Geliebte Kinder -  Maren Müller-Erichsen

Geliebte Kinder (eBook)

Eine Mutter kämpft für die Rechte von Menschen mit Behinderungen
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
248 Seiten
adeo (Verlag)
978-3-86334-860-1 (ISBN)
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'Sie haben einen Idioten geboren!' Mit diesen niederschmetternden Worten wird die frisch entbundene Mutter Maren Müller-Erichsen begrüßt. Ihr Sohn Olaf wird mit Trisomie 21, dem Down-Syndrom geboren. Zutiefst verunsichert weiß die junge Frau zunächst nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Doch beim Anblick ihres hilfsbedürftigen Säuglings erwacht ihr Kampfgeist - der sie ihr Leben lang nicht mehr verlassen wird. Als Mutter stößt sie überall auf Barrieren. Egal ob Kindergarten, Schule, Wohnung und Job - nie gibt es gute Strukturen, in denen Olaf ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben führen kann. Kämpferisch und tief betroffen von der Gleichgültigkeit und der Bürokratie geht sie ein Hindernis nach dem anderen an, kann als Vorsitzende des Vereins Lebenshilfe die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen aktiv mitgestalten und leiht als Hessische Landesbeauftragte denjenigen ihre Stimme, die nicht für sich selbst eintreten können. Der beeindruckende Lebensweg einer Vorkämpferin. Und ein packendes Plädoyer zum persönlichen Engagement, dass veranschaulicht, wie sehr durch kleine Schritte Großes verändert werden kann.

Maren Müller-Erichsen wurde am 2. Juni 1938 in Bernburg (Halle) geboren, machte zunächst eine Ausbildung zur Landwirtschaftlich-Technischen Assistentin von 1958 bis 1981 am Institut für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Universität Gießen, bevor sie sich ihrer eigentlichen Lebensaufgabe, dem Engagement für Menschen mit Behinderungen widmete. Foto © O. Schepp, Gießener Allgemeine Zeitung

Maren Müller-Erichsen wurde am 2. Juni 1938 in Bernburg (Halle) geboren, machte zunächst eine Ausbildung zur Landwirtschaftlich-Technischen Assistentin von 1958 bis 1981 am Institut für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Universität Gießen, bevor sie sich ihrer eigentlichen Lebensaufgabe, dem Engagement für Menschen mit Behinderungen widmete.

Wie alles begann


Nach der Geburt meines ersten Sohnes Michael wurde ich sehr schnell wieder schwanger. Allerdings war mir das die ersten drei Schwangerschaftsmonate gar nicht bewusst. Die Schwangerschaft verlief problemlos. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich sogar mit Michael auf dem Arm Wahlpropaganda für die Liste „Unabhängige Mitbestimmung“ der technischen Mitarbeitenden der Universität Gießen machte, die ich anführte. Ich war früh politisch aktiv und blieb es lange; eigentlich bin ich es bis heute, aber davon will ich später berichten. Hier nur so viel: Wer etwas erreichen will für die Gesellschaft und vor allem wie ich für eine gesellschaftliche Gruppe, die an den Rand gedrängt wird, muss sich auch parteipolitisch und in allen entsprechenden Gremien engagieren. Das glaube ich fest und meine Arbeit stellt es ja auch unter Beweis. Man braucht Geduld und Nerven und einen langen Atem. Aber es lohnt sich so sehr!

Ich hoffe, ich kann mit dem Bericht über mein Leben andere dafür begeistern, ihr Leben ebenfalls in den Dienst einer guten Sache zu stellen, die größer ist als sie selbst. Und dabei zählen nicht die Auswirkungen oder das erlangte Ansehen. Nein, es ist die Hingabe, die uns mit Sinn erfüllt und glücklich macht. Probieren Sie es einfach aus!

Doch zurück zu der Zeit, als mein Leben die große Wende nahm: Mit meinem Frauenarzt hatte ich während der Schwangerschaft mit Olaf auch das Thema der Pränataldiagnostik besprochen. Er sagte dazu: „Sie müssen sich keine Gedanken machen, in Ihrer Familie gab es das Down-Syndrom-Problem nicht. Also werden Sie damit auch nichts zu tun haben.“ Wie naiv! Heute denke ich, dass sein schlichter Umgang mit diesem Thema schicksalhaft war, denn so kam ich gar nicht erst in die Situation, irgendetwas hinsichtlich des Lebens meines Babys entscheiden zu müssen. Und wie froh bin ich darüber immer gewesen! Was für ein Schatz und was für eine Inspiration war und ist mein Sohn Olaf jeden Tag für mich! Ich bin zutiefst dankbar für gerade dieses besondere Kind, diesen Jungen und späteren Mann in meinem Leben. Nicht ich, er hat es zu etwas Besonderem gemacht. Er hat mir die Aufgabe gezeigt, die für mich in dieser Welt bereitlag.

Das Gespräch mit meinem Gynäkologen fand im Jahr 1975 statt. In diesem Jahr war die Pränataldiagnostik bereits erlaubt, und zwar durch Fruchtwasserentnahme, die sogenannte Amniozentese. Es ist ein gefährliches Verfahren, inzwischen weiß man, dass dieser Eingriff die Fehlgeburtenrate erhöht hat. Daher wird sie nur noch in ganz bestimmten Fällen angewandt. Und schon damals, ohne all dieses Wissen, war nicht jeder Gynäkologe dazu bereit.

In der Praxis meines damaligen Frauenarztes war auch eine einfache Ultraschalluntersuchung noch gar nicht möglich. Aber mir ging es ja auch gut. Was sollte schon sein? Mein Mann, der Arzt und ich beschlossen aber gemeinschaftlich, dass mein Kind per Kaiserschnitt zur Welt kommen sollte. Warum dieser Entschluss fiel, weiß ich heute leider nicht mehr.

Der Tag der Geburt, der 30. August 1975, näherte sich. Einen Tag zuvor ging ich noch zum Friseur, im Nachhinein auch eine etwas alberne Handlung, denn OP, Narkose und alle körperlichen Anstrengungen machten die schöne Frisur gründlich zunichte. Aber so war das eben damals, man sorgte für ein anständiges, adrettes Äußeres – egal, wie dramatisch die Situation auch war. Das ist sicher auch noch heute für viele Menschen eine Strategie, mit der sie beängstigende Situationen in den Griff bekommen wollen.

Mein Leben hat mich gelehrt, dass wir gar nichts kontrollieren können. Und je eher wir das begreifen, desto früher sind wir bereit, aus dem, was uns das Leben schenkt oder unvermittelt zumutet, etwas Neues und Sinnvolles zu schaffen.

„Ich bin der Meister meines Schicksals, ich bin der Käpt’n meiner Seele“, schreibt der britische Poet William Ernest Henley in seinem Gedicht „Invictus“. Weltweit bekannt wurde dieses Gedicht dadurch, dass Nelson Mandela es zitierte. Ein Mann, der 25 Jahre lang als politischer Häftling im Gefängnis saß. Und dieser hart gestrafte Mann behauptet, dass er sein Schicksal meistert, nicht andere Menschen oder Umstände. Ich will und kann mich natürlich nicht mit diesem bedeutenden Mann vergleichen, aber ich habe mein Leben und mein Schicksal seit Olafs Geburt genauso begriffen und in die Hand genommen. Und das war gut so.

Zurück in den August 1975: Mein Mann brachte mich zum vereinbarten Termin in die Entbindungsstation des Diakoniekrankenhauses in Marburg-Wehrda. Die Hebamme untersuchte mich und bemerkte dabei: „Das Kind ist aber noch sehr klein!“ Das beunruhigte mich erstmals. Aber sonst passierte nichts. Man bereitete mich für die Sectio vor und fuhr mich in den OP. Auf dem OP-Tisch war ich anfangs noch bei Bewusstsein, dann hörte ich den Schrei meines Babys! Endlich! Aber schon schwanden mir die Sinne, ich war ohne Bewusstsein. Was danach genau passierte, weiß ich nicht.

Aber irgendwer musste mit irgendwem und vor allem mit meinem Mann gesprochen haben. Ohne meine Zustimmung oder Erlaubnis tat man mir etwas an, was ich nie vergessen konnte: Ich wurde sterilisiert. Es ist mir bis heute unbegreiflich, wie man so etwas mit einem Menschen ohne seine Zustimmung machen kann. Aber es zeigt sehr deutlich, welcher Geist noch in den 1970er-Jahren in der Bunderepublik herrschte: Es sollte nicht mehr Menschen mit Behinderungen (MmB) geben. Schon gar nicht solche mit geistiger Behinderung. Und solche mit dem nicht zu versteckenden Down-Syndrom (DS) erst recht nicht!

Ich werde es bestimmt noch häufiger ansprechen und betonen in diesem Buch: Wir müssen uns als Gesellschaft die Frage stellen, was für eine Gesellschaft wir sein wollen. Eine, die nur der Norm entsprechende Menschen hervorbringt? Menschen, die im Sinne einer kapitalistischen Gesellschaft funktionieren und tüchtig Gewinne erwirtschaften? Oder wollen wir eine Gesellschaft sein, in der Schwächere, anders Begabte und eben nicht wirtschaftlich perfekt nutzbare Menschen willkommen sind? Nur in so einer Gesellschaft können wir Fürsorge lernen und fürsorglich bleiben. Eine Gesellschaft der Perfekten wird ein Alptraum sein, in dem niemand leben will. Gnadenlos auf Erfolg, Gewinn und Fehlerlosigkeit getrimmt. Wer wird darin bestehen können? Ich plädiere leidenschaftlich dafür, dass wir gemeinschaftlich mit den vermeintlich Schwächeren, den Menschen mit Behinderungen, zusammenleben, um unsere Menschlichkeit nicht zu verlieren und um von diesen Menschen Dinge zu lernen, die eine Welt der Perfektion nicht mehr kennen wird: Unerwartetes, bedingungslose Ehrlichkeit und Hingabe. Und so vieles mehr. Was dieses Mehr alles ist und war, möchte ich anhand meiner und Olafs Lebensgeschichte erzählen.

Der Anfang meines neuen Lebens


Dass Olafs Leben mit dem Ende meiner Fähigkeit, Leben zu schenken, begann, war für mich ein herber Schock. Tatsächlich erfuhr ich erst zwei Jahre nach Olafs Geburt, dass mein Mann der Sterilisation zugestimmt hatte. Denn zu diesem Zeitpunkt erwachte in mir der Wunsch, ein weiteres Kind zu bekommen. Als ich die Wahrheit hörte, konnte ich es zunächst kaum glauben. Was für ein Verrat und was für ein Übergriff! Mein Mann sagte dazu nur ganz lapidar: „Es ist doch besser so, noch ein behindertes Kind könnten wir nicht verkraften. Du bist doch auch nicht mehr die Jüngste!“ Ich war gerade 37 Jahre alt geworden… Heutzutage fangen viele Frauen erst in diesem Alter an, über ein Kind nachzudenken! Es ist gut, dass sich Frauen vehement und nachhaltig dagegen gewehrt haben, dass eine patriarchal strukturierte Gesellschaft bestimmt, was mit ihren Körpern passiert. Heute wäre so etwas nicht mehr möglich. Und doch: Es ist wichtig, dass wir auch heute einstehen für alle Menschen, die unterdrückt werden, und ihnen zu ihrem Recht verhelfen.

Zum Hintergrund: Die unmenschliche Sterilisationspolitik in Deutschland war keine nationalsozialistische Erfindung, wenn auch erst der Nationalsozialismus einem Sterilisationsgesetz und dessen systematischer Umsetzung zum Durchbruch verhalf. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde 1945 nicht vom Alliierten Kontrollrat aufgehoben, sondern in der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone förmlich außer Kraft gesetzt. Auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wurden die Rechtsverordnungen der Bundesrepublik auf die in diesem Gesetz enthaltenen „Eingriffsermächtigungen“ gestützt. Erst 1974 wurde in der Bundesrepublik das Gesetz aufgehoben. 1988 erklärte der Deutsche Bundestag das Gesetz für nationalsozialistisches Unrecht. Veranlasst durch eine bundesweite Unterschriftenaktion wurden im August 1998 die Sterilisationsbeschlüsse aufgehoben.

1975 war ich – bewusstlos auf dem OP – leider noch völlig schutzlos, und so nahm das Unheil seinen Lauf. Wegen des brutalen Übergriffs der Ärzte an mir war das Verhältnis zu meinem Mann gründlich und dauerhaft beschädigt. Er war es ja, der dem ungeheuerlichen Vorgang zugestimmt hatte! Wie ich später noch bemerken sollte, konnte er unseren Sohn Olaf vorerst nicht als das Geschenk ansehen, das er war. Später hat er sich sehr wohl mit Olaf angefreundet und konnte ihn auch akzeptieren. Es verband sie am Ende eine gute Beziehung. Doch dazu später. Ich weiß nicht, warum ich von Anfang an die Gabe besaß, eine dem – auch besonderen – Leben zugewandte Perspektive einzunehmen. Ich denke, es hat auch etwas mit meiner tiefen Verbundenheit mit dem christlichen Glauben zu tun: Hier ist der Größte ganz gering und umgekehrt. Diese liebevolle und gnädige Sicht auf uns doch alle unperfekten Menschen hat mich stets angetrieben und meinem...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2023
Verlagsort Asslar
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Beeinträchtigung • Handikap • Inklusion • Integration • Menschenrecht • Soziale Gerechtigkeit • Undenken
ISBN-10 3-86334-860-5 / 3863348605
ISBN-13 978-3-86334-860-1 / 9783863348601
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