Systemische Beratung in der Extremismusprävention (eBook)
304 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-041370-2 (ISBN)
Dr. Vera Dittmar ist wissenschaftliche Leiterin der Forschungsstelle Deradikalisierung (FORA). Die Forschungsstelle begleitet die auf Deradikalisierung spezialisierte Beratungsorganisation 'Grenzgänger' und forscht in Kooperation mit dem Forschungszentrum 'Migration, Integration und Asyl' des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Dr. Vera Dittmar ist wissenschaftliche Leiterin der Forschungsstelle Deradikalisierung (FORA). Die Forschungsstelle begleitet die auf Deradikalisierung spezialisierte Beratungsorganisation "Grenzgänger" und forscht in Kooperation mit dem Forschungszentrum "Migration, Integration und Asyl" des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
1 Einleitung
In vergleichsweise kurzer Zeit hat sich in Deutschland eine pädagogische Fachpraxis zur Auseinandersetzung mit demokratiefeindlichen und gewaltbefürwortenden Varianten des ,Islamismus' herausgebildet. Während in der öffentlichen Debatte vor allem der 11. September 2001 fokussiert wird, steht die Entwicklung der pädagogischen Fachpraxis im Zusammenhang mit drei Entwicklungen, die etwa ab dem Jahr 2005 einsetzten (Schau et al. 2018): Erstens waren die Unterstützer*innen von Terroranschlägen wie u. a. die Mitglieder der sog. Sauerlandgruppe2 anders als vorherige Terrorist*innen in Deutschland bzw. in Europa aufgewachsen. Zweitens setzte die erste Ausreisewelle von jihadistisch motivierten Menschen von Deutschland nach Afghanistan und später nach Syrien ein. Und drittens entwickelte sich parallel dazu im deutschen Raum eine salafistische Szene, die als ein wichtiges Zugangs- und Unterstützungsmilieu für den gewaltorientierten ,Islamismus' wirkt (Hummel/Rieck 2020).
Diese Entwicklungen in Kombination mit einer Serie von Anschlägen in Europa erzeugten einen Handlungsdruck, der u. a. eine Intensivierung der staatlichen Förderung für pädagogische Angebote in Beratungsstellen hervorbrachte. Obwohl es in Deutschland keine Tradition einer pädagogischen Arbeit mit der Zielsetzung der islamistischen Deradikalisierung gab, hat sich in relativ kurzer Zeit eine Fachpraxis zur pädagogischen (und psychologischen) Auseinandersetzung mit dem gewaltorientierten ,Islamismus' entwickelt. In diesem Zusammenhang ist eine Praxislandschaft an Spezialangeboten entstanden, die durch Landes- und Bundesprogramme zur Extremismusprävention und -intervention getragen werden (Dittmar/Kargl 2021; Schau et al. 2018).
Im Zentrum der Deradikalisierungs-, Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit stehen Beratungsansätze, die einer reintegrierenden Handlungslogik folgen und auf der Annahme beruhen, dass individuelle Entwicklungsverläufe nicht linear und somit grundsätzlich offen sind. Daher kann über Beratungsimpulse eine Abkehr von problematischen Entwicklungen angeregt werden (Schau et al. 2018).
Diese reintegrierende Handlungslogik als Grundlage einer Beratung zur Deradikalisierung bzw. Distanzierung oder zum Ausstieg ist nicht nur für den Phänomenbereich des islamistischen Extremismus sinnvoll, sondern eignet sich auch für weitere Phänomenbereiche wie u. a. den Rechtsextremismus, bei Verschwörungstheorien sowie beim Evangelikalismus. Wobei zu beachten ist, dass sich alle Phänomenbereiche auf spezifische Ideologien berufen und daher ihren Anhänger*innen jeweilig angepasste Wahrnehmungs-, Erklärungs- und Handlungsmuster anbieten. Für Beratende ist es wesentlich, diese ideologischen Narrative und Muster zu kennen, um Beratungsimpulse zu entwickeln, die die individuellen Herausforderungen von Klient*innen sinnvoll mit den spezifischen Herausforderungen des Phänomenbereiches kombinieren. Daher sollten Beratende nicht nur über Fachwissen, sondern auch über ausreichend Erfahrungs- und Praxiswissen über den jeweiligen Bereich verfügen. In diesem Handbuch wird dieses umfassende Wissen für den Phänomenbereich des islamistischen Extremismus vorgestellt. Obwohl es zwischen den Ideologien und Handlungsmustern der oben dargelegten differenten Phänomenbereiche zahlreiche Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten, gibt, wird argumentiert, dass sich die im Handbuch vorgestellte systemische Beratung für alle genannten Phänomenbereiche eignet. Denn diese Passung zeigt sich sowohl in der aktuellen Beratungspraxis in Deutschland als auch in den vielfältigen Gastbeiträgen, in denen Praxisbeispiele der systemischen Beratung für die Bereiche Rechtsextremismus, Verschwörungstheorien und Evangelikalismus vorgestellt werden. Obwohl die systemische Beratung also auf all diese Phänomenbereiche anwendbar ist, liegt der Fokus in diesem Handbuch jedoch auf dem islamistischen Extremismus, um die praktische Ausgestaltung der systemischen Beratung für einen Phänomenbereich vertieft zu durchdenken. Dennoch kann dieses Handbuch auch für Beratende aus weiteren Phänomenbereichen wertvolle Impulse geben.
Für die Problemstellung und Klient*innenkonstellation der Distanzierungsberatung eignet sich die systemische Beratung insbesondere dadurch, dass diese viele Elemente anderer Beratungsansätze integriert (u. a. das Prinzip der Lösungsorientierung des lösungsorientierten Beratungsansatzes). Noch wichtiger für die Eignung ist jedoch, dass das Spektrum der Zielgruppen häufig Personen beinhaltet, die sich nicht beraten lassen wollen, da aus ihrer Sicht die Anbindung an die islamistische Ideologie eine Lösung für ihre aktuelle Herausforderung darstellt und sie daher gerade kein Interesse an einer Beratung haben – während die Familie oder auch der soziale Nahraum i. d. R. sehr besorgt auf extreme Verhaltensweisen reagieren und dringend an einer Beratung interessiert sind. Hier kommt der spezifische Vorteil der systemischen Beratung zum Tragen, dass ein Problem wie eine Radikalisierung nicht als Wesensmerkmal einer Person angesehen wird, sondern »als Geschehen, an dem viele verschiedene miteinander interagierende Menschen beteiligt sind« (von Schlippe/Schweitzer 2017: 7). Der systemischen Beratung liegt dementsprechend ein kontextuelles Verständnis von Problemen und auch von Interventionsmöglichkeiten zugrunde (Nicolai 2018b), und hierbei stehen insbesondere die Beziehungen zwischen den beteiligten Personen im Fokus: Wenn es also nicht möglich ist, die sich radikalisierende Person direkt zu beraten, dann wird bspw. über die Beziehung zwischen Mutter und Sohn gearbeitet, sodass im Vergleich zu anderen Beratungsansätzen eine deutlich höhere Erreichbarkeit ermöglicht wird.
Ein weiterer Vorteil der systemischen Beratung ist, dass sie gerade für die Herausforderungen biografischer Krisen ein umfangreiches Methodenrepertoire entwickelt hat. Das ist insofern von Bedeutung, als biografische Krisen in Kombination mit fehlenden individuellen Handlungsressourcen als eine Ursache von Radikalisierung angesehen werden (Glaser/Herding/Langner 2018).
Die systemische Beratung hat sich von der ursprünglichen Orientierung auf das Familiensystem gelöst und deutlich in ihrer Ausrichtung erweitert, bspw. wird nun die systemische Pädagogik als Modell im Erziehungs- und Sozialwesen verwendet (Voss 2006) und die Beratung umfasst nun das Feld der Führungskräfte-, Team- und Organisationsberatung. Diese Ausweitung der ursprünglichen Ausrichtung ist insofern relevant, als sich für eine Distanzierungsberatung nicht nur Familienangehörige, sondern auch Fachkräfte aus Jugendamt, Schulen und auch Gefängnissen melden. Die hier bereits entwickelten systemischen Konzepte und Methoden sind auf die Herausforderungen der Distanzierungsarbeit übertragbar.
In ihrer Gesamtheit kann davon ausgegangen werden, dass die systemische Beratung (mit ihrer direkten, aber auch indirekten Arbeit über Bindungen, ihrem Umgang mit biografischen Krisen, ihrem Fokus auf das Familiensystem und ihrer Erweiterung auf soziale Systeme) besonders für die Deradikalisierungsarbeit im islamistischen Kontext geeignet ist. Wobei diese Annahme dadurch untermauert wird, dass im Jahr 2008 die Anerkennung der systemischen Beratung und Therapie als wissenschaftliches Verfahren erfolgte und im Jahr 2019 die systemische Therapie sogar die Anerkennung als sog. »Richtlinienverfahren« erhielt, sodass systemische Therapie als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden darf.3
Neben diesen theoretischen Argumentationen gibt es praktische Erwägungen für eine Entscheidung für die systemische Beratung. So haben spezialisierte Beratungsstellen für Deradikalisierung im islamistischen Kontext (u. a. in Hamburg, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz) für sich einen systemischen Beratungsansatz ausgewählt.4 Und auch die Erfahrungen der Autorin als systemische Beraterin für Deradikalisierung im Kontext ,Islamismus' spricht für die Wahl.
Um im Themenfeld der Deradikalisierung Beratungen durchführen zu können, wird handlungsfeldspezifisches Fachwissen in den folgenden Bereichen benötigt:
- ·
Radikalisierung (Ursachen, Verläufe, Narrative des ›Islamismus‹ etc.),
- ·
Deradikalisierung (Prozesse, Zielgruppen) und
- ·
Vernetzung (weitere Akteure im Feld).
Dieses grundlegende Wissen wird in den Kapiteln 2 bis 6 dieses Handbuches skizziert.
Zudem benötigen Berater*innen spezifische Fähigkeiten, um über ihre Persönlichkeit und ihr Beratungswissen eine tragbare Arbeitsbeziehung zur Klientin*zum Klienten aufzubauen, die die Grundlage einer jeden Beratung darstellt. Zur Etablierung einer solchen Arbeitsbeziehung benötigt die*der Berater*in dem systemischen Beratungsansatz zufolge
- ·
eine systemische Haltung,
- ·
das »Denken im System« sowie
- ·
systemische Methoden.
Anders als in der Medizin reicht es hier jedoch nicht, ein Medikament (in diesem Fall: eine Methode) anzuwenden. Denn erst...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2023 |
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Zusatzinfo | 34 Abb., 5 Tab. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
Schlagworte | Fortbildung • Islamismus • Radikalisierung |
ISBN-10 | 3-17-041370-8 / 3170413708 |
ISBN-13 | 978-3-17-041370-2 / 9783170413702 |
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