Sozialpolitik und Soziale Arbeit im Mehrebenensystem von Kommune, Staat und Suprastaat -

Sozialpolitik und Soziale Arbeit im Mehrebenensystem von Kommune, Staat und Suprastaat (eBook)

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2023 | 1. Auflage
178 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-7553-3 (ISBN)
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Soziale Arbeit entwickelte sich als Teil der kommunalen Armenfürsorge, die zugleich Keimzelle der Sozialpolitik war. Mit dem enormen Ausbau sozialer Sicherung in den letzten beiden Jahrhunderten ist Soziale Arbeit nunmehr ein kleineres - aber gleichwohl höchst bedeutsames - Element im komplexen Mehrebenensystem kommunaler, staatlicher und suprastaatlicher Sozialpolitik. Dieser Band stellt die heutigen Strukturen mit ihrer jeweiligen Relevanz für die Soziale Arbeit dar.

Peter Hammerschmidt, Jg. 1963, Dr. phil. habil. Dipl.-Päd., Dipl. Soz.-Päd. (FH), Prof. für Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Hochschule München, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften. Jutta Schröten, Prof. Dr., ist Professorin für Sozialpolitik und Soziale Ökonomie an der Hochschule München. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Finanzierung Sozialer Arbeit, Ökonomie, Fundraising, Organisation und Management Sozialer Arbeit sowie Organisationsentwicklung. Gerd Stecklina, Prof. Dr., Diplom-Pädagoge, lehrt an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München.

Theorien des Sozialstaats


Lutz Leisering

„Die Freiheit ist erst eine wirkliche in dem, der die Bedingungen derselben, die materiellen und geistigen Güter als die Voraussetzungen der Selbstbestimmung, besitzt.“

(Lorenz von Stein (1850/1921), Bd. 3, S. 104)

Abstract. Der Beitrag stellt Theorien des Sozialstaats dar in Hinblick auf mehrere Aspekte, die in der Literatur meist getrennt behandelt werden: gesellschaftsgeschichtlicher Ursprung, Ursachen, Folgen und definierende Merkmale des Sozialstaats, ergänzt um Überlegungen zu seiner Zukunft. Das Fazit ist, dass Sozialstaatlichkeit voraussetzungsvoll, folgenreich und normativ unbestimmt ist.

1.Einleitung: Theoretisierung des Sozialstaats


Staatliche Sozialpolitik begann im 19. Jahrhundert, mit noch früheren Vorläufern, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg verdichteten sich sozialpolitische Maßnahmen vollends zu der gesellschaftsprägenden Konfiguration „Wohlfahrtsstaat“. Dieses neue Strukturelement von Gesellschaft wurde bald theoretisiert. Die dreißig Jahre zwischen 1970 und 2000 waren die Plateauphase der Theorien des Wohlfahrtsstaates. In der Vielfalt dieser Theorien sind zwei große Stränge unterscheidbar: marxistisch und politökonomisch grundierte Theorien, die den Wohlfahrtsstaat als Antwort auf Probleme kapitalistischer Entwicklung sehen, und pluralistisch grundierte soziologische Analysen, die den Wohlfahrtsstaat umfassender als Antwort auf Probleme gesellschaftlicher Modernisierung verstehen.

Zur Terminologie: ich benutze in diesem Kapitel die Ausdrücke „Sozialstaat“ und „Wohlfahrtsstaat“ synonym. „Wohlfahrtsstaat“ ist der international übliche Terminus, während der Ausdruck „Sozialstaat“ in deutschen Diskursen bevorzugt wird, gedeckt durch die Sozialstaatsklausel im Grundgesetz.

Theorien des Wohlfahrtsstaats beziehen sich im Allgemeinen nur auf Teilaspekte des Wohlfahrtsstaats. Da es kaum übergreifende Theorien gibt, stelle ich diverse unverbundene Theoriestücke zusammen, wie es bisher noch nicht getan worden ist. Dabei versuche ich, die Theoriestücke aufeinander zu beziehen und zusammenzuweben, als Schritt zu einer einheitlichen Theorie des Wohlfahrtsstaats. Die im Folgenden dargestellten Theoriestücke beziehen sich auf den geschichtlichen Ursprung des Wohlfahrtsstaats (Abschnitt 2), auf seine Ursachen (Abschnitt 3), seine Folgen (Abschnitt 4) und auf die Frage, was der Wohlfahrtsstaat eigentlich „ist“ (Abschnitt 5) (Abb. 1). Es folgt ein Fazit (Abschnitt 6) und ein Ausblick auf die Zukunft des Wohlfahrtsstaats (Abschnitt 7).

Abb. 1: Ein einfaches Schema für die Analyse von Wohlfahrtsstaaten

(Quelle: Eigene Darstellung)

2.Der geschichtliche Ursprung des Wohlfahrtsstaats: desintegrative Tendenzen der modernen Gesellschaft


Die zwei Väter der Theorie des Wohlfahrtsstaats sind Lorenz von Stein (1815–1890), der in seinem Hauptwerk „Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage“ (1921 [zuerst 1850]) eine Entwicklung der von der Französischen Revolution ausgerufenen „staatsbürgerlichen Gesellschaft“ zur „sozialen Demokratie“ postulierte, und Thomas Humphrey Marshall (1893–1981), der in seinem großen Essay Citizenship and Social Class (1950, deutsch 1992) soziale Rechte als historische Vollendung des Staatsbürgerstatus und Schaffung eines Wohlfahrtsstaats analysierte. Zwischen beiden Veröffentlichungen liegen genau 100 Jahre, aber die Analysen ähneln sich in wesentlichen Elementen. Während Marshall international als Pate der Wohlfahrtsstaatstheorie gilt und immer wieder zitiert wird, ist Lorenz von Steins Werk in Deutschland wenig (siehe vor allem Böckenförde 1976 [zuerst 1963]) und international praktisch gar nicht rezipiert worden.

Schon vor der Industrialisierung, im 17. und 18. Jahrhundert, erodierten die Möglichkeiten der Selbstversorgung durch Zugang zu Grund und Boden, unter anderem in Folge der Entstehung modernen Privateigentums an Boden. Darauf reagierte der entstehende neuzeitliche Staat mit repressiver Armenhilfe als früheste Form moderner Sozialpolitik (Kaufmann 2003, S. 45). Ältere partikulare Rechts- und Herrschaftsordnungen – Stände, Zünfte, Korporationen, Grundherrschaften – erodierten und eine neue, zentralisierte Herrschafts- und Rechtsordnung und, damit einhergehend, eine befreite „Gesellschaft“ gleicher Individuen traten an die Stelle. Lorenz von Stein war Hegelianer, wie Marx, dessen Zeitgenosse er war, und beide folgten Hegels Analyse, dass in ihrer Zeit ein moderner Staat und eine „Gesellschaft“ entstanden. Entsprechend proklamierte die Französische Revolution im Jahre 1789 Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte für alle Bürger.

Die Diskrepanz zwischen den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution einerseits und der zur gleichen Zeit einsetzenden Industriellen Revolution und den Realitäten des sich entwickelnden Industriekapitalismus andererseits – Ausbeutung, soziale Entwurzelung, Abhängigkeit, Klassengegensätze und Krisen – konstituierte im 19. Jahrhundert eine „soziale Frage“, die nach Antworten verlangte. Um die Klassenkonflikte zu entschärfen und die Freiheit der Bürger wiederherzustellen, so von Steins Hauptthese, bewegt sich die industrielle Gesellschaft notwendig in Richtung eines „sozialen Königtums“ oder gar einer „sozialen Demokratie“, also was wir heute Sozialstaat nennen.

Im Kapitalismus stellen sich also, um die spätere Begrifflichkeit von Lockwood (1964) aufzugreifen, zwei Probleme gesellschaftlicher Integration: wie kann der Kapitalismus angesichts seiner desintegrativen Tendenzen und krisenhafter Eigendynamik stabilisiert werden? (Systemintegration) Und wie kann gleiche und freie Teilhabe aller BürgerInnen in der kapitalistischen Klassengesellschaft gesichert werden? (Sozialintegration). Es gibt Überlappungen zwischen beiden Formen von Integration; manche sozialpolitischen Maßnahmen tragen zu beidem bei. Systemintegration wird wesentlich durch Rechtsstaatlichkeit bewerkstelligt, jedoch reicht diese nicht aus, Sozialstaatlichkeit muss hinzukommen.

Vereinfacht gesagt, gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drei alternative Antworten auf die desintegrativen Tendenzen der modernen kapitalistischen Gesellschaft: Liberalismus, Sozialismus und Sozialstaatlichkeit. Der Liberalismus als politische Lösung zielte darauf, den Kapitalismus im Kern zu belassen und durch eine Verfassung zu rahmen, die gleiche Freiheit und politische (nicht soziale) Rechte für alle vorsah. Der Sozialismus als eine gesellschaftliche Lösung rief auf zur Überwindung des Kapitalismus durch Revolution. Dies war Marx’ Lösung, der ausdrücklich die Idee einer sozialstaatlichen Befriedung des Kapitalismus als „Zeitungsschreiberphrase“ abtat (Marx 1962 [zuerst 1875], S. 26). Die dritte, mittlere Lösung war die Idee des Sozialstaats von Lorenz von Stein. Der Kapitalismus sollte beschränkt werden durch ein allgemeines Wahlrecht, eine allgemeine progressive Besteuerung und eine soziale „Verwaltung“, die zwischen Staat und Gesellschaft tritt und zwischen ihnen vermittelt (sociale Politik). Die Verwaltung leistete, in heutigen Worten, Daseinsvorsorge durch ein öffentliches Bildungswesen, die Schaffung von Erwerbs- und Besitzchancen für die Arbeiter sowie soziale Sicherungssysteme.

T. H. Marshall entwickelte seinen Begriff der sozialen Rechte als historisch letzte Komponente von Staatsbürgerrechten (citizenship) anhand einer historischen Analyse der englischen Gesellschaft. Bürgerliche Freiheitsrechte (civil rights) entwickelten sich demgemäß schwerpunktmäßig im 18. Jahrhundert und legten den Grundstein für Rechtsstaatlichkeit. Im 19. Jahrhundert kamen politische Rechte hinzu, vor allem das Recht zu wählen und gewählt zu werden, und begründeten so die Demokratie. Im 20. Jahrhundert kamen schließlich die sozialen Rechte hinzu, wobei...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7799-7553-X / 377997553X
ISBN-13 978-3-7799-7553-3 / 9783779975533
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