Verkehrungen ins Gegenteil (eBook)

Über Subversion als Machttechnik

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
187 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0567-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verkehrungen ins Gegenteil -  Sylvia Sasse
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Spätestens seitdem ein faschistisch agierendes politisches System einen Krieg mittels »Entnazifizierung« rechtfertigt, ist klar: Verkehrungen ins Gegenteil sind eine allgegenwärtige Machttechnik. Doch nicht erst mit Putins autokratischem Regime, nicht erst durch Verschwörungstheorien oder Trumps Versuch, Fakten konsequent als Lüge zu deuten, können wir Verkehrungen beobachten. Wie Sylvia Sasse mit berückendem Blick nachweist, ist die Geschichte vielmehr voll von politischen wie medialen Strategien zur Erschaffung verkehrter Welten - und die Verkehrung ins Gegenteil ein direkter Angriff auf Differenz und Demokratie.

Sylvia Sasse ist Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft und Mitbegründerin des Zentrums Künste und Kulturtheorie (ZKK) an der Universität Zürich sowie Herausgeberin des Onlinemagazins Geschichte der Gegenwart. Aktuell forscht sie zum Verhältnis von Künsten und Desinformation im Kalten Krieg und in der Gegenwart. Ihre Forschung führt sie regelmäßig in die ehemaligen Geheimdienstarchive Osteuropas. Gemeinsam mit Inke Arns und Kata Krasznahorkai kuratierte sie am HMKV Dortmund eine Ausstellung über »Artists & Agents. Performancekunst und Geheimdienste«, die 2020 von der deutschen Sektion des Internationalen Kunstkritikerverbands (AICA) als »Ausstellung des Jahres« ausgezeichnet wurde.

Sylvia Sasse ist Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft und Mitbegründerin des Zentrums Künste und Kulturtheorie (ZKK) an der Universität Zürich sowie Herausgeberin des Onlinemagazins Geschichte der Gegenwart. Aktuell forscht sie zum Verhältnis von Künsten und Desinformation im Kalten Krieg und in der Gegenwart. Ihre Forschung führt sie regelmäßig in die ehemaligen Geheimdienstarchive Osteuropas. Gemeinsam mit Inke Arns und Kata Krasznahorkai kuratierte sie am HMKV Dortmund eine Ausstellung über »Artists & Agents. Performancekunst und Geheimdienste«, die 2020 von der deutschen Sektion des Internationalen Kunstkritikerverbands (AICA) als »Ausstellung des Jahres« ausgezeichnet wurde.

2. Subversion von ›oben‹


Schon George Orwell hatte in 1984 Verkehrungen ins Gegenteil als zentrale Propagandastrategie des von ihm beschriebenen totalitären Systems dargestellt. Anders jedoch als in unserer heutigen Gegenwart verbirgt die »innere Partei«, die den von Orwell erfundenen Staat regiert, diese Strategie nicht, sondern stellt sie regelrecht aus. Die berühmten Losungen am Ministerium für Wahrheit, einem »riesigen, pyramidalen Gebilde aus schimmernd-weißem Beton, das, Terrasse auf Terrasse, dreihundert Meter hoch in die Luft stieg«, sind schon von Weitem zu erkennen: »Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Ignoranz ist Stärke!«1 Auch wenn es nicht die gleichen Begriffe sind, so ist es doch ein ähnliches rhetorisches Prinzip, das sich in den radikalen Verkehrungen von Trump und Putin wiederfinden lässt: Fakten sind Fake News, Autokratie ist Dissidenz, Kritik ist Zensur. Der Spin, also der Dreh, der hier passiert, ist nicht nur irgendein Dreh, sondern die Drehung selbst: die konsequente Verkehrung ins Gegenteil.

Aber nicht alle drei orwellschen Begriffspaare funktionieren nach diesem Prinzip. Und es wird, auch wenn das auf den ersten Blick so scheinen mag, bei Orwell gar nichts verkehrt, vielmehr wird das Gegenteil aufgehoben: Krieg ist Frieden. Anstelle binärer Oppositionen nimmt das erste Wort – durch das »ist« – die Bedeutung des Gegenteils an. In 1984 wird deshalb – über den Slogan am Ministerium hinaus – aus dem Altsprech, der Sprache der überholten Gesellschaft, ein Neusprech. Während im Altsprech zu jedem Adjektiv noch ein entsprechendes Gegenteil existierte, wird im »Neusprech« jedes Gegenteil durch ein vorangestelltes »un-« gebildet. So lautet das Gegenteil von gut un-gut und von warm unwarm. Dadurch verschwindet zwar nicht die binäre Logik, dafür aber die Wörter, die das Andere bezeichneten – die binäre Logik gedeiht, obwohl die Gegenteile (kalt, schlecht) verschwinden.

Verkehrungen, so zeigt es dieses literarische Beispiel, verdrehen Bedeutungen, löschen sie aus und zwingen in binäres Denken hinein, selbst dann, wenn es am Gegenstück mangelt. Denn während Krieg das Gegenteil von Frieden ist und Freiheit dasjenige von Sklaverei, ist Ignoranz nicht das Gegenteil von Stärke. Doch im Rhythmus des Slogans fällt es fast schon nicht mehr auf, dass hier keine Verkehrung, sondern eine semantische Verschiebung stattfindet. Die Verkehrung ins Gegenteil, wir werden das noch beobachten, verkehrt nicht nur, indem sie unterschiedliche Dinge auf eine Stufe stellt, sie versucht auch dort Oppositionen herzustellen, wo gar keine sind.

Orwell gibt uns die Verkehrung ins Gegenteil als eine diktatorische politische Praxis zu lesen, als eine Subversion von ›oben‹. Es ist der Staat, das Zentrum der Macht, der seine Handlungen durch Verkehrungen legitimiert. Als solche können wir die Verkehrung ins Gegenteil auch bei Stalin und jetzt bei Putin beobachten. Und auch Trump wollte an der Macht bleiben, indem er die Ergebnisse der Wahl konsequent als Sieg und nicht als Niederlage interpretierte, sogar der Sturm auf das Kapitol war kein Sturm ›von unten‹, er sollte die vorherige Macht nicht stürzen, sondern ganz im Gegenteil aufrechterhalten.

Die gesellschaftliche Praxis solcher Verkehrungen reicht weit in die Geschichte zurück und ist in der Kulturtheorie ganz unterschiedlich interpretiert worden. Zunächst sind da die Verkehrungsrituale, die historisch zum Standardrepertoire von sogenannten Verkehrungsfesten gehören: Fastnacht beziehungsweise Karneval, aber auch Weihnachten, Knabenbischofs- und Narrenfeste.2 Es war vor allem der russische Philosoph und Kulturtheoretiker Michail M. Bachtin, der mit dem Begriff der ›Karnevalisierung‹ die Debatte um die Verkehrungen im 20. Jahrhundert prägte. Für Bachtin war die Verkehrung Teil der volkstümlichen Lachkultur des Mittelalters, die zu einer bestimmten Auszeit, zur Zeit des Karnevals, die Welt und deren Machtverhältnisse auf den Kopf stellte. Für ihn war sie Merkmal einer Subversion von ›unten‹: Aus dem Pleb wird ein König, aus dem Unterleib der Kopf, aus dem obszönen Schimpfwort ein feierliches Lob – und umgekehrt.

In Rabelais und seine Welt schreibt Bachtin, dass die Karnevalsrede einer eigenen »Logik der ›Umkehrung‹« folge, – »à l’envers«3, der Logik des »Gegenteils«, des »Auf-den-Kopf-Stellens«, der Logik der ständigen Vertauschung von oben und unten. Charakteristische Ausdrucksformen dieser Verkehrung sind die verschiedensten Varianten von Parodie und Travestie, Degradierung und Profanierung, närrischer Krönung und Entthronung. Das andere Leben, die andere Welt der Volkskultur, formiert sich in gewissem Maße als Parodie auf das gewöhnliche, nichtkarnevaleske Leben, als »verkehrte Welt«.4 Bachtin unterstreicht dabei, dass diese verkehrte Welt jedoch kein Theater sei, bei dem es Zuschauer und eine Rampe gebe. Vielmehr erfasse diese verkehrte Welt das gesamte Leben und das gesamte Volk, niemand stehe außerhalb, niemand sei Zuschauer, alle seien Teilnehmer.

Da Bachtin, der 1929 in der Sowjetunion an die kasachische Grenze verbannt wurde, selbst in einem totalitären System marginalisiert und mit dem Tod bedroht wurde, war es naheliegend, seine Thesen auch als politische Allusion, als subversive Geste innerhalb der inoffiziellen sowjetischen Theorie zu deuten, ist doch die Subversion, etymologisch abgeleitet aus sub- (unter) und vertere (kehren, wenden, drehen), für Bachtin stets mit der Karnevalisierung selbst verbunden. Sie lässt an eine Wendung von unten denken, an eine Umwendung, die – für kurze Zeit – das, was für gewöhnlich ganz unten in der politischen oder kulturellen Hierarchie ist, verkehrt und kurzzeitig zu Macht verhilft. Bachtin schrieb an seiner Theorie zunächst in der Verbannung in den 1930er-Jahren, später dann wollte er sich mit diesen Thesen habilitieren, was in der Sowjetunion am ›Widerstand von oben‹ scheiterte. Denn für die verordnete enthusiastische Volksfröhlichkeit der Sowjetunion, die den Terror überstrahlen sollte, war Bachtins subversives Konzept eines karnevalesken Volkslachens und die damit verbundene Verkehrung der Hierarchien eine ideologisch völlig unpassende und gefährliche Theorie, schließlich war die Revolution längst erledigt, das ›Volk‹ bereits ›oben‹ und jede weitere Subversion konnte nur als Konterrevolution gelesen werden. Hinzu kam, dass Bachtin immer wieder betonte, dass die Verkehrung und das damit verbundene Verlachen der Hierarchien ein Sieg über die Angst sei. Eine staatliche Gutachterin seines Buches sprach deshalb verächtlich davon, dass Bachtin das Volk verhöhne, weil er dessen intellektuelles Schaffen nur »als körperliches Unten« verstehe.5

Als Machttechnik hatte Bachtin die Praxis der Verkehrung nicht im Blick. Dafür haben ihn auch viele Mittelalterhistorikerinnen und Altphilologen scharf kritisiert. Für sie war historisch evident, dass der Karneval nicht der Kritik an Hierarchien diente, sondern deren Aufrechterhaltung zuarbeitete. Der Altphilologe und Byzantinist Sergej Averincev bezeichnete Bachtins Entwurf einer subversiven Lachkultur des Volkes deshalb als bloße Utopie.6 »Letzten Endes«, so schreibt der Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie in seiner Studie zum Karneval sogar, »ist die Verkehrte Welt gegenrevolutionär«.7 Damit wird im Grunde Bachtins Theorie selbst verkehrt, um zu zeigen, dass sie die Festigung von Herrschaft als Befreiung von dieser interpretiere.

In dieser kritischen Rezeption von Bachtins Theorie werden Konzepte aufgegriffen, die – wie etwa in den anthropologischen Studien von Victor Turner – Verkehrungsrituale als kontrollierte Ausnahme oder als befristete Subversion deuten. Turner schrieb, dass die Verkehrungsriten den Zweck hätten, Struktur zeitweise in Communitas zu verwandeln, aber mit dem Ziel, Hierarchien und Ordnungen zu festigen:

Kognitiv betrachtet, unterstreicht nichts die Ordnung so sehr, wie ihre zeitweilige Außerkraftsetzung. Emotional befriedigt nichts so sehr wie extravagantes oder vorübergehend gestattetes Verhalten. Rituale der Statusumkehr umfassen beide Aspekte. Indem sie die Niedrigen erhöhen und die Hohen erniedrigen, bestätigen sie das hierarchische Prinzip. Indem sie die Niedrigen das Verhalten der Hohen (manchmal bis zur Karikatur) nachahmen lassen und die Initiativen der Stolzen bremsen, unterstreichen sie die Vernünftigkeit des kulturell vorhersehbaren Alltagsverhaltens der verschiedenen Gruppen der Gesellschaft.8

Die Verkehrung erhalte, mit anderen Worten, das hierarchische Denken und damit auch das Denken in Gegensätzen aufrecht. Karneval und dessen Prinzip der Verkehrung hätten Turner zufolge für die Gesellschaft, zeitlich begrenzt und kalendarisch vorgegeben, Ventilfunktion (»Ventilsitte«). Dabei werde Subversion beziehungsweise Widerstand selbst zum Scherz, zum erlaubten,...

Erscheint lt. Verlag 30.3.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Autoritarismus • Donald Trump • Fake News • Halbwahrheiten • Ivan der Schreckliche • Michail Bachtin • Subversion • Wladimir Putin
ISBN-10 3-7518-0567-2 / 3751805672
ISBN-13 978-3-7518-0567-4 / 9783751805674
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