Der Allesfresser (eBook)
250 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77614-8 (ISBN)
In ihrem lang erwarteten neuen Buch zeichnet Nancy Fraser die historische Entwicklung des kapitalistischen Allesfressers über mehrere Epochen hinweg nach. Indem sie den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Krisen analysiert, zeigt sie zugleich auf, wie ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert aussehen könnte. Klimawandel, Rassismus, Pflegekrise und demokratische Regression als Symptome desselben Problems zu begreifen weist den Weg zu neuen und starken gegenhegemonialen Allianzen.
Nancy Fraser, geboren 1947 in Baltimore, ist Henry A. and Louise Loeb Professor of Political and Social Science und Professorin für Philosophie an der New School for Social Research in New York.
9Einleitung: Kannibalischer Kapitalismus
Den Leserinnen und Lesern dieses Buches brauche ich nicht zu sagen, dass wir in Schwierigkeiten stecken. Sie sind sich der Vielzahl drohender Gefahren und des realen Elends sehr wohl bewusst und leiden möglicherweise selbst schon darunter: erdrückende Schulden, prekäre Arbeit und bedrängte Existenzen; schwindende öffentliche Dienstleistungen, bröckelnde Infrastrukturen und verstärkte Grenzen; rassistisch motivierte Gewalt, tödliche Pandemien und extreme Wetterverhältnisse – all das überlagert von politischen Dysfunktionen, die unsere Fähigkeit blockieren, Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Nichts davon ist wirklich neu, und nichts davon muss hier näher ausgeführt werden.
Was dieses Buch jedoch tatsächlich bietet, ist ein tiefes Eintauchen in die Quelle all dieser Schrecken. Es diagnostiziert die Ursachen der Krankheit und benennt die Schuldigen. Für das Gesellschaftssystem, das uns an diesen Punkt gebracht hat, verwende ich im Folgenden den Begriff »kannibalischer Kapitalismus«. Um zu verstehen, warum dieser Begriff so treffend ist, sollten wir uns die beiden K-Wörter ansehen, aus denen er besteht.
»Kannibalismus« hat mehrere Bedeutungen. Die bekannteste und konkreteste ist der rituelle Verzehr von Menschenfleisch durch Menschen. Auf dem Begriff las10tet eine lange rassistische Geschichte; er wurde – in einer Umkehrung der tatsächlichen Konstellation – auf Schwarzafrikaner angewandt, die doch eigentlich Opfer der euro-imperialen Ausbeutung waren. Es liegt also eine gewisse Genugtuung darin, den Spieß umzudrehen und das Wort hier als Bezeichnung für die kapitalistische Klasse zu verwenden – eine Gruppe, die sich von allen anderen ernährt. Aber der Begriff hat auch eine abstraktere Bedeutung, in der eine tiefere Wahrheit über unsere Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Das Verb »kannibalisieren« bedeutet, eine Einrichtung oder ein Unternehmen eines wesentlichen Elements ihrer bzw. seiner Funktionsweise zu berauben, um ein anderes zu schaffen oder zu erhalten. Das ist, wie wir sehen werden, eine gute Annäherung an das Verhältnis der kapitalistischen Wirtschaft zu den nicht ökonomischen Bereichen des Systems: zu den Familien und Gemeinschaften, Lebensräumen und Ökosystemen, staatlichen Einrichtungen und öffentlichen Gewalten, deren Substanz diese Wirtschaft verbraucht, um sich selbst vollzustopfen.
Es gibt aber auch eine spezielle astronomische Bedeutung: Man sagt, dass ein Himmelsobjekt ein anderes Objekt kannibalisiert, wenn es dessen Masse durch Gravitationsanziehung in sich aufnimmt. Auch das ist, wie ich hier zeigen werde, eine treffende Charakterisierung des Prozesses, durch den das Kapital natürlichen und gesellschaftlichen Reichtum aus peripheren Zonen des Weltsystems in seine Umlaufbahn zieht. Und zu guter Letzt gibt es noch den Ouroboros, die sich selbst kannibalisierende Schlange, die ihren eigenen Schwanz frisst und die auf dem Umschlag dieses Buches abgebil11det ist. Dabei handelt es sich, wie wir sehen werden, um ein treffliches Bild für ein System, das darauf ausgerichtet ist, die sozialen, politischen und natürlichen Grundlagen seiner eigenen Existenz zu verschlingen – und damit auch die Grundlagen unserer Existenz. Alles in allem bietet die Kannibalismus-Metapher mehrere vielversprechende Ansätze für eine Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Sie lädt uns dazu ein, diese Gesellschaft als eine institutionalisierte Fressorgie zu betrachten, deren Hauptgericht wir selbst sind.
Auch der Begriff »Kapitalismus« verlangt nach einer Klärung. Mit dem Wort wird gemeinhin ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das auf Privateigentum und Markttausch, auf Lohnarbeit und gewinnorientierter Produktion beruht. Aber diese Definition ist zu eng gefasst und verschleiert eher das wahre Wesen des Systems, als dass sie es offenlegt. »Kapitalismus«, so werde ich hier argumentieren, bezeichnet besser etwas Größeres, Umfassenderes: eine Gesellschaftsordnung, die eine profitorientierte Wirtschaft dazu befähigt, die außerökonomischen Stützen, die sie zum Funktionieren braucht, auszuplündern: Reichtum, der der Natur und unterworfenen Bevölkerungen entzogen wird; vielfältige Formen von Care-Arbeit, die chronisch unterbewertet, wenn nicht gar völlig verleugnet werden; öffentliche Güter und staatliche Befugnisse, die das Kapital sowohl benötigt als auch zu beschneiden versucht; die Energie und Kreativität der arbeitenden Menschen. Obwohl sie nicht in den Unternehmensbilanzen auftauchen, sind diese Formen des Reichtums wesentliche Voraussetzungen für die Profite und Gewinne, die dort sehr wohl verzeichnet sind. Als wesentliche Grundla12gen der Akkumulation stellen auch sie konstitutive Bestandteile der kapitalistischen Ordnung dar.
In diesem Buch bezieht sich der Begriff »Kapitalismus« daher nicht auf eine Wirtschaftsform, sondern auf eine Gesellschaftsform: eine Gesellschaftsform, die es einer offiziell als solche bezeichneten Wirtschaft erlaubt, monetären Wert für Investoren und Eigentümer anzuhäufen, während sie den nicht ökonomisierten Reichtum aller anderen verschlingt. Indem sie diesen Reichtum den Konzernen auf dem Silbertablett serviert, lädt sie diese ein, sich an unseren kreativen Fähigkeiten und an der Erde, die uns ernährt, zu laben – ohne die Verpflichtung, das, was sie verbrauchen, wieder aufzufüllen oder das, was sie beschädigen, zu reparieren. Und damit sind den verschiedensten Problemen Tür und Tor geöffnet. Wie der Ouroboros, der seinen eigenen Schwanz frisst, ist die kapitalistische Gesellschaft darauf ausgerichtet, ihre eigene Substanz zu verschlingen. Sie ist ein wahrer Dynamo der Selbstdestabilisierung, der regelmäßig Krisen auslöst, während er routinemäßig die Grundlagen unserer Existenz auffrisst.
Der kannibalische Kapitalismus ist also das System, dem wir die gegenwärtige Krise verdanken. Offen gesagt, handelt es sich um eine seltene Art von Krise, in der mehrere Fressanfälle zusammentreffen. Was wir dank der jahrzehntelangen Finanzialisierung erleben, ist nicht »bloß« eine Krise der grassierenden Ungleichheit und der prekären Niedriglohnarbeit; auch nicht »bloß« eine Krise der Fürsorge oder der sozialen Reproduktion; auch nicht »bloß« eine Krise der Migration und der rassistischen Gewalt. Es handelt sich auch nicht »einfach« um eine ökologische Krise, in der ein sich auf13heizender Planet tödliche Seuchen ausspuckt, und nicht »nur« um eine politische Krise, die sich durch eine ausgehöhlte Infrastruktur, einen verstärkten Militarismus und dadurch auszeichnet, dass überall auf dem Globus Politiker Erfolg haben, die sich als starke Männer (strongmen) gerieren. Oh nein, es ist viel schlimmer: Wir haben es mit einer allgemeinen Krise der gesamten Gesellschaftsordnung zu tun, in der all diese Katastrophen konvergieren, sich gegenseitig verschärfen und uns zu verschlingen drohen.
Dieses Buch zeichnet dieses gewaltige Geflecht aus Dysfunktion und Beherrschung nach. Es erweitert unseren Blick auf den Kapitalismus um die außerökonomischen Zutaten des Kapital-Speisezettels und fasst alle Unterdrückungen, Widersprüche und Konflikte der gegenwärtigen Situation in einem einzigen analytischen Rahmen zusammen. In diesem Rahmen bedeutet strukturelle Ungerechtigkeit natürlich Klassenausbeutung, aber auch Geschlechterherrschaft und rassistische/imperialistische Unterdrückung – beides nicht zufällige Nebenprodukte einer Gesellschaftsordnung, die die soziale Reproduktion der Warenproduktion unterordnet und eine rassifizierte Expropriation verlangt, um die profitable Exploitation zu garantieren. So gesehen, führen die Widersprüche des Systems nicht nur zu Wirtschaftskrisen, sondern auch zu Krisen in den Bereichen Care, Ökologie und Politik, die heute in voller Blüte stehen, und zwar dank der langen Periode unternehmerischer Völlerei, die als Neoliberalismus bekannt ist.
Und schließlich löst der kannibalische Kapitalismus eine breite Palette und eine komplexe Mischung sozia14ler Kämpfe aus: nicht nur Klassenkämpfe am Ort der Produktion, sondern auch Grenzkämpfe an den konstitutiven Verbindungsstellen des Systems. Wo die Produktion an die soziale Reproduktion stößt, schürt das System Konflikte um die Fürsorge, öffentliche wie private, bezahlte wie unbezahlte. Wo Ausbeutung auf Enteignung trifft, schürt es Kämpfe um »Rasse«, Migration und Imperium. Auch dort, wo die Akkumulation auf...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2023 |
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Übersetzer | Andreas Wirthensohn |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Cannibal Capitalism. How Our System Is Devouring Democracy, Care, and the Planet - and What We Can Do about It |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abolitionismus • aktuelles Buch • Antikapitalismus • Arbeiterbewegung • Arbeiter-Klasse • Armut • Ausbeutung • Benjamin-Lectures • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • Black lives matter • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • Cannibal Capitalism. How Our System Is Devouring Democracy Care and the Planet - and What We Can Do about It deutsch • Care • Class • Feminismus • Gender • Intersektionalität • jacobin • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Klassismus • Klimawandel • Krise • Kritische Theorie • Marxismus • Me too • Neoliberalismus • Neuerscheinungen • neues Buch • New School • Occupy • Ouroboros • Postkolonial • Prekariat • Prekarität • Proletariat • Race • Rahel Jaeggi • Reproduktionsarbeit • Spiegel-Bestseller-Liste • Ungleichheit • W.E.B. Du Bois |
ISBN-10 | 3-518-77614-2 / 3518776142 |
ISBN-13 | 978-3-518-77614-8 / 9783518776148 |
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Größe: 2,8 MB
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