Ich höre dich (eBook)
208 Seiten
Riva Verlag
978-3-7453-2102-9 (ISBN)
Dr. med. Veronika Wolter ist Chefärztin der Helios Hörklinik in München, Chirurgin und Fachärztin für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. Sie ist verheiratet und Mutter zweier Kinder. Mario Weidemann, Jahrgang 1977, ist als Autor und Textchef tätig. Der freiberufliche Redakteur lebt mit seiner Familie in Wörth am Rhein.
Dr. med. Veronika Wolter ist Chefärztin der Helios Hörklinik in München, Chirurgin und Fachärztin für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. Sie ist verheiratet und Mutter zweier Kinder. Mario Weidemann, Jahrgang 1977, ist als Autor und Textchef tätig. Der freiberufliche Redakteur lebt mit seiner Familie in Wörth am Rhein.
Kapitel 1
Wieder hören
Zurück im Leben
Das Erste, was ich wahrnahm, war ein Klicken. Ein mechanisches Klickgeräusch mitten in meinem Kopf. »Zzzzzrrrrrrrrt!« So als würde ich den alten Kassettenrekorder aus meiner Kindheit einschalten. Dann folgte Stille. Eine lange, schier unerträgliche Stille. In Wahrheit müssen es nur Bruchteile von Sekunden gewesen sein, doch es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Ich saß in einem der Behandlungszimmer des Deutschen Hörzentrums Hannover und versuchte angestrengt, in diesem erdrückenden Schweigen irgendeinen Laut zu erhaschen. Intuitiv griff ich mit meiner linken Hand an mein Ohr. Tut sich da was? Nichts. Oder doch ...? Nein. Nichts. Die weißen Wände und der schwarze Teppich kamen mir in diesem Moment noch viel trostloser vor. Endlich hörte ich etwas. Ein leises, gleichmäßiges Rauschen, das ich anfangs nicht zuordnen konnte. Als mir bewusst wurde, was dies für ein Geräusch war, konnte ich es kaum glauben – das war mein Atem. Mein eigener Atem. Ich spürte nicht nur, wie sich meine Lunge mit Luft füllte, wie das Zwerchfell sich beim Einatmen zusammenzog und gemeinsam mit den Rippenmuskeln den Brustkorb auf und ab sinken ließ. Nein, ich hörte es auch. Ich konnte hören, wie ich atme. Ich hörte mir selbst zu. Das erste Mal seit 20 Jahren. Mein Puls schoss augenblicklich in die Höhe, mein Herz begann wie wild zu pochen. Sofort hatte ich die Bilder aus meiner Kindheit vor Augen. Damals, als mir von meinem behandelnden Arzt mit wenigen kühlen Worten erklärt wurde, dass ich so gut wie taub sei und keine Operation der Welt mir jemals helfen würde, wieder zu hören. Mir kamen all die Momente in den Sinn, in denen ich mir meine Ohren mit einem Kugelschreiber blutig kratzte, weil die Hörgeräte so sehr im Gehörgang juckten, dass ich wahnsinnig wurde. All die Momente, in denen ich weinend in meinem Zimmer saß, allein und isoliert, weil ich nun mal anders war als die anderen und niemand den Menschen in mir sah, der ich war, sondern nur die, die nie etwas verstand. Das Nächste, was ich realisierte, war das Klopfen meiner Finger. Wie so oft lagen meine Hände auch jetzt auf den Oberschenkeln und trommelten nervös auf den Beinen herum. Mir war nicht mehr bewusst gewesen, dass die Fingerkuppen dabei einen dumpfen Ton von sich geben.
Erst jetzt sah ich in das Gesicht des Audiologen, der mir gegenüber vor einem Bildschirm saß, blickte nach links zur anwesenden Logopädin. Beide starrten mich an, warteten fieberhaft auf irgendeine Reaktion. Ich wusste, dass mein Cochlea-Implantat aktiv war, dass mein neues linkes Ohr funktionierte, noch bevor einer von beiden auch nur ein einziges Wort zu mir sagte. Meine Augen füllten sich mit Tränen.
Ich hatte im April 2009, fast ein Jahr zuvor, eine der begehrten Stellen in der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und des Deutschen Hörzentrums Hannover als Assistenzärztin ergattert – trotz meiner Schwerhörigkeit. Ich war 26, hatte meinen Doktortitel in der Tasche und war hier, um zu lernen. Und um Menschen wie mir zu helfen. Jetzt war ich die Patientin. Ich hatte seit Beginn meines Dienstes ehrlich gesagt unterschätzt, wie schlecht ich mittlerweile hörte. Gab es keine gute Akustik im Raum und obendrein zu viele Nebengeräusche, konnte ich einem normalen Gespräch kaum noch folgen. Selbst mit meinen neuen Hinter-dem-Ohr-Geräten (HdO) stieß ich an meine Grenzen. Ängstlich und aufgeregt zugleich saß ich darum in dem dreigeschossigen EtCetera-Gebäude, dem Hörzentrum der Medizinischen Hochschule Hannover mit der schneeweißen Kunststoffpaneelfassade, und starrte aus diesen trapezförmigen Fenstern, die sich nicht öffnen ließen. Vier Wochen zuvor war ich vom Chefarzt der Klinik selbst operiert worden, gemeinsam mit dem leitenden Oberarzt. Allerdings erst einmal nur am linken Ohr. Ich kann mich noch genau an dessen Worte erinnern: »Sie müssen damit rechnen, bei diesem Eingriff auch noch das letzte bisschen an Restgehör zu verlieren.« Ein Hörgerät, das die Hörleistung unterstützt, ist eine Sache. Ein Cochlea-Implantat, kurz CI, eine völlig andere. Nach diesem Eingriff ist normales Hören schlicht nicht mehr möglich, weil dabei die Hörschnecke durch das Implantieren einer Elektrode irreparabel zerstört werden könnte. Kurz gesagt: Du bist taub! Aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt längst keine andere Wahl mehr. Mit gängigen Hörgeräten war ein normales Leben nicht mehr möglich, geschweige denn eine Karriere als Ärztin. Ob der Eingriff gelungen war, sollte ich allerdings erst an diesem Montag erfahren. Endlich würde ich selbst erleben, was ich monatelang bei meinen eigenen Patienten gesehen, gelesen und beobachtet hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich vom Audiologen den Chip mit dem daran hängenden Kabel in die Hand bekam.
Die Hörprothese besteht aus zwei Hauptkomponenten: dem Audioprozessor und dem Implantat. Der Audioprozessor wird extern getragen. Er nimmt die Schallinformationen auf und sendet sie an das Implantat. Dieses sitzt hinter dem Ohr unter der Haut und verarbeitet die Informationen. Das Implantat enthält einen Elektrodenträger, der in die Hörschnecke (Cochlea) eingesetzt wird, daher der Name. Wir mussten ein wenig suchen, bis wir den Magneten des Implantates in meinem Kopf fanden. Er war deutlich weiter hinten als normal platziert. Der Chefarzt hatte diese Position wählen müssen, weil durch vorige Operationen der ursprüngliche Platz sozusagen nicht mehr verwendbar war. Es war eben auch schon erstaunlich viel Knochen weggebohrt worden. Endlich hatten wir den Kontakt zu diesem Wunderwerk der Technik. Der Audiologe schaltete das Implantat an. Es war ein Alles-oder-nichts-Moment. Entweder es funktionierte oder ich blieb für immer taub. Es machte wie gesagt »Zzzzzrrrrrrrrt!« und es war an. ES WAR AN!
Ich hatte im Vorfeld versucht, mir durch die Gespräche mit anderen Patienten vorzustellen, wie sich mein Umfeld mit dem Cochlea-Implantat anhören würde. Wie mein Gegenüber klingt, wie ich klinge. Ich dachte, dass ich bestens vorbereitet wäre, und dennoch hatte ich keine Ahnung, was mich erwartete. Als die Logopädin im Raum mich das erste Mal ansprach, sah ich zwar, dass sie ihren Mund bewegte, aber das konnte unmöglich ihre Stimme sein. Sie klang wie Micky Maus, die einen Heliumballon eingeatmet hatte. Hoch, schrill, verzerrt und so lustig. Sie hörte sich wirklich an wie eine Comicfigur aus einem Trickfilm. »Veronika, hörst du mich? Sag doch was!« Das war zu viel. Diese hochseriöse Expertin und dazu diese Quiekstimme: Ich fing an zu lachen. Zuerst versuchte ich noch, das Kichern zu unterdrücken, aber dann brach es aus mir heraus. Ich lachte so laut und herzlich wie schon lange nicht mehr. Meine vorigen Freudentränen hatten sich längst in Lachtränen verwandelt. Und je mehr sie sprach, desto weniger konnte ich an mich halten. Die Erleichterung darüber, dass ich nicht nur meinen Atem, sondern auch mein Gegenüber hören konnte, tat ein Übriges. Die Anspannung der letzten Wochen, die Ängste, der Kummer. Es war eine Achterbahn der Gefühle. Mich selbst sprechen und lachen zu hören, entschärfte die Situation nicht gerade. Ich klang wie sie. Zwei Micky Mäuse auf Helium. Es war zum Brüllen komisch.
Als ich mich von diesem Lachkrampf schließlich erholt hatte, begann die Logopädin zügig mit der ersten gemeinsamen Hörtrainingssitzung. Sie war ausgezeichnet in ihrem Job. Auch wenn die Stimmen noch verzerrt waren, die Geräusche um mich herum klangen fast normal. Sie begann als Erstes damit, mit ihrer Hand sanft über die Tischplatte zu streichen, hin und her. Es war ein hochfrequentes, leises Geräusch. Ich konnte mich nicht erinnern, so ein Geräusch überhaupt jemals gehört zu haben. Dann erst begriff ich, was man alles hören kann. Und welche Klangvielfalt ich seit meiner Kindheit verpasst hatte. Ich bekam eine Gänsehaut. Wir testeten anschließend den Klang von Instrumenten. Eine Rassel, eine Trommel. Sie spielte diese Instrumente hinter meinem Rücken. Zwar klangen die Töne irgendwie fremd, aber eben auch vertraut. Ich versuchte mich dabei an meine Kindheit zu erinnern, noch bevor mich die Hirnhautentzündung in die Stille verbannen sollte. Wie müsste eine Trommel klingen? Wie eine Rassel? Jeder Klang hat einen Wiedererkennungswert. Ich kenne diese Klänge, ich konnte ja mal hören. Ich musste mich nur wieder daran erinnern, wie das geht. Ich begann die Töne zu vergleichen und merkte, wie mein Gehirn sich Stück für Stück neu sortierte. Es klappte besser als erwartet. Ich erriet die meisten Instrumente auf Anhieb richtig. Danach holte die Logopädin aus der Schublade eine Art Holzring, der mit einem löchrigen Stoff überzogen war. Dieser Stoff dämpfte zwar nicht ihre Helium-Micky-Maus-Sprache, verdeckte allerdings das Mundbild, damit ich nicht durch Lippenlesen kombinieren konnte, was sie sagte. Wir testeten die unterschiedlichsten Laute und Vokale. S-Laute. Zischlaute. Ich musste Sätze wie »Baat Beet...
Erscheint lt. Verlag | 21.5.2023 |
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Co-Autor | Mario Weidemann |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Krankheiten / Heilverfahren | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ärztin • Behinderung • Chefärztin • Cochlea • Hilfe • HNO • Hörgerät • Hörgeschädigt • Implantat • iPhone • Karriere • Klinik • Krankheit • Medizin • Schicksal • Schwerhörig • Schwerhörigkeit • Taubheit • Tinnitus • Willensstärke |
ISBN-10 | 3-7453-2102-2 / 3745321022 |
ISBN-13 | 978-3-7453-2102-9 / 9783745321029 |
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