Ich will sterben, aber Tteokbokki essen will ich auch (eBook)
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01758-0 (ISBN)
2 Bin ich eine krankhafte Lügnerin?
Ab und zu lüge ich. Das geht so weit, dass ich mit meinen eigenen Lügen nicht mehr hinterherkomme. Ein Beispiel: Als Praktikantin war ich mit meinem Vorgesetzten Mittagessen, und das Thema Reisen kam auf. Mein Chef fragte mich, welche Länder ich schon bereist hätte. Ich war bis dahin noch nie im Ausland gewesen und schämte mich dafür. Also log ich und sagte, ich sei schon in Japan gewesen. Für den Rest des Mittagessens hatte ich Angst, mein Chef könnte mir Fragen über Japan stellen.
Ich bin richtig gut darin, mich emotional einzubringen, und ich bin sehr einfühlsam, setze mich aber auch unter Druck, einfühlsam sein zu müssen. Also lüge ich, wenn jemand etwas mit mir teilt, und behaupte, dass ich schon Ähnliches durchgemacht habe. Ich lüge, um mitfühlend zu wirken, um andere zum Lachen zu bringen oder um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, und ich verurteile mich dafür.
Es waren alles nur kleine Lügen, belanglos genug, um nicht aufzufliegen, aber es waren viele. Ich schwor mir, damit aufzuhören, auch mit den eher nebensächlichen Flunkereien. Aber eines Abends, als ich betrunken war, log ich eine Freundin an. Die Lüge war so beschämend, dass ich es nicht ertrage, sie hier in Worte zu fassen. Und diese eine Lüge ruinierte alle Anstrengungen, die ich unternommen hatte, um mein Verhalten zu ändern.
Therapeut: Wie ist es Ihnen seit unserer letzten Sitzung ergangen?
Ich: Nicht gut. Gar nicht gut. Bis Donnerstag war es wirklich schlimm, seit Freitag oder Samstag geht es etwas besser. Ich schätze, ich muss Ihnen wirklich alles erzählen, wenn das hier gut laufen soll, oder?
Therapeut: Nur wenn Sie sich damit wohlfühlen.
Ich: Glauben Sie, ich werde jemals in der Lage sein, meine überzogenen Ansprüche an mich selbst runterzuschrauben?
Therapeut: Wenn Sie genügend Selbstwertgefühl entwickeln, ja. Womöglich werden Sie dann feststellen, dass Perfektionismus oder unrealistische Ansprüche für Sie nicht mehr von Belang sind.
Ich: Werde ich da jemals hinkommen?
Therapeut: Vermutlich ja.
Ich: Ich habe das Gefühl, dass ich ein überzogenes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit habe. Ich will, dass die Leute denken, dass ich besonders bin, und deshalb lüge ich. Wenn ich eine Geschichte erzähle, übertreibe ich, weil ich die anderen zum Lachen bringen will. Wenn ich jemandem zeigen will, dass ich einfühlsam bin, sage ich Sachen wie: «Das habe ich auch durchgemacht.» Danach fühle ich mich schuldig. Deshalb versuche ich, nicht mehr zu lügen, auch nicht, wenn es um Kleinigkeiten geht. Aber nach der Sitzung am letzten Freitag war ich mit einer Freundin etwas trinken und habe gelogen.
Therapeut: Weil Sie wollten, dass Ihre Freundin Mitleid mit Ihnen hatte?
Ich: Nein. Ich glaube, es ging mir nur um ihre Aufmerksamkeit. Es war keine mitleiderregende Geschichte.
Therapeut: Glauben Sie, Sie hätten gelogen, wenn Sie nicht betrunken gewesen wären?
Ich: Auf keinen Fall.
Therapeut: Dann haben Sie nur ein bisschen geflunkert, weil Sie betrunken waren. Vergessen Sie’s einfach.
Ich: (Ich bin überrascht.) Ich soll es einfach vergessen? Ist das nicht irgendwie krank?
Therapeut: Natürlich nicht. Wir lügen oft, wenn unsere kognitiven Fähigkeiten aus irgendeinem Grund beeinträchtigt sind. Etwa im betrunkenen Zustand. Sie wissen sicher, wie eingeschränkt unser Gedächtnis und Urteilsvermögen nach ein paar Drinks sind. Wir fangen unbewusst an zu lügen, um die Lücken zu füllen. Wie oft haben Sie schon betrunkene Menschen gesehen, die davon überzeugt waren, sie seien kaum betrunken? Wir ertappen uns dann auch dabei, zusammenhanglos daherzureden.
Ich: Also bin ich okay?
Therapeut: Das sind Sie. Wenn wir betrunken sind, lassen wir locker. Wir bezeichnen das auch als Enthemmung. Alkohol und Drogen bringen das mit sich. Wir verhalten uns, wie wir es sonst nicht tun würden. Also hängen Sie sich daran nicht zu sehr auf. Sagen Sie sich einfach: «Ich werde beim nächsten Mal nicht so viel trinken», und hören Sie auf zu grübeln.
Ich: Ich glaube, dass ich mich in letzter Zeit weniger lang an solchen Dingen aufhalte.
Therapeut: Lernen Sie, es eher auf den Alkohol zu schieben statt auf sich. Sie haben selbst gesagt, dass Sie ohne Alkohol nicht gelogen hätten.
Ich: Aber bin ich nicht gerade dann eine krankhafte Lügnerin?
Therapeut: Nein, Sie waren einfach nur betrunken.
Ich: Ich bin so neidisch auf Menschen, die kein dummes Zeug daherreden, selbst wenn sie betrunken sind.
Therapeut: Gibt es so jemanden wirklich? Ich nehme an, es gibt eher Menschen, die einschlafen, wenn sie betrunken sind. Aber auch die würden dummes Zeug reden, wenn der intermediäre ventrale Nukleus im Gehirn sie nicht vorher einschlafen ließe. Alle anderen vertragen womöglich einfach mehr Alkohol.
Ich: Hm … Letzte Woche haben Sie mir gesagt, dass ich ein aufrichtiger Mensch sein will, weil ich gut bin. Aber ich glaube eher, dass ich ehrlich sein will, weil ich es eben nicht bin.
Therapeut: Sie sind bereits davon überzeugt, dass Sie unehrlich sind. Wenn Sie unrealistische Ansprüche an sich selbst stellen, werden Sie immer Gründe finden, warum Sie nicht gut genug sind, sondern jemand, der unendlich viel an sich zu verbessern hat. Die Geschichte mit dem Alkohol ist ein gutes Beispiel. Wir trinken aus einem einzigen Grund: um betrunken zu sein. Sie aber beneiden Menschen, die trinken und dann nicht betrunken sind.
Ich: Es ist so offensichtlich, wenn Sie das so sagen! Übrigens wollte ich diese Woche kündigen. Ich war furchtbar gestresst. Am Mittwoch bin ich mit ein paar Freund:innen etwas trinken gegangen und habe festgestellt, dass es mir im Verlag besser geht als den anderen mit ihrer Arbeit, ich meine, ich mag sogar meine Vorgesetzte. Weil es meinen Freund:innen bei der Arbeit aber nicht gut ging, habe ich mich zurückgenommen, das hätte undankbar gewirkt. Dabei habe ich doch auch Probleme auf der Arbeit! Ich saß also nur stumm da und habe mir die Sorgen der anderen angehört. Alle haben es schwerer als ich, meine Freund:innen, meine Kolleg:innen, wirklich alle. Trotzdem hat es sich unfair angefühlt, dass ich nichts von mir erzählen konnte.
Therapeut: Und Sie haben Ihren Ärger erfolgreich unterdrückt. Wie könnten Sie ihn loswerden?
Ich: Ich wollte mit meiner Vorgesetzten über meine Probleme sprechen. Aber an dem Tag hatte ich mit einer Aufgabe zu kämpfen, die sie mir gegeben hatte; erst am Nachmittag konnte ich mich überwinden und habe sie um Hilfe gebeten – und sie hat das Problem sofort gelöst. Ich war ihr so dankbar, dass ich es nicht über mich gebracht habe, mich bei ihr zu beklagen. Auch weil ich weiß, dass sie gerade selbst eine schwere Zeit durchmacht.
Therapeut: Warum sind Sie sich der Probleme anderer so bewusst?
Ich: (Der Realitätscheck kickt.) Stimmt. Wäre es nicht normaler, wenn ich nichts davon wüsste?
Therapeut: Na also, beklagen Sie sich! Lassen Sie andere wissen, wie schwer Sie es haben!
Ich: Ich weiß nicht, wie das gehen soll.
Therapeut: Beobachten Sie, wie andere es machen. Sie haben ja gerade erzählt, dass die anderen über ihre Probleme sprechen; deswegen wissen Sie davon. Ich kann mir vorstellen, dass Sie die Sorte Mensch sind, die andere nach ihren Problemen fragt, selbst wenn es ihnen gut geht.
Ich: (Ich breche in Tränen aus.) Sie meinen, ich tue nur so, als wäre ich nett?
Therapeut: Sie sind nett. Dagegen können Sie gar nichts machen.
Ich: Ich glaube nicht, dass es Nettigkeit ist. Ich glaube, es ist … irgendwie erbärmlich.
Therapeut: Sie versuchen, Ihre eigenen Schwierigkeiten beiseitezuschieben, indem Sie sich einreden, Sie seien besser dran als die anderen. In dieser Welt gibt es so viel Leid, dass es leichtfällt, Menschen zu finden, die es schwerer haben. Wenn Sie dann so jemanden identifiziert haben, schelten Sie sich übermäßig: «Wie konnte ich so blind sein, dass ich die Probleme dieses oder jenes Menschen bisher nicht wahrgenommen habe?» Es ist gut, dass Sie an die Gefühle anderer denken und ihnen Aufmerksamkeit schenken. Aber ich möchte, dass Sie mehr auf sich selbst achten, auf die eigenen Gefühle. Sie sollten sich Ihren Freund:innen und Kolleg:innen mitteilen. Sagen Sie etwas wie: «Ich weiß, dass es mir in gewisser Hinsicht besser geht als dir, aber ich muss gerade auch einiges durchmachen.» Sie und Ihr Gegenüber werden sich auf diese Weise wohler miteinander...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2023 |
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Übersetzer | Lara Emily Lekutat |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Angststörung • Bestseller • Booktok • BTS • Depression • Gesprächstherapie • Hochfunktionale Depression • internationaler Bestseller • I want to die but I want to eat tteokbokki • K-Pop • Memoir • Selbsthilfe • social anxiety • soziale Ängste • Südkorea • TikTok Bestseller |
ISBN-10 | 3-644-01758-1 / 3644017581 |
ISBN-13 | 978-3-644-01758-0 / 9783644017580 |
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