Aufhören können (eBook)
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-3452-4 (ISBN)
Jean-Pierre Wils, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Theologie in Leuven/Belgien und Tü-bingen. Seit 1996 ist er Ordinarius für Christliche Ethik, seit 2010 Ordinarius für Soziale, politische und Kulturphilosophie, seit 2015 Ordinarius für Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Universität Nijmegen Niederlande. Wils veröffentlichte zahlreiche Publikationen und war, jahrelang Mitherausgeber der Zeitschrift 'Ethik und Unterricht' und Herausgeber der Essayreihe 'Disput'. Seit 2021 fungiert er als Herausgeber der 'Scheidewege. Schriften für Skepsis und Kritik'. Im Hirzel Verlag erschienen von ihm 'Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?' und 'Der Große Riss. Wie unsere Gesellschafts auseinanderdriftet und was wir dagegen tun können'.
»Wir haben keine Anfänge mehr.«1 Mit diesem klipp und klaren Satz eröffnet George Steiner sein kurz nach der Jahrtausendwende erschienenes Buch »Grammatik der Schöpfung«, und er nimmt »im geistigen Klima am Ende des 20. Jahrhunderts eine Müdigkeit im Kern« wahr: »Wir sind Spätlinge oder fühlen uns als solche. Das Geschirr wird abgeräumt. ›Feierabend, die Herrschaften‹.«2 Diese wenigen Sätze lesen sich wie ein Abgesang auf die Tatkraft, die Fantasie, die geistige Regsamkeit und die Abenteuerlust, derer es bedürfte, um einen Aufbruch, einen Anfang zu wagen. So als hätten wir Raubbau nicht nur an der Natur betrieben, die vor unseren Augen kollabiert und unter unseren Händen wegstirbt, sondern auch an den Kräften unserer Selbsterneuerung und hätten nun der Übermüdung und dem Niedergang nichts mehr entgegenzusetzen. Der französische Philosoph Rémy Brague vermutet, dass dieser Zustand der Antriebsschwäche, ja, Lähmung die Folge eines »Parasitismus der Moderne« ist. »So frage ich mich«, schreibt er, »als reine Hypothese, oder als ein Alptraum, von dem ich gerne loskommen würde: Wie, wenn das, was wir Moderne nennen, nichts anderes wäre als die Verschwendung einer geistigen Kraft, die in früheren Epochen gespeichert worden ist? Etwa so wie wir auf dem Gebiet der materiellen Zivilisation seit ungefähr zwei Jahrhunderten die fossile Energie systematisch verbrauchen. … Ist … (die Moderne) imstande, ihre eigenen Daseinsbedingungen wiederherzustellen? Kann man nicht sagen, daß diese Kultur nie aufhört, ihre Grundlagen zu zerstören? Ist es nicht der Fall, dass sie sich irgendwo anders die Werte ausleihen muß, die ihr erlauben weiterzubestehen? So wäre die Moderne ein Fall von Parasitismus.«3 Die parasitäre Lebensweise ist eine Zeit lang sehr komfortabel, aber auf lange Sicht ruinös. Der Parasit lebt dreist auf Kosten seines Wirtes, ohne die Rechnung zu bezahlen. Solange der ihn unter Zwang gewähren lässt, saugt er ihn aus. Sein Wohlleben lässt ihn seine Angewiesenheit vergessen. Und wenn der Wirt schließlich unter der ihm zugemuteten Last zusammenbricht, findet sich der Parasit auf einer Leiche hockend vor und ist selbst, aller eigenen Daseinsmächtigkeit beraubt oder entwöhnt, dem Untergang geweiht.
Das ›Wir‹, dem George Steiner die zunehmende geistige Ermattung nachsagt, bleibt unbestimmt. Von wem spricht er, wenn er sich in dieses ›Wir‹ einschließt? So viel ist gesagt: Es sind die Menschen, die sich in der Endphase des zwanzigsten Jahrhunderts und im Übergang ins dritte Jahrtausend – nach unserer weltweit durchgesetzten Zeitrechnung – vorfinden. Rémy Brague ist deutlicher. Er spricht von der ›Moderne‹, die das kulturelle Erbe des ›alten Europa‹ verjuxt, ein Erbe, das sich aus der antiken, der jüdisch-christlichen und der arabischen Tradition speiste. Die Moderne ist also eine Ausgeburt dieser begrenzten westlich-abendländischen Tradition. Es war aber ihr Ehrgeiz, sich den ganzen Erdenkreis anzuverwandeln: »Wie im Westen, so auf Erden.«4 Das ›Wir‹ des modernen Westens war ein kolonisierendes ›Wir‹, das alle anderen real existierenden ›Wire‹ für modernisierungsbedürftig erklärte und für ausbeutbar. In diesem Bestreben, sich zu globalisieren, sich weltweit Geltung zu verschaffen, hat die westliche Moderne es weit gebracht. Bis zu dem Punkt, an dem die anderen ›Wire‹, aus deren Kraft sie schöpfte, selbst erschöpft waren, ihre Eigen-Art nicht behaupten konnten und bedürftig wurden. Sie kamen uns Westlern als Gegenüber, durch das wir inspiriert, herausgefordert, verunsichert und begrenzt – vor allem das – werden konnten, abhanden. Ivan Illich führt uns eine imaginierte Tischrunde vor von lauter ernstlich mit der Sinnsuche beschäftigten modernen westlichen Menschen und beschreibt diese als emotionale Klienten der einen oder anderen jener Importfirmen, die allerlei Religionen aus fremden Orten und anderen Zeiten im Angebot haben. »Ich hätte also über einen Tisch hinweg zu sprechen«, sagt er, »der voll ist von Nirvana, Zen, Sufi, Johannes vom Kreuz und Don Juan the Yaki«. Lauter erhaschte Versatzstücke fremder Kulturen, die im spirituellen Warenkatalog von Dienstleistern verhökert werden und die die eigene Leere kompensieren sollen. Illich fühlt sich dabei erinnert an vom Aussterben bedrohte Insekten, die noch rasch in Kunstharz eingeschweißt werden, bevor sie ganz verschwinden.5 Und das Absurde dabei ist, dass wir uns Rettung von dem erhoffen, was wir ausgelöscht haben, und es ein zweites Mal auslöschen, indem wir es uns als Devotionalie aneignen, statt es zu betrauern.
Des Pudels Kern
Was aber ist des Pudels Kern dieser Moderne, die solche selbstzerstörerische Dynamik freisetzt? Ivan Illich hat das, was sie absichtsvoll hervorbringt, das »technogene Milieu« genannt. Das technogene Milieu entsteht aus dem Bestreben, eine Zweite Natur herzustellen, die der vorgefundenen Ersten Natur in jeder Hinsicht überlegen sein soll und in der es schließlich nichts mehr gibt, was nicht vom Menschen veranlasst ist, nicht einmal das Wetter und nicht einmal Geburt und Tod. Vom Menschen? Nicht von Menschen?
Ja tatsächlich. Der Mensch als ideelles Gesamtsubjekt ist der Täter. Solange wir von Menschen reden, haben wir es mit Einzelwesen in ihrer unendlichen Verschiedenheit zu tun.
Ein vielfältiges Gewusel, das nicht dazu taugt, ein allgültiges und alles umfassendes Milieu zu installieren. Dazu bedarf es des Menschen, der nur als Konstrukt, als Prototyp, nicht aber im wirklichen Leben existiert und mit einer Autorität ausgestattet ist, der sich die Menschen dann ›freiwillig‹ unterwerfen.
Diese Zweite Natur ist eine Kampfansage an jedwede Überraschung, an alles Unvorhersehbare, Schicksalhafte, an jede Unwägbarkeit, die durch Planung, Kontrolle und Know-how, wenn nicht ausgeschlossen werden können, so doch fortlaufend minimiert werden sollen. Das ist ein Projekt, das seiner Unerfüllbarkeit wegen ad infinitum fortgesetzt werden kann, der Wachstumsmotor schlechthin. Im technogenen Milieu ist aber die Technik nur eine von vier treibenden Kräften, wenn auch wohl die dominante. Wir kritischen Betrachter unserer Gegenwart haben uns daran gewöhnt, die Ökonomisierung aller Verhältnisse zu beklagen und anzuklagen. Aber wir sind weit davon entfernt, uns durch die Technisierung aller Verhältnisse beunruhigen zu lassen. Den Kapitalismus darf man in unseren Kreisen getrost unhaltbar nennen, die in den letzten Winkel unseres Daseins dringende Digitalisierung ist sakrosankt und wird bedenkenlos und mit viel Zustimmung vorangetrieben, mit der Folge eines unerhörten Wirklichkeitsschwundes. Die andern beiden tragenden Säulen sind die Naturwissenschaft und die Bürokratie. Die Naturwissenschaft hat sich selbst – und wurde – mehr und mehr als angewandte Naturwissenschaft in den Dienst von ›la technique‹ (Jacques Ellul) gestellt;6 und die Bürokratie schließlich entpersönlicht und institutionalisiert alle sozialen Belange und verwandelt sie in Verfahrenstechniken. Ich habe diese vier treibenden Kräfte an anderer Stelle mit den vier apokalyptischen Reitern des Mittelalters verglichen.7 Aber ist es nicht anachronistisch, in einem Rundumschlag Naturwissenschaft, Technik, Ökonomie und Bürokratie zu verteufeln als Unheilsbringer? Was sie so gefährlich macht, ist der Monopolanspruch, den sie nicht nur erheben, sondern längst durchgesetzt haben. Der Naturwissenschaft fällt das Weltdeutungsmonopol zu; sie verweist alle nicht naturwissenschaftliche Welterklärung in das Reich des Aberglaubens und der Unvernunft. Die Technik maßt sich das Weltgestaltungsmonopol an und sieht gesellschaftlichen Wandel nur als technische Innovation vor. Die Ökonomie behauptet das Weltverteilungsmonopol und die Bürokratie das Weltregelungsmonopol. In ihrem Zusammenwirken haben diese apokalyptischen Vier das Zeug, die Welteinheitskultur zu schaffen, die Ivan Illich ›technogenes Milieu‹, Rémy Brague ›parasitär‹, Jacques Ellul ›la technique‹, Erich Fromm ›Nekrophilie‹8 und Vandana Shiva ›Monokulktur des Denkens‹9 nannten. Eine Monokultur, die auch das Trachten, das Fühlen, das Wahrnehmen und die Gesinnungen und Haltungen erfasst; eine Welt, die dem Faszinosum des Maschinellen erlegen ist, vor dem die Menschen, beschämt durch die überragende »Qualität der selbst gemachten Dinge« ehrfurchtsvoll in die Knie gehen und ihre eigene Antiquiertheit resigniert anerkennen. Das technogene Milieu entspringt einer Ingenieursgesinnung, die von keinerlei Poesie angekränkelt ihre selbst gesetzten Zwecke verfolgt und sich nicht irritieren lässt von der von Günther Anders schon 1956 diagnostizierten Unfähigkeit der Menschen, »seelisch ›up to date‹ (zu sein), auf dem Laufenden unserer Produktion zu bleiben, also in dem Verwandlungstempo, das wir unseren Produkten selbst mitteilen, auch selbst mitlaufen zu können…«.10 Es sollte eine Welt geschaffen werden, in der »es kommt, wie man denkt, weil man kann, was man will«.11 Selbst das ist heute nicht mehr ›up to date‹. Vielmehr geht es längst darum, die störanfälligen Menschen aus dem Hochbetrieb des Apparates ganz herauszuhalten und immer mehr Funktionen an ›intelligente‹ Gerätschaften zu delegieren; eine selbstgängige Maschinerie zu kreieren: vom schrittweisen...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aufhören • Aufhören können • Beschleunigung • Besitz • die Kunst des Aufhörens • Fortschritt • Fortschrittszweifel • Gegenwartsanalyse • genug • Gesellschaft • Grenzüberschreitung • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Kontroverse • Nachhaltigkeit • Reichweitenvergrößerung • Richtungswechsel • Unzufriedenheit • Verzicht • weiterdenken • Zufriedenheit • Zukunft |
ISBN-10 | 3-7776-3452-2 / 3777634522 |
ISBN-13 | 978-3-7776-3452-4 / 9783777634524 |
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Größe: 13,3 MB
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