Schwestern (eBook)

Die Macht des weiblichen Kollektivs

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01752-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schwestern -  Julia Korbik
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Ob #metoo oder die Proteste im Iran: In den letzten Jahren gab es zahlreiche Anlässe, bei denen Frauen füreinander eintraten. Ein Prinzip, das schon die Feminist:innen der 1970er-Jahre propagierten - nicht umsonst lautete einer ihrer bekanntesten Slogans: Sisterhood is powerful! Aber Schwesterlichkeit ist mehr als Networking, mehr als weibliche Solidarität. Es ist eine politische Praxis. Julia Korbik setzt sich mit dem Prinzip der Schwesterlichkeit auseinander, will verstehen, wie sie aussehen kann - und was sie verhindert. Sie hinterfragt den Feminismus der letzten Jahre und erforscht dieses Thema anhand persönlicher Anekdoten, Beispiele aus Literatur, Popkultur, Geschichte und Gesellschaft inspirierend, nuanciert und neugierig.

Julia Korbik ist freie Journalistin und Autorin in Berlin. Bei Rowohlt erschien von ihr zuletzt Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten sowie die Graphic Novel Simone de Beauvoir. Ihre journalistischen Schwerpunkte sind Politik und Popkultur aus feministischer Sicht. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem Luise-Büchner-Preis für Publizistik ausgezeichnet.

Julia Korbik ist freie Journalistin und Autorin in Berlin. Bei Rowohlt erschien von ihr zuletzt Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten sowie die Graphic Novel Simone de Beauvoir. Ihre journalistischen Schwerpunkte sind Politik und Popkultur aus feministischer Sicht. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem Luise-Büchner-Preis für Publizistik ausgezeichnet.

Prolog Tücher


Das Theater war bis auf den letzten der rotsamtenen Plätze besetzt. Wohin man schaute: Frauen, Hunderte von Frauen, dazwischen nur verstreut ein paar Männer. Es war laut, die Stimmung euphorisch. Immer wieder brandete Applaus auf. Immer wieder hielten die vier Frauen vorne auf der Bühne inne, warteten gutmütig, bis es ruhiger wurde, und setzten dann ihr Gespräch fort. Schließlich nahmen eine Gitarristin und eine Sängerin den Platz auf der Bühne ein. Sie performten einen Song namens Queer Tango – und in den Rängen gab es kein Halten mehr: Der ganze Saal klatschte, sang und tanzte. Selbst nachdem das Duo die Bühne verlassen hatte und die Veranstaltung offiziell beendet war, blieben viele der Frauen auf ihren Plätzen oder bewegten sich nur sehr langsam Richtung Ausgang. Sie sangen weiter, offenbar ein Protestlied, sie reckten ihre Fäuste in die Höhe. Energisch, entschieden.

Von meinem Platz auf einem der oberen Ränge beobachtete ich das Geschehen. Der Gesang, der Applaus, sie verdichteten sich zu einer Atmosphäre, die so gesättigt war, dass ich meinte, sie mit den Händen fassen, in sie hineingreifen zu können. Ich war als Gast einer deutschen Kultureinrichtung nach Buenos Aires gereist, um dort auf einer Konferenz namens La asamblea de las mujeres (dt. Die Versammlung der Frauen) über Feminismus zu sprechen. Was für eine mitreißende Erfahrung: Die Argentinier:innen diskutierten leidenschaftlich und viel, jedes der zahlreichen Events war gut besucht, und das Ganze hatte etwas von einer Party. Die Abschlussveranstaltung im historischen Nationaltheater Cervantes brachte abends einige der bekanntesten Feminist:innen des Landes auf die Bühne.

Obwohl die Konferenz ein breit gefächertes Themenspektrum bot, überlagerte in diesem Frühjahr 2019 ein Thema alle anderen: der Kampf für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. 2018 hatte das argentinische Parlament eine Legalisierung noch abgelehnt, doch im Oktober 2019 standen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an – eine Chance, welche die Aktivist:innen der landesweiten Kampagne für ein Recht auf eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung nutzen wollten. Schon am ersten Tag der Konferenz hatte ich die grünen Tücher mit dem weiß aufgedruckten Kampagnennamen bemerkt, die viele der Teilnehmer:innen trugen. Als Halstuch, ums Handgelenk gewickelt, an der Handtasche befestigt. Auf den Straßen von Buenos Aires boten Verkäufer:innen diese und andere Tücher zum Verkauf. Für fast jeden politischen Geschmack war etwas dabei: Tücher, die den Einfluss der Kirche auf den Staat anprangerten, oder solche, die mit dem weißen Kopftuch bedruckt waren, dem Symbol der Madres de Plaza de Mayo – Mütter, deren Kinder während der argentinischen Militärdiktatur «verschwunden» waren und die sich nun dafür einsetzten, dass diese Phase der argentinischen Geschichte aufgearbeitet und ihrer Opfer gedacht wird.

Auch an diesem, dem letzten Abend der Frauenkonferenz waren die grünen Tücher omnipräsent und bildeten einen lebendigen Kontrast zum goldgediegenen Dekor des Theaters. Während sich der Saal unter uns leerte, tauschte ich begeisterte Blicke mit meiner Sitznachbarin, einer deutschen Feministin und Journalistin, die wie ich nach Buenos Aires eingeladen worden war. Später schwärmten wir unseren Gastgeber:innen gegenüber von der Veranstaltung: was für ein Zusammenhalt! Von den Argentinier:innen, das stand fest, konnten wir in Sachen feministischer Organisation und Solidarität noch einiges lernen. Unsere Begeisterung löste allgemeine Heiterkeit aus. Ein Mitarbeiter erklärte lachend, hinter den Kulissen sei von Zusammenhalt oft nicht viel zu spüren gewesen: Da weigerte sich die eine, mit der anderen in einer Diskussionsrunde zu sitzen, hatte diese jene mal öffentlich kritisiert und so weiter. Ich musste schmunzeln: Die argentinische ähnelte der deutschen feministischen Szene doch mehr, als ich gedacht hatte. Aber in Argentinien gab es eben auch ein großes gemeinsames Ziel – legale Abtreibung –, hinter dem sich die meisten Feminist:innen sammeln konnten und für das sie bereit waren, Unstimmigkeiten zumindest zeitweise hintanzustellen. Das sollte sich lohnen: Im Dezember 2020 wurden Schwangerschaftsabbrüche in Argentinien legalisiert.

Als ich am Ende meines Argentinien-Aufenthalts ins Flugzeug stieg, hatte ich nicht nur ein grünes Tuch im Gepäck, sondern auch verschiedene Überlegungen. Einige davon trug ich bereits seit einiger Zeit mit mir herum, aber bisher waren sie nicht mehr als Fragmente gewesen, Teile von etwas, dessen Form sich mir entzog. Nach Buenos Aires konnte ich die Form plötzlich klar erkennen: Schwesterlichkeit.

*

In Buenos Aires hatte ich gespürt, welche Energie und Macht entstehen kann, wenn Frauen, wenn Feminist:innen sich zusammentun und organisieren. Und doch war dieses feministische Wir längst nicht so geeint, wie es nach außen den Anschein erweckte. Was einerseits das Klischee bestätigt, Frauen im Allgemeinen und Feminist:innen im Besonderen würden immer nur streiten und seien sich bei so ziemlich gar nichts einig. Andererseits war das, was ich in Argentinien gesehen und erlebt hatte, real: dieses Gemeinschaftsgefühl, dieser feministische Zusammenhalt. Und ich habe es in den letzten Jahren auch bei anderen Gelegenheiten gespürt: beispielsweise bei #MeToo, dem Women’s March und bei den Protesten gegen § 219a StGB (ein Paragraf, der hierzulande sogenannte «Werbung» für Schwangerschaftsabbrüche verbot). Einer der bekanntesten Slogans der feministischen Bewegung der 1970er lautete Sisterhood is powerful!, und es gibt viele Beispiele, die das belegen. Die zeigen, was passiert, wenn Frauen sich zusammentun und solidarisch füreinander eintreten, wenn sie gemeinsam für ihre Anliegen kämpfen. Denn, das lehrt die Geschichte: Tun Frauen es nicht selbst, tut es im Zweifelsfall auch niemand anderes für sie.

Mir gefällt der Gedanke, dass Schwesterlichkeit mich mit anderen Frauen, anderen Feminist:innen verbindet, uns wie ein unsichtbarer Faden verknüpft. Aber dieser Gedanke kommt mir manchmal auch naiv und romantisch vor. Die feministische Bewegung ist so divers und heterogen – können wir da überhaupt von Schwesterlichkeit sprechen? Und wie kann diese aussehen? Welche Voraussetzungen benötigt sie? Darauf gibt es nicht nur eine Antwort, sondern viele Antworten. Und diese sind interessanter, aber auch komplizierter als oft und gerne zitierte Aussagen wie die der ehemaligen US-amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright: «Es gibt einen besonderen Platz in der Hölle für Frauen, die anderen Frauen nicht helfen.»[2] Ein solcher Spruch macht sich gut auf einem T-Shirt oder in einem Kalender, der Zitate von inspirierenden Frauen versammelt. Er ist schlagkräftig und einprägsam – aber er sagt uns nichts darüber, was genau das bedeuten soll: anderen Frauen zu «helfen» (für Albright war die Sache klar: Es bedeutet, Hillary Clinton zu wählen).

Schwesterlichkeit als Konzept ist heute etwas aus der Mode gekommen. Vielleicht, weil der Begriff vage esoterisch klingt und nach Frauen, die sich an den Händen fassen und im Kreis tanzen. Vielleicht, weil er so altmodisch wirkt, wie etwas, das besser zu älteren Generationen von Feminist:innen passt als zu heutigen. Für mich ist Schwesterlichkeit ein feministisches Konzept, das auch heute noch Potenzial besitzt. Das inspirieren kann und uns darüber nachdenken lässt, wie politische Solidarität unter Frauen trotz ihrer Verschiedenheiten möglich ist. Es ist kein abstraktes Konzept, keine organisierte Gemeinschaft – wie es der Begriff Schwesternschaft impliziert –, sondern eine lebendige, solidarische Praxis. Und eine optimistische, denn sie geht davon aus, dass die Welt besser, gerechter, gleichberechtigter werden kann, wenn Frauen Banden bilden.

*

Dieses Buch ist eher eine Erkundung als ein Manifest. Es geht mir weniger darum, alle Antworten zu haben – und mehr darum, die (hoffentlich) richtigen Fragen zu stellen. Vor allem Fragen nach dem feministischen Wir: ein Wir, das umstritten war und ist; das behauptet und eingefordert wird; das manchmal vereint und oft spaltet. Ich möchte zeigen, wie politische, wie feministische Schwesterlichkeit aussehen kann, Vorstellungen liefern, Bilder, Geschichten, Ideen. Ich möchte den Begriff der Schwesterlichkeit mit Leben und Farbe füllen.

Das Tuch hat heute einen Ehrenplatz in meiner Wohnung. Wenn ich am Schreibtisch sitze, befindet es sich genau in meinem Blickfeld: leuchtendes Grün, um eine Regalhalterung gewickelt. Eine Erinnerung, eine Inspiration. Erst nach meiner Rückkehr aus Argentinien fand ich heraus, dass der Name der Konferenz in Buenos Aires – La asamblea de las mujeres – auf eine klassische griechische Komödie von Aristophanes zurückgeht: In Die Weibervolksversammlung (auch: Frauen in der Volksversammlung) übernehmen Frauen in Athen die Macht. Was passiert? Natürlich nichts Gutes: Die Frauen legen Besitztümer und Gelder zusammen, beschließen gleiche Löhne für alle und etablieren die freie Liebe, bei der Frauen sich ihre Sexualpartner:innen aussuchen können. Diese sozialistische Utopie endet im Chaos, und es zeigt sich, dass Frauen, zumal in größeren Gruppen, nicht zu trauen ist. Zwar geht Aristophanes auch mit Männern nicht zimperlich um: Die Frauen beschließen ja nur deshalb, die Herrschaft in Athen zu übernehmen, weil die rein männliche Politik von Habsucht, Krieg und...

Erscheint lt. Verlag 30.1.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abtreibung • Alice Schwarzer • Befreiung • Debatte • Emanzipation • Empowerment • female empowerment • Feminismus • Feministische Theorie • Frauen • Frauenbewegung • Identität • Kübra Gümüsay • #metoo • Networking • Patriarchat • Revolution • Schwesternschaft • Selbsbewusstsein • Selbstbewusstsein • Sisterhood • Solidarität • Soziale Netzwerke • weibliche Solidarität • Zusammenhalt
ISBN-10 3-644-01752-2 / 3644017522
ISBN-13 978-3-644-01752-8 / 9783644017528
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