Die Rettung der Pflege (eBook)

Wie wir Care-Arbeit neu denken und zur sorgenden Gesellschaft werden
eBook Download: EPUB
2023
192 Seiten
Kösel-Verlag
978-3-641-29772-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Rettung der Pflege - Reimer Gronemeyer, Oliver Schultz
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Die Pflegekatastrophe kommt gleich nach der Klimakatastrophe
6 Millionen Pflegebedürftige werden für 2030 erwartet, voraussichtlich fehlen dann 500.000 Pflegekräfte. Der deutsche Pflegerat fordert ein Einstiegsgehalt für Pflegekräfte von 4.000 Euro, aber schon jetzt kann kaum jemand einen Platz im Pflegeheim selbst bezahlen. Und mit Geld allein wird sich die Pflegekatastrophe nicht abwenden lassen, davon sind Reimer Gronemeyer und Oliver Schultz überzeugt.

Die Pflege braucht einen Aufbruch. Das Zukunftsszenario, das uns sonst erwartet, ist ernüchternd: Eine ambulante und stationäre Pflege, die - hoch subventioniert - pflegebedürftige Alte in sozial entkernten Arealen professionell versorgt. Das wäre der Schrecken für alle, die dem entgegenwarten. Der positive Gegenentwurf dazu ist eine partizipative, gesellschaftlich getragene Pflege.

Gronemeyer und Schultz skizzieren das Bild der »Caring Society«: Nur wenn alle gemeinsam anpacken, wird sich die Pflegekrise abwenden lassen. Nur, wenn wir als Gesellschaft bereit sind, umzudenken, wird in Zukunft menschenwürdige Pflege und ein besseres Leben im Alter möglich.

Reimer Gronemeyer, geb. 1939 in Hamburg, Dr. theol. und Dr. rer. soc., Professor em. für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeiten zu: Konflikte zwischen den Generationen, Hospizarbeit und Demenz sowie zur Entwicklung im südlichen Afrika. Zahlreiche Forschungsaufenthalte in Namibia, Botswana, Zimbabwe, Malawi, Sudan. Forschungsprojekte zum Thema Waisen und Kinder in schwierigen Lebenssituationen, Mangelernährung bei Kindern. Reimer Gronemeyer ist Vorstandsvorsitzender des gemeinnützigen Vereins 'Pallium e.V.', der sich für Kinder-Projekte in Namibia engagiert.

Die Rettung der Pflege?


Das klingt nach Größenwahn. Was versprecht ihr da? Die Rettung der Pflege? Jeder, der die Situation kennt, weiß doch, dass wir am Abgrund stehen. Wer noch keinen Eins-zu-sechzig-Nachtdienst mitgemacht hat, kann nicht mitreden, hören wir immer wieder. Das ist der Nachtdienst, in dem drei Pflegekräfte für 180 Betten zuständig sind. Der Pflegenotstand ist gerade im Begriff, zur Pflegekatastrophe zu werden. Denn die Zahl der Pflegebedürftigen wächst, und die Zahl der Pflegekräfte nimmt gleichzeitig ab. Sechs Millionen Pflegebedürftige werden für 2030 erwartet, voraussichtlich fehlen dann 500.000 Pflegekräfte.

Der deutsche Pflegerat fordert ein Einstiegsgehalt für Pflegekräfte von 4.000 Euro. Aber schon jetzt kann kaum jemand einen Platz im Pflegeheim selbst bezahlen. Wir brauchen – das ist unübersehbar – andere Wege, Geld allein ist keine Antwort. Wir brauchen eine partizipative, gesellschaftlich getragene Pflege. Wir brauchen den Mut zur Erneuerung der Pflege. Natürlich ist das ein interessanter Gedanke: Pflegekräfte besser bezahlen als Professoren. Dann stünde die Wertepyramide auf dem Kopf, und die schwierigste Arbeit, die diese Gesellschaft zu vergeben hat, würde endlich angemessen gewürdigt.

Aber woher soll das Geld kommen? Wer soll das bezahlen? Wird so die Pflege der Alten zu einem gigantischen Subventionsprojekt, etwa wie in der Agrarindustrie? Und sieht man nicht in der Landwirtschaft, wie verheerend ein solcher Gedanke ist? Jeder Pflegebedürftige müsste in etwa mit dem Gehalt eines Ministerialrats finanziert werden. Was sagen die Jungen dazu? Ist die Gesellschaft bereit für einen neuen Stellenwert der Pflege nicht nur in wohlfeilen Statements, sondern in Form einer wirklichen Anstrengung?

Drängt sich nicht vielmehr der Gedanke in den Vordergrund, die Alten seien eine Last? Erhält die Kluft zwischen den Generationen eine neue, schwindelerregende Dimension, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht? Könnte infolgedessen die zynische Frage »Müssen wir abschalten?« Konjunktur bekommen? Das Instrument des assistierten Suizids steht schon bereit.1

Wer glaubt übrigens eigentlich, dass eine hoch bezahlte Pflege automatisch eine bessere Pflege ist? Eine Heimleiterin sagt: »Bessere Bezahlung allein kann nicht zu besserer Pflege führen. Es braucht die Haltung.« Pflege muss besser bezahlt werden. Aber Geld allein ist nicht die Antwort auf die Pflegekatastrophe. Diese Gesellschaft setzt auf professionelle, bezahlte Dienstleistungen. Damit ist die Pflege unrettbar an die Idee von Wachstum gebunden: teurere Pflege, teurere Interventionen, teurere Technologien, teurere Verwaltung.

Das aber ist genau jenes Wachstumsmodell, das – wir alle können es jetzt schon sehen, können es wissen – zum Scheitern verurteilt ist. Wo immer wir mit Pflegenden darüber gesprochen haben, überall kommt die gleiche resignative Kälte zum Vorschein, die sagt: Das deutsche Pflegesystem erlebt aktuell einen für alle Beteiligten leidvollen Kollaps. Eine hoffnungslose Lage also?

Wir stellen die irrwitzig anmutende Frage: Könnte es nicht eine andere Art von Pflege sein, die uns vormacht, wie wir dem Wachstumsmodell mit seinen verheerenden Folgen entgehen? Pflege betrifft uns alle, von Geburt an. Könnte sich nicht gerade aus der erneuernden Pflege heraus auch der Zusammenhalt unserer Gesellschaft erneuern lassen? Weg von den sichtlich überforderten Pflegeprofis und Experten und hin zu einer »Caring Community«, hin zu einer »Caring Society«? Eine professionelle und gut bezahlte Pflege muss durch die Beiträge ergänzt werden, die eine wiedererwachte, nachbarschaftlich gesonnene Zivilgesellschaft erbringen kann. Die zukünftige Postwachstumsgesellschaft droht, in katastrophaler Kälte zu versinken, wenn sie nicht auf eigene Kräfte und auf nachbarschaftliche Kontexte setzt.

Wir wagen zu behaupten: Im Prinzip kann jeder pflegen, es will nur keiner. Was wir brauchen, ist ein Aufbruch. Ist die Ermutigung, die Fähigkeiten zu nutzen, über die wir ganz einfach als Menschen verfügen. Nicht als Ausdruck einer romantischen Hoffnung, sondern als Einsicht in die Notwendigkeit. Wir haben uns so sehr an die bezahlte Dienstleistung als Antwort auf soziale Probleme gewöhnt, dass wir uns eine andere Welt gar nicht mehr vorstellen können.

Die Zukunft wird ein Mix sein müssen: ein Mix aus wiederentdeckter vielfältiger eigener Kompetenz und professioneller Hilfe. Viele Angehörige praktizieren das im Übrigen heute schon. Zu oft aber stoßen sie bei den Professionellen auf Abschottung. Im Angesicht der Krise wird allenthalben von der Notwendigkeit eines zivilgesellschaftlichen Aufbruchs gesprochen, von neuer Gemeinschaft. Aber die »Schmuddelecke Pflege« kommt da nicht vor.

Wenn wir nicht umdenken, erwartet uns das Zukunftsszenario einer ambulanten und stationären Pflege, die – hoch subventioniert – pflegebedürftige Alte in sozial entkernten Arealen professionell versorgt. Das wäre der Schrecken für alle, die dem entgegensehen.

Wenn wir aber umdenken, würde es das Leiden der Pflegebedürftigen zwar nicht zum Verschwinden bringen, doch es könnte in einer zivilgesellschaftlich aufgewachten und reformierten Gesellschaft das Alter vor professioneller Kälte bewahren.

Wer schreibt da eigentlich?


Es ist keine kleine Forderung, die wir mit diesem Buch stellen. Aber wir wollen auch unsere Hintergründe transparent machen und erklären, was die Grundlagen für unsere zum Teil durchaus harsche Kritik sind.

Wir Autoren sind beide mit dem Thema Pflege in Forschung und Lehre befasst. Und wir kennen nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis. Einer, Oliver Schultz, kommt ursprünglich aus der bildenden Kunst. Seit Langem arbeitet er in Pflegeeinrichtungen künstlerisch mit Menschen mit Demenz und begegnet so den Realitäten und Phantasmen des Lebens und Sterbens im Heim. Er war zudem in einem Pflegeheim angestellt, hat dort die soziale Betreuung konzipiert und den täglichen Pflegenotstand ganz direkt miterlebt.

Der andere, Reimer Gronemeyer, ist mit bald Mitte achtzig allein durch sein Alter dem Pflegethema nahe. Er hat aber als Theologe und Professor für Soziologie schon viel früher angefangen, sich mit der Frage, was gutes Altern ist, zu befassen. Seit Mitte der Neunzigerjahre liegt sein Forschungsschwerpunkt bei den Themen Demenz, Pflege und der Hospizbewegung.

Zwei verschiedene Generationen schreiben hier. Zwei Stimmen mit ganz verschiedenen Lebenserfahrungen. Seit Langem führen wir einen Dialog über Demenz, über Pflege, über das Alter und das Sterben. Jetzt schreiben wir gemeinsam ein Buch und lassen unsere Stimmen zusammenkommen. Wir glauben und hoffen, dass daraus eine Stimmigkeit entsteht, die gerade nicht mit Einstimmigkeit verwechselt werden darf. Die auch ihre Dissonanzen und Widersprüche wahrt, aber immer um die gemeinsame Frage kreist: Wie ist die Rettung der Pflege denkbar?

Wir beide verneigen uns respektvoll vor den Leidenden, vor den pflegenden Angehörigen und vor den professionell Pflegenden. Aber wir sehen und fühlen, dass mit der Entwicklung dieses Dienstleistungsapparates ein falscher Weg eingeschlagen ist.

Also was tun? Alles zumachen? Pflegeheime, ambulante Dienste canceln? Wer wagt, das zu denken oder auszusprechen? Sollen wir alle diese Bedürftigen zu ihren Familien zurückschicken? Geht nicht. Sollen wir sie alle auf die Straße setzen? Geht erst recht nicht. Aber glauben wir wirklich, dass dieser Pflegedienstleistungsapparat immer weiterwachsen kann? Und glauben wir wirklich, dass wir Wege finden werden, den Apparat so zu humanisieren, dass weder die Patienten noch die Pflegenden verzweifeln müssen?

Ich, Oliver Schultz, erinnere mich an ein Gespräch mit einer Kollegin. Sie verfügte über jahrzehntelange, beeindruckende Erfahrung. Wir sprachen, wieder einmal, über den Pflegenotstand. Sie gab zu bedenken, wie schwer vorstellbar sei, was pflegen im Alltag bedeutet: »Weder Sie noch ich aus der Pflegeleitung haben wirklich eine Vorstellung davon, wie sich zehn Tage Waschstraße anfühlen.«

Waschstraße? Der Vergleich mit der KFZ-Pflege tut weh. Ich denke, das soll er auch. Denn Pflege ist ein harter beruflicher Alltag und verdient eine klare, unmissverständliche Sprache. Kann über Pflege nur sprechen, wer Pflege auch selber im unmittelbaren Alltag erleidet?

Wir sind nicht mitten auf der Pflegestraße unterwegs. Aber doch nah, sehr nah dran. Und haben ratlos geschwiegen, bis jetzt. Dieses Buch ist unser Versuch, uns den Fragen, auf die wir keine Antworten haben, zu stellen.

Hier schreiben zwei Männer. Aber Pflege ist weiblich: In der Altenpflege dominieren auf beiden Seiten Frauen. Die Gepflegten sind mehrheitlich Frauen, und die Pflegenden sowieso. Was haben wir als Männer in diesem Zusammenhang überhaupt zu sagen? Da Sorgearbeit nun einmal vor allem weiblich ist, sollten wir Männer da nicht besser »die Klappe halten«? Sind Männer nicht längst als die Vertreter einer eurozentrischen, patriarchal dominierten Wissenschaft und Praxis entlarvt, die noch nicht begriffen haben, dass ihre Stunde geschlagen hat, während andere das Totenglöckchen schon längst läuten hören?

Bisher konnten (alte) weiße Männer sich darauf verlassen, dass ihre Perspektive unbesehen als valide angesehen wurde, und davon ausgehen, dass der Ausschluss anderer (insbesondere weiblicher) Perspektiven funktionierte. Diese Sichtweise gilt glücklicherweise nicht mehr unwidersprochen. Mit der unbesehenen Dominanz der Männerperspektive ist es vorbei.

Feministische Gesellschaftskritik hat deutlich gemacht, dass...

Erscheint lt. Verlag 28.6.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • Altenheime • Altenpflege • alternde Eltern • Babyboomer • eBooks • Ehrenamt • Einsamkeit • Generation 60+ • Generationenkonflikt • Gesundheit • Gut leben im Alter • Neuerscheinung • Neustart Pflege • Pflege • Pflegeheime • Pflegekatastrophe • Pflegende Angehörige • Pflegenotstand • Vorsorge Pflege
ISBN-10 3-641-29772-9 / 3641297729
ISBN-13 978-3-641-29772-5 / 9783641297725
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