Erzählen im Pen-and-Paper-Rollenspiel (eBook)

Produktion – Rezeption – Didaktik
eBook Download: EPUB
2023
395 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-078900-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erzählen im Pen-and-Paper-Rollenspiel - Jan-Niklas Meier
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The Narratologia series publishes state-of-the-art monographs and collective volumes devoted to modern narrative theory and its historical reconstruction in all the philological disciplines. It is the first narratological forum of its kind in Germany. In addition to literary texts, the series focuses on narration in everyday contexts, in pictorial media, in film and in the new media as well as on narration in historiography, ethnology, medicine, and the law.

The series publishes in German and English. All volumes are peer reviewed by two anonymous assessors.



Jan-Niklas Meier, Universität Bielefeld.

1 Einleitung


Neues zu erleben und zu erfahren und der Wunsch, unterhalten zu werden, stellen zentrale anthropologische Grundbedürfnisse dar, die zugleich Motor für die menschliche Entwicklung sind. Es ist auffällig, dass Menschen diese Bedürfnisse auch dann befriedigen können, wenn sie sich in Situationen befinden, in denen andere über ihre Erlebnisse berichten. Noch auffälliger scheint es, dass Zeit, Energie und Emotionen für diese Kommunikationssituationen aufgebracht werden, wohl wissend, dass die dargestellten Erlebnisse von anderen Menschen erfunden wurden. Wenngleich es auf den ersten Blick naheliegend erscheint, sich Aktivitäten zu widmen, die größeren Einfluss auf das eigene Leben haben, sehen Menschen dennoch gute Gründe, sich mit derartigen imaginierten Erlebnissen auseinanderzusetzen. Es bieten sich Potenziale, diese Erlebnisse als Erfahrungen kognitiv und emotional zu verarbeiten, ein Sinnbedürfnis zu befriedigen, „das auch den Umgang mit der Vergänglichkeit und der Angst vor einer kontingent erscheinenden Wirklichkeit einschließt“ (Wolf 2002, 32), und Möglichkeiten für das simulierende Imaginieren und Probehandeln zu eröffnen.

Als zentrale Form der kommunikativen Vermittlung von Erlebnissen und Erfahrungen hat sich das Erzählen herausgebildet, dessen wahrscheinlichster Ursprung im Mündlichen liegt (vgl. Wolf 2002, 36). Mündliches Erzählen lässt sich als stimmlich-somatische, im „Hier-und-Jetzt“ (Olhus 2017, 76) realisierte kommunikative Gattung verstehen, als Bündel verschiedener diskursiver Praktiken, durch die „in Interaktion mit einem oder mehreren Zuhörern vergangene oder fiktive Ereignisse/Vorgänge“ (Olhus 2017, 76) versprachlicht werden. Die Sprachwissenschaft betrachtet diese narrativen Praktiken vor allem im Kontext alltagssprachlicher Situationen, dies sowohl in privaten (Familie, Freundeskreis) als auch in institutionellen Settings (Arbeit, Therapie, Unterricht, Behörden usw.). Aus literatur- und medienwissenschaftlicher Perspektive lässt sich das mündliche Erzählen vor allem in Gestalt spezifischer künstlerisch-darstellender Erzählereignisse betrachten, wie beispielsweise der Epenerzählung oder auch dem folkloristischen oral storytelling (vgl. Fludernik 2002 [1996], 43). Solche Erzählgattungen lassen sich vor allem in primär oralen Kulturen finden und dienen nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Wissensspeicherung (vgl. Ong 2016 [1987], 132). In der gegenwärtigen westlichen Kultur, in der Schrift und aufgezeichnetes Bewegtbild zentrale Aufgaben jener Erzählereignisse übernommen haben, gewinnt vor allem ihr Status als künstlerische Darstellung an Bedeutung. In neuerer Zeit lässt sich eine Weiterentwicklung derartiger Erzählgattungen im Bereich der Gesellschaftsspiele ausmachen: Hier ist es das Pen-and-Paper-Rollenspiel, das das mündliche Erzählen mit dem regelbasierten Spiel in eine produktive Verbindung bringt.

Verkürzt lassen sich Pen-and-Paper- oder Tabletop-Rollenspiele (engl.: tabletop role-playing game, kurz TRPG)1 als Spielform definieren, in der die Beteiligten die Rolle von Figuren übernehmen und ihr Handeln mittels mündlicher Kommunikation darstellen und ausspielen. Einer oder eine der Beteiligten übernimmt zumeist die Rolle des Spielleiters/der Spielleiterin und beschreibt verschiedene Situationen, in denen die Figuren interagieren können (vgl. Grouling Cover 2010, 168). Spielleitende regeln darüber hinaus die Anwendung eines Spielsystemswährend des Spielprozesses, das herangezogen wird, um den Ausgang einzelner Interaktionen zu bestimmen (vgl. Bowman 2010, 11). Die Kombination aus dem Ausspielen der Figur und der Situationsbeschreibung ermöglicht es den Teilnehmenden, je nach Rezeptions- und Spielpräferenz das dargestellte Geschehen als Erzählung wahrzunehmen. Damit lässt sich das Pen-and-Paper-Rollenspiel unter anderem als „collaborative storytelling game“ (Bienia 2016, 153) begreifen, das aufgrund seiner Strukturierung verschiedene Beziehungen zu anderen Erzählformen und -medien herstellt. Wenngleich einige Versuche existieren, das Erzählen in Pen-and-Paper-Rollenspielen näher zu beschreiben und zu kategorisieren (vgl. Grouling Cover 2010; Mackay 2001; Schmidt 2012), findet sich noch kein konsistentes narratologisches Modell, das die erzählerische Kommunikation sowie zentrale narrative Praktiken systematisiert.

KollaborativesErzählen im Speziellen, aber auch mündliches Erzählen im Allgemeinen wollen jedoch gelernt sein. Die Erzählerwerbsforschung geht davon aus, dass sich die Erzählkompetenz als Teilbereich einer allgemeinen sprachlichen Kompetenz (vgl. Becker 2017, 336) im frühkindlichen Alter ausbildet. Gerade die Entwicklung von Phantasiegeschichtenist dabei eng an andere Formen der Fiktionalisierung gebunden, beispielsweise das Kinderspiel, in dem reale Handlungsmuster imaginativ stereotypisiert und generalisiert werden (vgl. Becker 2017, 340). In der medialen Sozialisation wird der Erzählerwerb zudem durch angeeignete narrative Repertoires gesteuert (vgl. Dehn et al. 2014), die durch die verschiedenen Erfahrungen, die die Menschen mit unterschiedlichen fiktional-narrativen Darstellungen machen, erlangt werden.

Die Erzählkompetenz, die die Fähigkeit des eigenen (sprachlichen) Erzählens umfasst, ist nicht das Einzige, was Menschen für den kompetenten Umgang mit Erzählungen benötigen. Genauso entscheidend ist es, Erzählungen unter verschiedenen Bedingungen und Voraussetzungen zu verstehen. Verstehen bedeutet dabei nicht nur das grammatikalische Decodieren von Zeichen, sondern kann in verschiedenen Situationen, in denen wir mit narrativen Darstellungen in Berührung kommen, auch als selbstreflexive und sinndeutende Tätigkeit beschrieben werden – eine Position, die gerade von literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Ansätzen vertreten wird. Das Erzählen erscheint hier als künstlerisch-ästhetischer Akt, der in seiner Rezeption immer Räume zum individuellen Imaginieren, Interpretieren und Bewerten bereithält. Diese Räume zu nutzen, erfordert in gleicher Weise wie das Erzählen selbst gewisse Kompetenzen, die im Umgang mit künstlerisch-darstellenden Erzählungen, aber auch anderen künstlerischen Formen erworben werden. Dass die Erzählung in der Förderung dessen, was die Literaturdidaktik summierend als literarische Kompetenz bezeichnet, eine besonders Stellung einnimmt, zeigen neuere literaturdidaktische Ansätze, die sie als zentrale Größe in Modellen literarischen Lernens verorten (vgl. u. a. Boelmann und König 2021, 16). Die literarische Erzählung gilt hier als Ausgangspunkt, um verschiedene Teilbereiche literarischen Verstehens zu fördern, sei es die Perspektiven literarischer Figuren nachzuvollziehen, die (sprachlich-)ästhetischen Gestaltungsformen zu erkennen, die Fiktionskompetenz auszubilden oder die eigene Vorstellungsbildung zu fördern.

In einer narratologischen Betrachtung gemeinsamer Erzählereignisse, wie sie das Pen-and-Paper-Rollenspiel bereithalten kann, können derartige Verstehensprozesse offenlegt werden, was vor allem im komplexen Wechselspiel aus narrativer Rezeption und Produktion begründet liegt. Aufgrund dieses Wechselspiels ist es nicht ausreichend, lediglich äußere Eigenschaften der Kommunikation sowie die narrativen Praktiken zu systematisieren, die im Spielprozess des Pen-and-Paper-Rollenspiels auftreten, sondern auch die Verstehensoperationen auf den Grund zu gehen, die die Teilnehmenden des Spiels externalisieren. Hieraus ergibt sich zugleich ein Ansatzpunkt für eine literaturdidaktische Konzeptualisierung des Pen-and-Paper-Rollenspiels, der das Erzählen als zentralen Aspekt des literarischen Lernens auffasst. Das Untersuchungsfeld bietet somit eine produktive Verknüpfung zwischen Narratologie und Literaturdidaktik, der im Rahmen des vorliegenden Bandes nachgegangen werden soll.

1.1 Rollenspiele und Erzähltheorie


Als Form des Gesellschaftsspiels lässt sich das Pen-and-Paper-Rollenspiel als analoges Spiel klassifizieren, ein Begriff, der im interdisziplinären Feld der Game Studies in Abgrenzung zum digitalen Spiel entwickelt wurde. Analogen Spielen, zu denen auch Brett- und Kartenspiele gezählt werden können (vgl. Booth 2021, 4), ist gemein, dass sie zum einen erst durch die Aktivität von Menschen zustande kommen, die als „computational platform“ (Torner 2021) für die Verarbeitung und Realisierung verschiedener Spielhandlungen fungieren. Zum anderen werden zur Durchführung des Spiels physisch präsente Materialien benötigt, um zentrale Darstellungs- und Spielzustände abzubilden (vgl. Torner 2021).

Das Pen-and-Paper-Rollenspiel, das Anfang der 1970er Jahre zuerst in spezifischen Fan- und Subkulturen Anklang fand, stellt kein isoliertes, neuartiges Spielkonzept dar; es entstand vielmehr aus der Modifikation und Erweiterung etablierter Spielformen, die gleichzeitig an andere mediale Gattungen und Genres anbindbar waren (vgl. Deterding und Zagal 2018a, 29). Die umfangreiche Forschung, die bereits zur Geschichte des Themenfeldes erfolgt ist (vgl. Appelcline 2014a [2013]; 2014b [2013]; 2014c [2013]; 2014d [2013]; Hillenbrand und Lischka 2014; Mona 2007; Peterson 2012; Peterson 2018), verortet das Pen-and-Paper-Rollenspiel als Abkömmling der historischen Kriegssimulation (Wargame) mit thematischen Anleihen aus der ab Ende der 1960er Jahre populären...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2023
Reihe/Serie ISSN
ISSN
Narratologia
Narratologia
Zusatzinfo 8 b/w and 4 col. ill.
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Erzähltheorie • Game Studies • literary pedagogy • Literaturdidaktik • Narrative theory • tabletop role-play • Tabletop-Rollenspiel
ISBN-10 3-11-078900-0 / 3110789000
ISBN-13 978-3-11-078900-3 / 9783110789003
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