Erschütterungen (eBook)
240 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-31193-3 (ISBN)
Der russische Überfall auf die Ukraine bedroht unsere liberale Demokratie in einem Moment, in dem sie zugleich auch von innen unter Druck steht. Wie ist es dazu gekommen? Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck geht gemeinsam mit seiner Co-Autorin Helga Hirsch der Frage nach, weshalb das Vertrauen vieler Bürger in unsere liberale Demokratie erschüttert ist. Was bedroht unsere Demokratie von innen heraus? Welche Rolle spielen autoritäre und libertäre Dispositionen in Krisenzeiten? Wie viel Einwanderung verträgt eine Demokratie?
Zugleich lotet er aus, warum wir heute vor den Scherben einer Ostpolitik stehen, die im Verhältnis zu Russland allzu lange nur auf die Prinzipien »Frieden vor Freiheit« und »Wandel durch Handel« gesetzt hat. Sehr eindrücklich und zum Teil auf persönliche Weise zeigt Joachim Gauck, wie in den letzten Jahren so manche Gewissheit über die Stabilität unserer Demokratie verloren ging - und wie es uns gelingen kann, auch in Zukunft unsere liberalen Freiheiten zu verteidigen und tatsächlich eine wehrhafte Demokratie zu werden.
Joachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, arbeitete dort bis 1989 als Pastor. Er war Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstandes gegen die SED-Diktatur, politisch aktiv als Sprecher des Neuen Forums in seiner Heimatstadt und sodann als Abgeordneter der ersten freien Volkskammer. Von 1990 bis 2000 war er Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen, von 2012 bis 2017 elfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Er erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u.a. den Hannah-Arendt-Preis, den Geschwister-Scholl-Preis, den Europäischen Menschenrechtspreis und den Ludwig-Börne-Preis. Seine Autobiographie »Winter im Sommer - Frühling im Herbst« erschien zuerst 2009 im Siedler Verlag. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Helga Hirsch den Bestseller »Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht« (Siedler, 2023).
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Was wir nicht gesehen haben
Wie erkennt man, dass sich eine Realität so geändert hat, dass sie eine neue Art des Umgangs erfordert? Was bestimmt letztlich den Zeitpunkt der Änderung – die neue Faktenlage oder die subjektive Bereitschaft, sie wahrzunehmen? Gibt es überhaupt den einen, richtigen Zeitpunkt für eine Korrektur? Und die eine, richtige Art der Korrektur? Oder erkennt man immer erst im Nachhinein, was die bessere Reaktion gewesen wäre? Und warum sehen die einen früher und besser, was kommt, als die anderen?
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew ist Jahrgang 1947. Nachdem er eine Literaturzeitung im Untergrund gegründet hatte, wurde er 1979 aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen und faktisch mit einem Berufsverbot belegt. Er arbeitete nur noch für die Schublade; sein Roman Leben mit einem Idioten, 1980 fertiggestellt, kam erst 1991 heraus.[1] Aber der Schriftsteller blieb in dem Land, gegen dessen System und dessen Führung er aufbegehrte. Er blieb erst recht, als nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs ein frischer Wind wehte. Schließlich wollte er, wie er selbst sagte, »die russische Welt besser machen, sie mit meinen Ohrfeigen aufwecken«.[2]
Emigriert ist Jerofejew mit Frau und Töchtern erst nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Ende Februar 2022. »Warum fahre ich weg?, dachte ich. Gelogen haben sie doch immer – und du bist nicht weggefahren. Die Lüge wurde repressiv, erklärte sich zu heiliger Wahrheit – und du fuhrst nicht weg. Und nun kam der erwartbare und dennoch unglaubliche Krieg. Unser Volk begrüßte ihn mit Hurra. Du wusstest doch, dass es ihn unterstützen würde! Es bestätigte sich, was du geahnt hast – also Zeit, wegzufahren.«[3] Jerofejews Zeitenwende kam, als das dunkle Szenario, das er hatte kommen sehen, tatsächlich eintrat. Weil das, was er gefürchtet hatte, immer mächtiger geworden war. Er fuhr, als er nicht mehr ertragen konnte, was sich jetzt tatsächlich ereignete.
Jerofejew datierte den Putin’schen »Staatsstreich« auf das Jahr 2009; andere nennen als den Beginn der Zeitenwende 2014, das Jahr der Annexion der Krim; noch andere legen den Beginn des verschärften Kurses auf das Jahr 2012, als Putin zum dritten Mal das Amt des Staatspräsidenten übernahm. Wie schon an diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen erkennbar wird, handelte es sich um einen schleichenden Prozess, bei dem der Ausgang vielen nicht vorprogrammiert erschien. Selbst wenn es den eindeutigen Kipppunkt vielleicht nicht gegeben hat, so gab es doch eine Tendenz: Die Repression im Innern und die Aggression nach außen nahmen unverkennbar zu. Statt in Richtung Demokratie bewegte sich der Kreml in Richtung Autokratie. Er unterdrückte zunehmend die Opposition, schaltete die freie Presse aus, verbot oder erschwerte die Arbeit von NGOs. Politische Gegner wie Boris Nemzow oder Alexei Nawalny wurden erschossen, vergiftet oder weggesperrt, sogenannte Verräter wie Alexander Litwinenko in London oder Selimchan Changoschwili im Berliner Tiergarten ermordet. Gleichzeitig nahm die offene militärische Gewalt zu. Der Kreml intervenierte in Tschetschenien, aber auch in Moldawien und Georgien, die gar nicht mehr zur Russischen Föderation gehören; später in Syrien, Libyen, auf der Krim und im Donbas. Er unterstützte afrikanische Länder vermehrt mit Waffen und Söldnern der Wagner-Truppe und suchte Amerika und Europa verstärkt durch Cyberangriffe, Trollarmeen und Desinformationskampagnen zu destabilisieren. Die Tendenz zu einem autokratischen und neoimperialen System war unverkennbar.
Und wir in Deutschland? Politik und Gesellschaft reagierten bei jedem neuen Gewaltakt erschrocken, bestürzt, manche auch wütend. Wir kritisierten, protestierten und straften mit kleinen Sanktionen, aber statt irgendwann zu erklären: »So geht es nicht weiter!«, suchte die Regierung das Verhältnis zu Russland immer wieder möglichst schnell auf Dialog, Verständigung und wirtschaftlichen Austausch auszurichten. Und aus der Mehrheitsgesellschaft kam kein lauter Protest. Waren wir naiv, blind, zu gutgläubig? Hatten wir Angst vor Konfrontation? Vor allem eines aber dürfte sicher sein: Uns prägte zu oft ein Wunschdenken.
Russlands besonderer Weg
Es fragt sich natürlich, warum es Russland nicht gelang, den Weg der mittelosteuropäischen Länder einzuschlagen, die ebenso wie Russland nach dem Zerfall des Sowjetreiches vor der Aufgabe standen, Demokratie und Marktwirtschaft aufzubauen. War es unvermeidlich, dass Russland als autoritärer, neoimperialer Staat endete? Hätte es mit anderen Führungspersonen eine liberale Variante des russischen Weges geben können? Wäre die Integration Russlands in ein gemeinsames europäisches Haus möglich gewesen? Ich habe keine endgültigen Antworten auf diese Fragen. Ich vermag nur Bausteine zusammenzutragen, die zu erklären versuchen, warum die Transformation in Ostmitteleuropa nach einem anderen Muster verlief als in Russland.
Da war als Erstes die Art und Weise der Machtübernahme. In Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn und der DDR ebneten sogenannte Runde Tische einen friedlichen Weg zur Demokratie. Die kommunistischen Herrscher zogen sich gewaltfrei zurück, während sich gleichzeitig überall demokratische Kräfte organisierten, die Teil einer pluralistischen politischen Landschaft wurden und sogar die Regierungen übernahmen. In den postsowjetischen Ländern gelang diese Form des Machtwechsels allein in den baltischen Staaten. In Russland hingegen wurde der Systemwechsel als Machtkampf zwischen verschiedenen Fraktionen der Kommunistischen Partei ausgefochten. Selbst als die Kommunistische Partei im August 1991 verboten wurde, blieben der Geheimdienst und die Armee als zwei gewichtige Garanten der alten Macht erhalten. Und mochte Boris Jelzin auch das erste frei gewählte Staatsoberhaupt Russlands und ein »Reformer« gewesen sein, so gelang es ihm und seinen Leuten doch nicht, ein auf Russland zugeschnittenes Programm der Transformation zu schaffen. Russland hatte keinen Führer, der aus den Reihen liberaler Dissidenten kam: keinen Lech Wałęsa, keinen Václav Havel und keinen Árpád Göncz.
Die so andere Entwicklung in Russland hängt wiederum mit einer zweiten Besonderheit zusammen. Anders als die mittelosteuropäischen Staaten konnte Russland nicht auf historische Demokratieerfahrungen zurückgreifen. Die russische Intelligenzija, so urteilte Viktor Jerofejew, »träumte von der Befreiung vom kommunistischen Irrsinn, war jedoch politisch unfähig, die Ziele eines postkommunistischen Russlands zu formulieren«.[4] Und breite Teile der Gesellschaft fürchteten, ohne eine starke und personifizierte Zentralmacht, ohne einen »Herrn«, käme es zum Chaos. Als die dramatische und zum Teil buchstäblich kriminell ablaufende marktwirtschaftliche Transformation in den 1990er-Jahren nicht durch eine starke zentrale Macht ordnungspolitisch aufgefangen werden konnte, setzte sich in der Bevölkerung vor allem ein Wunsch durch: Wir wollen wieder Ordnung und Stabilität. Den Zusammenhalt, den in der UdSSR die Kommunistische Partei erzwungen hatte, sollte in der Russischen Föderation ein starker Präsident sichern. Eine Fortsetzung der russischen Tradition einer personalen Herrschaft wie unter den Zaren und Generalsekretären zeichnete sich deutlich ab.[5]
Formal hat Russland die Strukturen der westlichen Demokratien zwar weitgehend übernommen. Laut Verfassung existiert eine Gewaltenteilung, es gibt ein Verfassungsgericht und ein Parlament, regelmäßig fanden und finden Wahlen mit verschiedenen Parteien und Wahlkämpfen statt. Doch diese Strukturen sind ausgehöhlt, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind beschnitten oder außer Kraft gesetzt, das Recht wird als Mittel der Repression gegen Oppositionelle und Künstler missbraucht. Wahlen wurden und werden manipuliert. Russland ist mittlerweile faktisch ein Ein-Mann-Regime. Und anders als in der Ukraine, in Moldawien und Georgien ist in der russischen Gesellschaft nur ein geringes Bedürfnis zu erkennen, diese autoritär geführte Struktur zu durchbrechen. Zu schwach ist die Zivilgesellschaft, die sich in den Großstädten herausgebildet hat und die durch massenhafte Emigration von unabhängigen und oppositionellen Geistern nach dem russischen Überfall auf die Ukraine weiter geschwächt worden ist. Zu stark ist die Tradition verinnerlichter Ohnmacht in den Weiten des Landes. Und so fehlen den veränderungswilligen, meist jungen Menschen die Unterstützer, die in den mittelosteuropäischen Ländern jeweils die friedliche Revolution trugen.
Ich habe als Mitstreiter in der DDR-Demokratiebewegung und 1990 als »junger« Parlamentsabgeordneter überlegt, ob eine gelenkte Demokratie nach Art von Singapur in Russland denkbar wäre: ein autokratischer Staat in einer Übergangsphase, faktisch mit einem Einparteiensystem, der die erheblichen Restriktionen gegenüber der Opposition mit einer erfolgreichen Marktwirtschaft, geringer Korruption und einem Schutz der Bürger vor Kriminalität aufwiegt.[6] Politische Demokratisierung geht zwar nicht zwangsläufig aus steigendem Wohlstand hervor, aber eine höhere Produktivität durch Innovation führte etwa Japan, Taiwan und Südkorea auf den Weg demokratischer Reformen. In Russland war dieser Weg jedoch offensichtlich versperrt, weil dort sowohl die liberalen, marktwirtschaftlich orientierten Kräfte wie auch die ordnungspolitischen Kräfte zu schwach waren. Die liberalen Ökonomen und die politischen Reformer vermochten sich nicht gegen die...
Erscheint lt. Verlag | 3.5.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Antirassismus • Bundeswehr • DDR • Demokratie • Diktatur • eBooks • Einwanderung • Einwanderungspolitik • Extremismus • Fremdheit • Krieg • Krieg in der Ukraine • Krise • liberale Demokratie • Liberalismus • Migration • NATO • Neuerscheinung • Ostpolitik • Partizipation • Polen • Putin • Russland • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Ukraine • Wahlen • Woke-Bewegung |
ISBN-10 | 3-641-31193-4 / 3641311934 |
ISBN-13 | 978-3-641-31193-3 / 9783641311933 |
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