Bin ich normal? (eBook)

Warum wir alle von dieser Frage besessen sind und wie sie Menschen abwertet und ausgrenzt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30228-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bin ich normal? -  Sarah Chaney
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Hat mein Körper eine normale Form? Ist es normal, Selbstgespräche zu führen? Selten Sex zu haben? Fragen wie diese bestimmen unseren Alltag, unsere Gefühle und Entscheidungen. Noch vor dem neunzehnten Jahrhundert wurde der aus der Mathematik stammende Begriff des Normalen nur selten mit menschlichem Verhalten in Verbindung gebracht: Dreiecke waren normal, nicht aber Menschen. Erst ab den 1830er-Jahren, mit dem Aufkommen der modernen Statistik und einer Vielzahl durchgeführter Verhaltens- und Sozialstudien, nahm in Europa und Nordamerika ein regelrechter Klassifizierungswahn - und mit ihm die obsessive Suche nach dem »normalen« Menschen - Fahrt auf. Die britische Historikerin Sarah Chaney legt die kulturelle, soziale und historische Verfasstheit des sogenannten Normalen offen und analysiert, wie der Begriff als machtpolitisches Instrument missbraucht wird, um Menschen systematisch abzuwerten, auszugrenzen und zu diskriminieren. Eine kluge wie unterhaltsame Geschichte der Normalität - und ein Appell, den Zeitgeist immer wieder kritisch zu hinterfragen.

Sarah Chaney ist promovierte Historikerin und forscht am Londoner Queen Mary College zu den Themen Emotionsgeschichte und Care-Arbeit. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit leitet sie das Veranstaltungsprogramm des Royal College of Nursing, Englands größter Gewerkschaft für Pflegeberufe, und schreibt für diverse Magazine und Fachzeitschriften. Als Teenager rebellierte sie gegen den Mainstream, während sie sich insgeheim danach sehnte ganz »normal« zu sein.

Prolog

Bin ich normal?

Auf den ersten Blick scheint das eine recht einfache Frage zu sein. Etwas, das Sie sich selbst immer wieder fragen könnten. Hat mein Körper eine normale Form oder Größe? Ist es normal, in Gegenwart von anderen zu weinen? Mir von meinem Hund übers Gesicht lecken zu lassen? Starke Regelblutungen zu haben? Mit Fremden Sex zu haben? Sich in öffentlichen Verkehrsmitteln unwohl zu fühlen? Nach dem Essen aufgebläht zu sein? Diese und unzählige weitere Fragen bestimmen und erklären unser Leben. Sie helfen uns dabei, unser Verhältnis zu anderen Menschen auszuhandeln und herauszufinden, wann wir vielleicht Hilfe brauchen: den Rat eines Freundes oder den Besuch bei einer Ärztin.

Sie zeigen auch, wie komplex der Begriff des Normalen ist.

Was meinen wir eigentlich, wenn wir uns fragen, ob wir normal sind? Selbst wenn wir uns nur auf die Fragen aus dem ersten Absatz beschränken, variiert das enorm. Manchmal überlegen wir, ob wir mehr oder weniger dem Durchschnitt entsprechen – vielleicht auch ein wenig über oder unter dem Durchschnitt liegen, wenn das gesellschaftlich erstrebenswert zu sein scheint. So könnte ich mir zum Beispiel wünschen, etwas größer und etwas leichter zu sein als der Durchschnitt.

Bei anderer Gelegenheit richten wir den Fokus auf unsere Gesundheit. Ist mein Blutdruck normal? Bedeuten Schmerzen an einer bestimmten Stelle, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist? Wenn Ihr Kind schlafwandelt, könnte man das als normal bewerten – nicht weil es so oft vorkommt (laut einer Studie der amerikanischen National Sleep Foundation, die 2004 durchgeführt wurde, schlafwandeln lediglich zwei Prozent der Kinder in schulpflichtigem Alter mehrmals pro Woche oder noch öfter), sondern weil es nicht als ungesund gilt.

Meist steht jedoch hinter der Frage, ob wir normal sind, die Überlegung, ob wir so sind wie die anderen. Bin ich eine typische Vertreterin der menschlichen Spezies? Reagiere ich in bestimmten Situationen so wie andere auch? Sehe ich aus wie andere Menschen, ziehe ich mich an wie sie, rede ich wie sie? Und wenn ich ihnen ähnlicher wäre, wäre mein Leben dann einfacher?

Diese Fragen können einen erheblichen Einfluss auf unser Leben haben. Ich war ein schüchternes, unbeholfenes Mädchen mit dicken Brillengläsern und heißgeliebten, selbstgestrickten Pullovern, das die meiste Zeit mit Büchern verbrachte und von einer besseren, magischeren Welt träumte. Als ich Anfang der 1990er-Jahre auf die weiterführende Schule kam, war ich aus Gründen, die allen Schülern nur zu gut bekannt sind, bereits als »nicht normal« abgestempelt. Sie nannten mich »Creepy Phoebe«, die »gruselige Phoebe«, nach der bebrillten Jugendlichen aus der australischen Soap Nachbarn, deren Vater ein Bestattungsunternehmen hatte und die ihren Mitschülern Angst einjagte, weil sie Schlangen als Haustiere hielt. Mit 16 empfand ich eine nur mühsam gebändigte Wut auf die Welt, und in der Schule trug ich meistens Kopfhörer, damit mich nur ja niemand ansprach, während ich Songzeilen der Manic Street Preachers in die hölzernen Schulbänke ritzte.

Klingt einiges davon vertraut für Sie? Wenn ja, dann war ich vielleicht doch ein ganz normaler Teenager. Aber wie die meisten Teenager fühlte ich mich nie normal. Wie so viele Jugendliche, die gemobbt werden, akzeptierte ich die Außenseiterrolle, die man mir zuwies, und machte sie mir zu eigen (oder zumindest glaubte ich das), indem ich die Unterschiede, über die meine Mobber lästerten, noch zusätzlich betonte, um den Abstand zwischen ihnen und mir weiter zu vergrößern. Ich fand die Regeln, denen zufolge es »spießig« sein sollte, seinen Rucksack über beiden Schultern zu tragen oder die Strümpfe bis zu den Knien hochzuziehen, um seine Beine warm zu halten, albern, weshalb ich ganz bewusst beides tat. Ich weigerte mich, Make-up zu tragen und Popmusik zu hören, und verbrachte stattdessen jeden Mittwoch überglücklich mit der neuesten Ausgabe des New Musical Express oder des Melody Maker und las Artikel über Bands, deren Namen niemand sonst in meiner Schule jemals gehört hatte.

Und doch sehnte sich ein Teil von mir danach, normal zu sein. Wenn eine der Bands, die ich mochte, den Sprung in die Top Ten schaffte, hatte ich das Gefühl, selbst etwas erreicht zu haben – anderen Menschen gefiel etwas, das mir auch gefiel! Normalität war ein rätselhaftes, verschwommenes Ideal, das mich in meinem frühen Erwachsenenalter weiter begleitete, immer wieder in den Vordergrund gerückt durch die Angst, nicht dazuzugehören, die Angst, verlassen zu werden, und das Gefühl, dass plötzlich alles gut wäre, wenn sich nur auf wundersame Weise etwas in mir oder an mir ändern würde. Ich ging wohl schon auf die 30 zu, als ich mir zum ersten Mal ernsthaft die Frage stellte, was ich mit »normal sein« eigentlich meinte.

Wenn Sie dieses Buch in die Hand genommen haben, dann hatten Sie wahrscheinlich mit ähnlichen Ängsten zu kämpfen oder haben sich ähnliche Fragen gestellt. Ist die Angst vor dem Anderssein also das eigentlich Normale? Haben sich die Menschen schon immer den Kopf darüber zerbrochen, wie sie bestimmte Vorgaben im Leben erreichen sollen? Wann akzeptieren wir es, anders zu sein als andere, und wann fürchten wir diese Unterschiede? Und wer entscheidet überhaupt, was normal ist und was nicht?

In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, dass sich die Menschen noch gar nicht so lange Gedanken darüber machen, ob sie normal sind. Natürlich haben sie sich unter gewissen Umständen schon immer mit ihren Mitmenschen verglichen oder andere dafür kritisiert, dass sie nicht dazupassten. In einem größeren Rahmen geschah dies jedoch erst in den letzten 200 Jahren, in der wissenschaftlichen Praxis Europas und Nordamerikas verankert durch Medizin, Physiologie, Psychologie, Soziologie und Kriminologie – und angetrieben durch den rasanten Vormarsch der Statistik. Normalität wurde zu einem wichtigen Element unserer Gesetze, unserer gesellschaftlichen Strukturen und unserer Vorstellungen von Gesundheit. Aber vor 1800 wurde der Begriff »normal« nicht einmal im Zusammenhang mit menschlichem Verhalten verwendet. »Normal« war lediglich ein mathematischer Begriff, der einen rechten Winkel beschrieb.

Im 19. Jahrhundert brachte die wachsende Beliebtheit der Statistik Wissenschaftler in Europa und Nordamerika dazu, die Menschheit zu vermessen, um zunächst einen Durchschnitt und später eine Norm zu entwickeln. Diese Normen hätten nicht ohne eine Standardisierung großer Bereiche des menschlichen Lebens festgelegt werden können, durch die definiert wurde, was und wer normal war – und damit am menschlichsten und am wertvollsten. So führte beispielsweise die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in vielen Ländern dazu, dass Kinder, die langsamer lernten als ihre Mitschüler, erkannt wurden, während die Entstehung von Sozialversicherungen und Krankengeldkassen medizinische Reihenuntersuchungen mit immer detaillierteren Definitionen eines normalen Gesundheitszustands erforderten. Das regelmäßige Wiegen von Säuglingen führte zu hartnäckigen Vorstellungen über frühkindliche Entwicklung, IQ-Tests etablierten mit der Zeit Normen in Bezug auf die Intelligenz, und in der Industrie und in Fabriken entstanden Konzepte von idealen Arbeitern und standardisierten Produktivitätsleveln. Im Laufe der kolonialen Expansion schickten westliche Länder Wissenschaftler um die ganze Welt, die vermaßen, definierten und die Bevölkerung ihrer Heimat mit der anderer Regionen verglichen – und zwar fast immer zugunsten der Weißen. Dass der Schwerpunkt dieses Buchs auf Europa und Nordamerika liegt, hat den einfachen Grund, dass hier das sogenannte Normale entstanden ist. Die Annahme, dass diese Normen auch für den Rest der Welt gelten, war genau das: eine Annahme.

Die von diesen Forschern entwickelte Wissenschaft des Normalen ist daher auch eine Geschichte der Ausgrenzung ganzer Gruppen, die im Gegensatz zu den westlichen Vorstellungen davon definiert wurden, wie ein Mensch »richtig« ist. Die Wissenschaftler, Ärzte und Gelehrten, die sich anschickten, die Menschheit zu vermessen und zu standardisieren, waren in ihrer überwältigenden Mehrheit weiße, wohlhabende, westliche Männer und ausschließlich heterosexuell (zumindest in der Öffentlichkeit). Sie neigten dazu, den Status quo zu stützen, dem sie ihren Erfolg verdankten, und im Zuge dessen andere Gruppen zu marginalisieren. Wenn sie Veränderungen wünschten, so waren dies meist Veränderungen, die ihrem eigenen gebildeten Berufsstand zugutekamen. Das soll nicht heißen, dass dies immer bewusst geschah oder dass keiner dieser Männer die weniger Privilegierten förderte. Manche bezeichneten sich als Sozialisten, andere unterstützten die Frauenbewegung, kritisierten imperialistische Aggression oder sprachen sich für die Legalisierung von Homosexualität aus.

Trotzdem gingen die meisten dieser Männer davon aus, dass ihre Stellung an der Spitze der sozialen Leiter schlicht und ergreifend der natürlichen Ordnung der Dinge entsprach. Sie waren in die höchste Stufe der menschlichen Evolution hineingeboren worden – das glaubten sie zumindest – und bemühten sich aus reiner Wohltätigkeit, einen Standard festzulegen, um anderen dabei zu helfen, voranzukommen. Eines der Argumente, die seinerzeit zur Rechtfertigung des Kolonialismus vorgebracht wurden, war, dass sich das Leben der Menschen in den Kolonien besserte, wenn es nach westlichen Normen geführt wurde – oder, wie wir es heute ausdrücken würden, wenn ihnen die westlichen Normen brutal aufgezwungen wurden. In Indien etwa wurden...

Erscheint lt. Verlag 5.4.2023
Übersetzer Nathalie Lemmens
Sprache deutsch
Original-Titel Am I normal?
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • Anpassung • Druck • Durchschnitt • eBooks • Erwartungen • Geschichte • Gesellschaft • gesellschaftliche Konventionen • Konventionen • Kritik • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Normalität • Normierung • Sachbuch • Soziologie • Standard • Zeitgeist
ISBN-10 3-641-30228-5 / 3641302285
ISBN-13 978-3-641-30228-3 / 9783641302283
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