Deutschland ohne Dach (eBook)
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01593-7 (ISBN)
Richard Brox wurde 1964 in Mannheim geboren. Er kam früh, mit fünf, in das erste Heim und durchlief danach eine 'Heimkarriere', flüchtete vor sexuellen Übergriffen, verweigerte die Schule, galt als schwererziehbar. Nach einem Drogenentzug Mitte der 80er Jahre verbrachte er 30 Jahre auf der Straße. Derzeit lebt er in Köln. Sylvia Rizvi schreibt für Zeitungen, Zeitschriften und Fachpublikationen zur kulturellen und sozialen Teilhabe, ist Redakteurin von Sachbüchern zu sozialen Fragen und Co-Autorin des Sachbuchs 'Mein Schmerz trägt deinen Namen'. Sie lebt in Baden-Württemberg. Albrecht Kieser ist Journalist und Autor, unter anderem Mitautor von Richard Brox: Kein Dach über dem Leben; Schwerpunkte: Migration, Rassismus, Soziale Fragen. Mitarbeit bei work-watch. de und voelkermord-erinnern.de. Er lebt in Köln.
Richard Brox wurde 1964 in Mannheim geboren. Er kam früh, mit fünf, in das erste Heim und durchlief danach eine "Heimkarriere", flüchtete vor sexuellen Übergriffen, verweigerte die Schule, galt als schwererziehbar. Nach einem Drogenentzug Mitte der 80er Jahre verbrachte er 30 Jahre auf der Straße. Derzeit lebt er in Köln. Sylvia Rizvi schreibt für Zeitungen, Zeitschriften und Fachpublikationen zur kulturellen und sozialen Teilhabe, ist Redakteurin von Sachbüchern zu sozialen Fragen und Co-Autorin des Sachbuchs "Mein Schmerz trägt deinen Namen". Sie lebt in Baden-Württemberg. Albrecht Kieser ist Journalist und Autor, unter anderem Mitautor von Richard Brox: Kein Dach über dem Leben; Schwerpunkte: Migration, Rassismus, Soziale Fragen. Mitarbeit bei work-watch. de und voelkermord-erinnern.de. Er lebt in Köln.
Vorwort von Günter Wallraff
Die sichtbare Armut und ihre Förderer
Wir müssen über Obdach- und Wohnungslosigkeit dringend umdenken
«Heimatverlorene Geschöpfe» nennt Richard Brox sie: Menschen ohne sicheres Obdach. Vielen von ihnen begegnen wir beinahe täglich an ihren angestammten Plätzen, und doch scheinen sie für viele von uns wie eine eigene Spezies, mit der es kaum Berührungspunkte gibt oder geben soll. Die Leistung dieses Buches ist es, ihre Schicksale sichtbar und das Leben dieser Menschen nahbar zu machen.
«Andere aus dem Camp haben sich umgebracht, aufgehängt, sind in den Rhein gesprungen, haben sich vor einen Zug geworfen. Aus Perspektivlosigkeit, aus Verzweiflung. Ich habe das nicht gemacht, weil ich meiner Mutter versprochen habe, ich mache etwas aus meinem Leben», erzählt John in seinem Bericht. Selten habe ich eine so überzeugend-drastische Fluchtgeschichte gelesen wie die des jungen Nigerianers. Die Not trieb ihn durch die Wüste, die libysche Polizei sperrte ihn in Gefängnisse, die Hoffnung half ihm über das oftmals todbringende Mittelmeer, bis er schließlich in der gnadenlosen Bürokratie Deutschlands und in der Wohnungs- und Arbeitslosigkeit landet – ohne Chance, zu entkommen. Eine Bürokratie ohne Empathie, ohne Menschlichkeit.
Die Gefahr für einen Obdachlosen, eines gewaltsamen Todes zu sterben, ist hierzulande fünfzigmal höher als für andere Menschen. Die Lebenserwartung obdachloser Menschen liegt bei gerade mal 49 Jahren. Etwa 30 Jahre weniger als der Durchschnitt.
Doch statt mehr Zuwendung erfahren die Notleidenden immer häufiger Abwendung und Ausgrenzung. In der Nazi-Diktatur wurden Wohnungslose als so bezeichnete «Asoziale» registriert, in der Aktion «Arbeitsscheu» in Konzentrationslager gesperrt und dort mit besonderer Brutalität gequält. Viele der Opfer überlebten die Torturen nicht. Das Stigma «asozial» aber überdauert in vielen Köpfen hingegen bis heute und kommt im Neusprech mit verachtendem Dünkel als «Asi» oder «Penner» zum Ausdruck.
Dass in einem so reichen Land wie Deutschland die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen weiter steigt, passt zur Lage der Nation: Die Vermögensverteilung ist in Deutschland noch nie so ungerecht gewesen. Die untere Hälfte der Menschen – also 40 Millionen Menschen – besitzt gerade mal ein Prozent des wirtschaftlichen Gesamtvermögens. Das unterste Drittel ist nahezu mittellos oder hat Schulden. 45 hyperreiche Familien besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also 40 Millionen Menschen, Tendenz weiter steigend. Allein die zehn reichsten Deutschen haben mehr als 210 Milliarden Euro an Vermögenswerten abgegriffen und gebunkert, auch hier: Tendenz steigend. Reiche werden immer reicher, Arme immer zahlreicher – und das wird hingenommen wie ein Naturgesetz.
Doch nicht Naturgesetze, sondern ökonomische und politische Interessen treiben diese Entwicklung immer weiter voran. So bekämpft die herrschende Armutspolitik nicht vorrangig die Ursachen für Armut, sondern die Armen selbst: Kümmerliche Erhöhungen von Almosen, Schikanen weiterhin und die Weigerung, Armut als gesellschaftliches Problem und als Folge übergroßen Reichtums zu behandeln. Nicht nur während meiner Reportagen lernte ich Menschen kennen, die auf der Straße leben, manchmal in Nachtasylen unterkommen, die vom Betteln leben oder von dem einen oder anderen Gutschein von sozialen Organisationen – vielfach verachtete Menschen. Menschen, die auch Angst machen. Denn sie scheinen uns zu zeigen, was geschieht, wenn alle sozialen und familiären Netze reißen. In den Zeiten der Krise wächst die Angst vor dem sozialen Absturz. Das Kalkül hinter der Individualisierung der Armut: Sie hat, besonders die sichtbare auf der Straße, abschreckende Wirkung: gegen Rebellion und Aufbegehren, gegen Verweigerung und gegen Widerstand.
Die sichtbare Armut auf der Straße ist eng verbunden mit dem weniger sichtbaren Stillstand im Wohnungsbau. Wenn denn gebaut wird, liegt der Fokus meist auf Wohnungen für Gutverdiener oder überteuerten Luxusimmobilien, die für ärmere Menschen keinen Raum bieten und bieten sollen.
Mit einem kürzlich mal so eben bereitgestellten «Sondervermögen» von 100 Milliarden Euro wie dem für die Bundeswehr käme man sicher auch dem Recht auf Wohnen, verbrieft im Menschenrechtspakt der UNO, einen großen Schritt näher. Ein öffentlich finanziertes massives Neubauen ist unumgänglich, wenn das Wohnen nicht immer weiter der Profitmaximierung ausgeliefert werden soll. Auch der Zugriff der Kommunen auf Leerstand oder Spekulationsobjekte sollte Bestandteil einer ernsthaften Bekämpfung von Wohnungsnot und Armut sein. Doch Deutschland verpflichtet sich nicht einmal, das Menschenrecht auf Wohnen in den Katalog seiner Grundrechte aufzunehmen – anders als etwa Finnland, wo das Prinzip «Housing first» das Wohnrecht fast für alle garantiert. Auch Altersarmut macht sich in Deutschland viel schneller bemerkbar als in anderen Ländern, etwa Österreich, in dem die Durchschnittsrente um 55 Prozent höher liegt als hierzulande.
Die politischen Fehler im Wohnungsbau und in der Armutsbekämpfung lassen sich nicht individuell kompensieren und schon gar nicht beseitigen. Doch allzu oft ist es Taktik der Politik, sich mit der Individualisierung politischer Verantwortung aus der Kritik zu stehlen.
Doch auch individuelle Hilfe bleibt manchmal kompliziert: Bei mir in der Straße tauchte im letzten Winter ein Mann auf, der in der Nähe meiner Wohnung seine Matratze ausrollte und sich dort niederließ. Wir haben ihn mit Essen, Getränken, Decken und warmer Kleidung versorgt und Kontakt zu einer Notschlafstelle vermittelt. Dorthin wollte er allerdings keinesfalls. Nicht nur weil die Unterkunft verrufen ist. Er hatte auch Angst vor anderen Insassen und sogar vor den Sozialarbeitern, da er dort einmal negativ aufgefallen war. Nachdem er mir das erzählt hatte, habe ich ihn in eine andere Unterkunft vermittelt, in einem anderen Stadtteil. Aber auch von dort ist er nach einer Woche wieder verschwunden. Ich frage mich, ob ich nicht mehr hätte tun sollen oder müssen.
Mit Freunden, die sich immer wieder für Obdachlose einsetzen, habe ich kurz vor Weihnachten 2022 gemeinsam eine Kälte-Nacht vor dem Kölner Hauptbahnhof verbracht. Wenn wir zur Bahnhofs-Toilette mussten, sahen wir an vielen Stellen die Menschen wie hingeschmissen liegen, die nicht nur für eine Nacht aus der bürgerlichen Gesellschaft herausgerissen wurden. Ich kam mit einem Polen ins Gespräch, 12 Jahre war er hier als Billigarbeiter auf Baustellen verschlissen worden, bis Jüngere, «Unverbrauchte» seine Arbeit übernommen hatten. Er fror und wusste nicht, wohin. Ich bin mit ihm zu einem besseren Hotel in der Nähe gegangen, das ihn wegen seines Outfits normalerweise nicht aufgenommen hätte. An der Rezeption habe ich dann erklärt, dass mein Freund Schauspieler sei, der als «abgerissene Gestalt» in einem WDR-Tatort mitwirke und ich für eine Woche im Voraus sein Zimmer bezahle.
Was könnte gelingen, wenn in diesem Land eine den Menschen zugewandte Wohnungs- und Armutspolitik betrieben würde? Nicht alle Verantwortung lässt sich an staatliche Institutionen abschieben. Insofern trifft zu, dass jeder Einzelne, wir alle gefordert sind. Wir müssen hinschauen. Wir müssen von Gleich zu Gleich Kontakt aufnehmen. Auch dann, wenn uns unsere Nachbarn oder deren Verhalten vielleicht gerade befremdlich erscheinen.
Obdachlosigkeit kann jeden treffen. Sozialer Stand oder gute Bildung sind kein umfassender Schutz. Während meiner Zeit unter Obdachlosen lernte ich jemanden kennen, der in seinem früheren Leben ehrenamtlich für die Tafel tätig gewesen war; jetzt hauste er am Aachener Weiher, einer Parkanlage inmitten der Stadt, und war nicht einmal mehr in der Lage, sich selbst bei der Kölner Tafel zu versorgen. Ein anderer hatte einst als Kleinunternehmer gut verdient und stand mit beiden Beinen im Leben. Ihm hatte der Unfalltod seiner Frau und seiner beiden Kinder den Halt unter den Füßen weggezogen. Häufiger Grund für den Absturz in die Obdachlosigkeit ist eine Scheidung und/oder Verlassenwerden, sind Schuldenlasten bis hin zur Zwangsräumung.
Oft genügt ein Schicksalsschlag, eine Verkettung tragischer Umstände, die einen um Arbeit und Lohn bringt und damit der Fähigkeit beraubt, die Miete zu bezahlen, die von Behörden als unangemessen eingestuft und deshalb nicht übernommen wird. Betroffenen stellt man ein Ultimatum, bis wann sie in eine neue, preiswertere Wohnung umziehen müssen. Dass es gerade in Städten viel zu wenig und noch viel seltener preiswerten Wohnraum gibt, wird dabei bürokratisch-gefühllos ignoriert. Ohne Wohnungsnachweis keine Arbeitsstelle, ohne Nachweis eines Arbeitsplatzes keine Wohnung! So landen viele in Notunterkünften, was den Absturz in aller Regel noch beschleunigt, oder direkt auf der Straße oder – vielleicht vorher noch – wenn sie Glück haben, auf dem Sofa von Bekannten.
Diese Menschen haben keine Lobby, haben niemanden, der sich für sie interessiert. Man könnte sicher vielen zu einem anderen, selbstbestimmteren Leben verhelfen, davon bin ich überzeugt. Aber nur wenn man den Einzelnen und sein jeweiliges Problem ernst nimmt.
Ich habe mich zuletzt vor einigen Jahren wieder für eine längere Zeit mit meinem Schlafsack zu denen gelegt, die draußen kampieren müssen, habe mich in Notunterkünfte einquartiert, um die dortigen unerträglichen Zustände am eigenen Leib zu erfahren. Meine Erlebnisse habe ich erneut aufgeschrieben....
Erscheint lt. Verlag | 14.11.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alkohol • Armut • Bahnhofsmission • Berichte • Biografien • Bürgergeld • Christiane F. • Dominik Bloh • Drogen • Drogenabhängigkeit • Drogenprobleme • Gesellschaft • Günter Wallraff • Housing First • Kein Dach über dem Leben • Leben in Deutschland • Memoiren • Obdachlosenhilfe • Obdachlosigkeit • Platte • Richard Brox Buch • Sachbuch • Straße • Streetworker • Unter Palmen aus Stahl • Ursachen von Obdachlosigkeit • Verelendung • Winternotprogramm • Wohnungslos • Wohnungslosigkeit |
ISBN-10 | 3-644-01593-7 / 3644015937 |
ISBN-13 | 978-3-644-01593-7 / 9783644015937 |
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