur und Sensibilität für ein gemeinsames historisches Erinnern. Firmenjubiläen gaben keinen Anlass mehr zur Selbstreflexion, und auch kritische Nachfragen internationaler Geschäftspartner entfielen, die in vielen noch lebendigen Firmen für notwendige Denkanstöße sorgten. Gleichwohl standen mit der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Karg’schen Familienstiftung und der Karg-Stiftung gleich mehrere Institutionen durchaus noch in der Tradition des Unternehmens Hertie. In der Alltagsarbeit dieser erst in der Bundesrepublik gegründeten Stiftungen rückte die Geschichte des Warenhauses aber nicht in das Blickfeld, auch weil die persönliche Bindung zum Unternehmen fehlte. Zwischenzeitlich gab es offenbar Überlegungen, über die Geschichte von Hertie forschen zu lassen und eine Biografie des Stiftungsgründers anzufertigen. Die Projekte blieben aber in der Konzeptphase stecken. Gerade zu Georg Karg fehlen persönliche Dokumente, Schriften oder Korrespondenzen, die ihn ausreichend historisch sichtbar machen könnten. Zur »Arisierung« der Firma Hermann Tietz boten bislang lediglich einige Unterkapitel in der 1997 veröffentlichten Studie von Simone Ladwig-Winters über Wertheim quellengestützte Ausführungen.[2]
Der Umstand, dass nun eine umfassende Studie zur NS-Geschichte von Hertie und der aufgelösten Hermann Tietz OHG erscheint, ist einem Umdenken geschuldet, das allerdings aktiv angestoßen werden musste. Der Impuls geht auf eine Gruppe von Studierenden und Alumni der Berliner Hertie School zurück, die sich 2018 in der Initiative Her.Tietz zusammenfanden. Sie forderten die Hertie-Stiftung als Trägerin der Bildungseinrichtung auf, nicht nur Demokratie zu lehren, sondern selbst zivilgesellschaftliche Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit zu übernehmen. Ihre kritischen Nachfragen nach der Herkunft des Namens und Vermögens von Hertie sowie nach dem Schicksal der jüdischen Inhaberfamilien erhielten in der deutschen Presselandschaft Rückenwind und veranlassten den Stiftungsvorstand schließlich, sich des Themas anzunehmen. Seither ist eine ernsthafte Öffnung der Hertie-Stiftung gegenüber den Lasten ihrer Vergangenheit erkennbar. Der Vorstand beauftragte 2020 die Frankfurter Gesellschaft für Unternehmensgeschichte mit der Suche nach unabhängigen Historikern für eine quellengestützte Analyse und Bewertung der Geschichte von Tietz und Hertie in der NS-Zeit. In der Folge gewährte die Stiftung den Autoren uneingeschränkten Zugang zu allen relevanten Unterlagen und völlig freie Hand bei der Auswertung und Formulierung ihrer Befunde. So liegt nun tatsächlich eine erste unabhängige Untersuchung der Unternehmensgeschichte des Warenhauskonzerns und seiner jüdischen und nicht jüdischen Inhaber für die Zeit des Nationalsozialismus vor.
Der Untersuchungszeitraum der Studie begrenzt sich gleichwohl nicht auf die Jahre 1933 bis 1945 und somit auf den Verlust des gewerblichen und privaten Vermögens der Familie Tietz im Rahmen von »Arisierung« und staatlicher Konfiskation. Die Perspektive weitet sich über die Epochenschwelle des Kriegsendes hinaus auf die Auseinandersetzungen um eine potenzielle »Wiedergutmachung« des geschehenen Unrechts in der Bundesrepublik. Es wird ein analytischer Bogen gespannt, um die Begegnungsgeschichte zwischen den Hertie-Verantwortlichen und der Familie Tietz im Spannungsfeld von Aneignung und Aufarbeitung, Diktatur und junger Demokratie nachzuverfolgen.
Die Studie selbst gliedert sich in sechs Teilkapitel, die sich entlang der Leitthemen gruppieren. Das erste Kapitel schildert die Anfänge der Hermann Tietz OHG und den nahezu ungebremsten Aufstieg des Unternehmens bis zur Weltwirtschaftskrise 1929. Es gilt zu klären, ob und inwieweit der Warenhauskonzern tatsächlich bereits vor der NS-Machterlangung in eine Liquiditätskrise geriet. War die Hermann Tietz OHG aufgrund eines zu raschen Expansionsdrangs tatsächlich zu einem Sanierungsfall geworden, wie 1933 und auch noch in der Nachkriegszeit kolportiert wurde?
Der zweite Abschnitt schließt direkt an diese Frage an, indem er die Folgen der antijüdischen Boykotte abschätzt und sodann im Detail die einzelnen Schritte der »Arisierung« des Konzerns in den Jahren 1933 und 1934 nachzeichnet. In den Mittelpunkt rückt, nicht nur den Kreis der Beteiligten zu rekonstruieren, sondern zu fragen, inwieweit die neue Hertie-Geschäftsführung mit Banken, Staats- und Parteibehörden zusammenarbeitete, um die Familie Tietz aus dem Unternehmen zu drängen. Welche Rolle spielte Georg Karg, der vom Einkaufsleiter zum Geschäftsführer avancierte? Ebenso unklar sind die finanziellen Details der Besitzübertragung, in der es galt, den Wert der zahlreichen Betriebs- und Immobiliengesellschaften des Konzerns zu beurteilen und sich über Forderungen und Verpflichtungen zwischen der OHG, der Familie und Hertie GmbH auseinanderzusetzen.
Nachfolgend wird in einem dritten Kapitel beleuchtet, wie es Georg Karg im Verlauf der 1930er-Jahre gelang, vollständig in den Besitz der Hertie GmbH zu gelangen. Was bewog ihn zu diesem Schritt? Woher stammte sein Kapital, um die Anteile der Banken auszulösen, und warum gaben die Banken den Warenhauskonzern letztlich in seine Hände ab?
Liegt der Fokus der Untersuchung bis hierher vor allem auf einer Analyse des Käuferverhaltens, wechselt die Perspektive in Kapitel vier auf das Schicksal der Familie Tietz nach der Abgabe ihres Unternehmens. Es wird gezeigt, wie die einzelnen Familienzweige versuchten, sich selbst und ihr Vermögen vor dem Zugriff des NS-Regimes zu schützen. Ihr Lebens- und Arbeitsfeld engte sich im Takt der sich radikalisierenden NS-Judenpolitik schließlich so weit ein, dass spätestens 1938 kaum eine reelle Alternative als die Emigration blieb. Die Studie thematisiert in diesem Kontext die rücksichtslose Konfiskation und Verwertung sämtlicher in Deutschland verbliebener Eigentumswerte, privater Immobilien und des persönlichen Hab und Guts der Familie Tietz durch den NS-Staat und seine zahlreichen Helfershelfer.
An die vier Großkapitel über den Konzern zur Zeit des Nationalsozialismus schließen sich zwei Abschnitte an, die den Wiederaufbau und...
Erscheint lt. Verlag | 6.12.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 1920er Jahre • 1930er Jahre • 1950er Jahre • 2023 • "Arisierung" • eBooks • Entschädigung • georg karg • Hermann Tietz • hertie-konzern • jüdische kaufhausdynastie • kaufhauskultur • Neuerscheinung • Restitution • Unternehmensgeschichte • Warenhaus • Wiedergutmachung • Wirtschaft • Wirtschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-641-31188-8 / 3641311888 |
ISBN-13 | 978-3-641-31188-9 / 9783641311889 |
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