Aus dem Nebel des Krieges (eBook)
288 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77622-3 (ISBN)
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind Tausende Menschen umgekommen, Hunderttausende haben Terror und Zerstörung erlitten, Millionen Bürger sind geflohen. Dennoch: unterstützt vom Westen, halten Staat und Gesellschaft stand. Aus dem Nebel des Krieges entsteht eine neue, ungewisse Zukunft. Die Autorinnen und Autoren des Bandes - Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen und Aktivisten, Künstlerinnen und Journalisten - halten die Gleichzeitigkeit fest: die Ruinierung des Lebens und seiner Orte; die zivile und militärische Selbstbehauptung; den Willen, eine neue, friedliche Heimat zu schaffen. Sie beschreiben und analysieren die Situation der traumatisierten Menschen im Krieg - ihre tiefgreifende Veränderung, ihre Fähigkeit, sich in sehr unklaren Zeiten dennoch wiederzufinden.
Katharina Raabe, geboren 1957 in Hamburg, ist Lektorin für osteuropäische Literaturen im Suhrkamp Verlag. Kateryna Mishchenko, geboren 1984, Essayistin, Übersetzerin und Verlegerin aus Kiew, ist zurzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
9Kateryna Mishchenko
Spiegel der Seele
Heute ist die Ukraine auf den nächtlichen Satellitenbildern sehr gut zu erkennen. Eine Art negativer Sichtbarkeit – auf der mit Lichtern übersäten Landfläche gibt es einen dunklen Fleck, wie ein Spiegelbild des Schwarzen Meeres. Die Worte »ukrainische Nacht« haben sich mir nun endlich erschlossen – beängstigend und nah zugleich. Wenn ich früher die Nacht als einen Rückzugsort des sozial Verdrängten gesehen habe, erscheint jetzt die Existenz selbst im Schatten. Ich muss von neuem versuchen, den Menschen und das Menschliche in einem konkreten historischen Moment zu verstehen – das ist es, was diese lange Nacht des Vernichtungskrieges für mich bedeutet.
In der ukrainischen Sprache sind eine Menge und Finsternis Homonyme. Wie lassen sich genozidale Ausmaße denken? Wie viele Kriegsverbrechen wurden bereits dokumentiert? Zehntausende. Wie viele Kinder haben ihr Leben verloren? Schon annähernd fünfhundert. Wie lange wird es dauern, die Ukraine zu entminen? Für die dreißig Prozent unseres Territoriums, die gegenwärtig vermint sind, mindestens zehn Jahre. Das Übermaß an Zerstörung und Brutalität macht mir vor allem klar, wie groß mein Land ist: Es wird so lange und so brutal zerstört, und es bleibt hartnäckig bestehen.
Ich erinnere mich noch an die erste Nacht nach dem Beginn der Invasion. Schlafen war unmöglich. Ich verbrachte die Nacht bei einem Freund, weit weg vom Kyjiwer Regierungsviertel, wo meine Wohnung lag und wo russische Truppen landen sollten, um die Staatsführung gefangen zu nehmen oder zu töten. Vom Fenster aus betrachtete ich das Stück Straße in der Nähe der Metrostation »Völkerfreundschaft«: eine gewundene Asphaltstraße, Bäume auf beiden Seiten, das Licht der Straßenlaterne gedämpft, leicht rötlich. Ruhig und leer, friedlich. Ich hatte Angst, den Blick 10abzuwenden, als hätte er die Macht, diese Landschaft zu konservieren und so zu verhindern, dass sie durch die Militärtechnik des »befreundeten Volkes«, durch Explosionen und Feuer zerstört wird. Es war sehr still geworden, als verhielte sich die Stadt absichtlich leise, um dem Kriegslärm etwas entgegenzusetzen. In einer der folgenden Nächte war ich zufällig während der Ausgangssperre im Hof – die Stille einer schrecklichen Erwartung, das Lichtregime (nach 22 Uhr sollte man möglichst das Licht ausschalten, damit der Feind uns nicht so leicht bemerkt) und der Sternenhimmel über uns. In einer solchen durch und durch frostigen, einsamen ukrainischen Nacht möchte man trotz des für immer gebrochenen Herzens verzweifelt lieben.
Seitdem ist fast ein Jahr vergangen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich die Tage vor und unmittelbar nach dem großen Krieg vermisse, denn die Erinnerungen daran sind das aktuellste Bild meines Zuhauses. In den sogenannten Tagen null – vor der Invasion – habe ich viele Filme über Katastrophen und das Überleben gesehen. Ich träumte, wie ich voller Panik mit meinem Kind im Bus nach Berlin fuhr, wie ich versuchte, alle meine Zimmerpflanzen in einen Koffer zu packen: Ich stellte die Töpfe zu einer Pyramide auf und wusste dann nicht, wohin mit den ganzen Pflanzen und wie viel Erde man von den Wurzeln abschütteln kann, damit sie überleben. Jetzt suche ich nach einer Fortsetzung dieses Traums, gehe in Blumenläden oder Gartenmärkte – einfach, um eine Weile dort zu sein.
Ich erinnere mich an den Tag eins, an die ernsten Gesichter der Menschen in der morgendlichen Schlange im Supermarkt. An die zitternden Hände der Verkäuferin in der Zoohandlung, es gibt keine Katzentransportboxen, heute kommen wahrscheinlich auch keine mehr. Ihre Verwandten sind irgendwo im Gebiet Tschernihiw, dort ist die russische Armee schon. In einer Buchhandlung mit Café, wo ich ein bisschen arbeiten wollte, ist der Barista ein ehemaliger Soldat. Sein Freund wurde an dem Tag mobilisiert, eine Woche später sollte er Vater werden. Ich sitze da und blicke aus dem Fenster, das die ganze Wand einnimmt, auf meine Straße und frage mich, ob er keine Angst hat bei so einem großen Fens11ter, wie viele Glasscherben es geben wird. Zur Mittagszeit sitze ich zu Hause in der Küche. Ich höre, wie sich mein Mann im Badezimmer übergibt. Er kann nicht akzeptieren, dass der Albtraum begonnen hat. Ich hingegen bin schon ganz davon vergiftet, ich finde einen Punkt, den ich fixieren kann: das Cover des Buches Trauma and Recovery von Judith Herman, das ich meinem Mann zum Valentinstag geschenkt hatte. Ich habe die ersten Seiten gelesen und der Hauptgedanke war: Dem Opfer zu glauben, fällt schwer, es ist bequemer und sicherer, sich mit dem Aggressor zu assoziieren. Sich auf die Seite des Opfers zu stellen, bedeutet, es zu wagen, den Status quo zu zerstören. Nach dem traurigen Abschied von meiner gesamten Bibliothek war ich diesem Buch dankbar für die Gedanken, die sich – mehr als einmal – in den endlosen Debatten um die Unterstützung der Ukraine und die politischen – für uns schicksalhaften – Entscheidungen der verschiedenen Länder materialisierten. Der Status quo wurde gebrochen, um den Preis von Menschenleben, und diese verlorenen Leben sind finstere Mengen.
Ich erinnere mich an das Brummen unserer Flugzeuge am Himmel über Iwano-Frankiwsk, wohin wir schließlich fuhren. Und im Telefon das Schluchzen der älteren Kindergärtnerin meines Sohnes, die mit ihrem Mann auf die Datscha in der Nähe von Tschernihiw gefahren war, um dort den Krieg »abzuwarten«. Sie sagte, die Kinder täten ihr so entsetzlich leid, an ihrem Fenster fahren schon Panzer vorbei, sie kommen nicht mehr weg. Später kehrten sie glücklicherweise nach Kyjiw zurück. Ich hingegen habe mit meinem Sohn das Land verlassen.
Im Nachtbus nach Prag – von dort würden wir den Zug nach Berlin nehmen – wurde mir klar, dass die Träume durch Wahnvorstellungen abgelöst worden waren. Die Nachrichten erklingen mit den Stimmen toter Kinder – dieser Satz dreht sich in meinem Kopf, ich bin in einem wachen Albtraum gefangen. Neben uns sitzt eine Familie aus Butscha, damals noch für uns alle »nur« eine besetzte Stadt, in der gekämpft wird. Die Frauen rufen immer wieder ihre Ehemänner an, die dortgeblieben sind. Eine von ihnen kann das Geplapper der Kinder nicht mehr ertragen, 12sie verbietet ihnen ständig den Mund und flucht. Irgendwann befiehlt sie auch meinem Sohn, den Mund zu halten. Die andere Frau ist vor Erschöpfung ganz still. An der polnischen Grenze, bei der Gepäckkontrolle, stehen wir mit einer weiteren jungen Frau für kurze Zeit zu dritt in der Halle und warten darauf, dass wir wieder in den Bus steigen können, nachdem auch er kontrolliert wurde. Es war still, wir blickten uns schweigend in die Augen – ein durchdringender Moment, wenn man den eigenen Schmerz in den Blick legt und versucht, jemandem davon zu erzählen, und einem dasselbe Signal entgegenkommt. Verbundenheit und höllische Einsamkeit zugleich. Aber wir müssen die Kinder nehmen und weiterfahren.
***
Heute kann man in den Medien die Rekonstruktion der Verbrechen in Butscha verfolgen, insbesondere in der Jablunska-Straße, die durch die Leichen der Bewohner gezeichnet war. In die Gesichter der Ermordeten blicken. Man kann sogar die Fotos der identifizierten Mörder sehen, der berüchtigten Pskower Fallschirmjäger, die den Einheimischen die Handys abnahmen und damit zu Hause in Russland anriefen, wo sie später für besondere Tapferkeit ausgezeichnet wurden. Um auch nur diese wenigen Sätze zu verdauen, bräuchte man Jahre. Und woher soll man erst die Zeit nehmen für all das erworbene Wissen?
Das Stöhnen der Menschen unter den Trümmern von Häusern, die wegen des ständigen Beschusses nicht geborgen werden können, Exhumierungen, Übergabe von Leichen, Austausch von sterblichen Überresten, Verwandte, die zur weiteren Identifizierung der Toten oder dessen, was von ihnen übrig ist, DNA-Proben abgeben. Die Suche nach Verwandten unter jenen Überresten, über die schon die Würmer kriechen. Die massenhafte Verstümmelung des Menschlichen fragmentiert die Seele und ihre Zeit. Die Überreste des eigenen Selbst befinden sich irgendwo, nicht ...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-518-77622-3 / 3518776223 |
ISBN-13 | 978-3-518-77622-3 / 9783518776223 |
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