Frisch im Kopf (eBook)
320 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-28482-4 (ISBN)
Tagsüber Online-Meetings, Bildschirmarbeit und am Abend Chatten, Shopping im Internet, Serien streamen. Wie wirkt sich die digitale Reizüberflutung, der wir uns tagtäglich aussetzen, auf unser Gehirn, unser Denken, unser Verhalten aus? In seinem neuen Buch resümiert der Neurobiologe und Erfolgsautor Prof. Dr. Martin Korte die neuesten Forschungsergebnisse und räumt dabei mit einigen Mythen auf. Er zeigt unter anderem,
- wann digitale Mediennutzung dem Gehirnschadet und wann sie es fördert,
- warum Multitasking ein Märchen ist,
- wie Kinder und Jugendliche digitale Kompetenz erwerben und
- wie ältere Menschen mit Hilfe des Internets ihr Gedächtnis auf Trab halten.
Darüber hinaus gibt er ganz konkrete Empfehlungen, wie unser Umgang mit den digitalen Technologien im Alltag aussehen muss, damit wir wieder konzentrierter, produktiver und kreativer arbeiten - und dabei frisch im Kopf bleiben.
Martin Korte, geboren 1964, ist Professor für Neurobiologie an der TU Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die zellulären Grundlagen von Lernen und Erinnern ebenso wie die Vorgänge des Vergessens. Martin Korte ist einer der meistzitierten deutschen Neurobiologen, ein gefragter Experte in den Medien und bereits durch eine Reihe von Fernsehauftritten bekannt. Neben seiner Tätigkeit als Wissenschaftler hält er regelmäßig öffentliche Vorträge vor Schuldirektoren, Lehrern, Eltern, Schülern und Politikern. Bei DVA erschien zuletzt von ihm »Frisch im Kopf. Wie wir uns aus der digitalen Reizüberflutung befreien« (2023).
Schnelles Switchen, langsames Switchen
Beim Wechseln zwischen verschiedenen Aufgaben sind wir immer wieder für kurze Augenblicke unaufmerksam. In diesen Umschaltmomenten geht uns unweigerlich Information verloren (vor allem das »Interimsende« der unterbrochenen Aufgabe), wir verpassen einen Teil dessen, was gesagt oder gezeigt wurde oder was wir zwischengespeichert hatten an Gedanken – etwa so, wie man früher beim Wechsel der Radiosender immer einen Moment nur Rauschen hörte. Nur dass unser Gehirn diese Aufmerksamkeitslücken vor uns verborgen hält, denn die Zeitlöcher werden gefüllt! Dabei gilt eines der Grundgesetze des Lernens auch im Zusammenhang mit der Ablenkung durch digitale Medien: Was nicht aufmerksam gespeichert wird, kann auch nicht abgerufen werden, und jede Unterbrechung stört den Gedankenfluss des Lernens oder Arbeitens. Deswegen haben es Menschen mit einem angeborenen kurzen Konzentrationsvermögen, das man als AD(H)S bezeichnet, in der Schule und später im Berufsleben schwerer.
Abb. 5: Nutzung sozialer Medien in Deutschland: Jungen und Mädchen im Vergleich (Quelle: Jugend-Digitalstudie der Postbank, 2022)
AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, wobei das H für die oft damit einhergehende Hyperaktivität steht) ist eine Aufmerksamkeitsstörung, mit der einige Menschen geboren werden und die mittlerweile gut untersucht ist. Sie entsteht, weil ein Botenstoff, das Dopamin, im Stirnlappen nicht effektiv genug wirkt. Das Dopamin stärkt normalerweise die neuronale Verarbeitung im Stirnlappen, vor allem in Bereichen, die zum Arbeitsgedächtnis gehören. Wird Dopamin vermindert ausgeschüttet, leidet die Konzentrationsfähigkeit – oder anders ausgedrückt: Die Rechenkapazität des Arbeitsgedächtnisses nimmt ab. Das hat zur Folge, dass Menschen mit AD(H)S nur kurze Konzentrationsspannen haben und sehr leicht ablenkbar sind. Beides zusammen – fehlende Rechenkapazität und mangelnde Dopaminfreisetzung im Stirnlappen – führt zu AD(H)S.
Wie oben bereits erwähnt, kann auf der kognitiven Ebene ein vergleichbares Syndrom nicht nur genetisch, sondern auch infolge des Lebensstils entstehen. Als ein Auslöser dafür kommt der Versuch des ständigen Multitaskings durch die Nutzung mehrerer digitaler Endgeräte oder mehrerer Apps/Programme auf Smartphone, Tablets etc. infrage. Vor allem Smartphones stehen im Verdacht, eine Art AD(H)S-ähnliches Syndrom zu induzieren. Die Ursache ist hier nicht fehlendes Dopamin. Vielmehr wird das für lohnend erscheinende Ziele zuständige Dopamin nicht ausgeschüttet, um einer einzigen Tätigkeit fokussiert nachzugehen, sondern es werden Unmengen kleiner Dopaminmoleküle ausgeschüttet – in der Erwartung, dass uns alles Ablenkende, wie eingehende Nachrichten auf dem Smartphone oder Computer, belohnen wird. Das Dopamin wird also nun wirksam, um eine Erwartungshaltung zu kodieren, die eine positive Wirkung auf uns durch Ablenkung hat, und wird so nur noch kurze, fragmentierte Konzentrationsspannen zulassen. Vor allem verstärken die Dopamin ausschüttenden Neurone die Erwartungshaltung, dass in jeder Situation, in der wir auf den Multitasking-Modus umschalten, etwas Positives passiert.
Nur führt dies nicht dazu, dass wir besser darin sind, schnell zwischen Tätigkeiten hin und her zu wechseln. Tatsächlich deuten aktuelle Untersuchungen sogar darauf hin, dass »code switching«, also der schnelle Wechsel zwischen verschiedenen Tätigkeiten, bei »Multitaskern« (Menschen, für die der Versuch des Multitaskings Alltag ist) sogar schlechter klappt. In Zahlen ausgedrückt zeigt sich, dass Multitasker beim Wechsel zwischen Aufgaben 170 Millisekunden länger brauchen als Nicht-Multitasker. Das betrifft auch Digital Natives und hängt damit zusammen, dass gerade sie die Rechenkapazität ihres Stirnlappens im Bereich des Arbeitsgedächtnisses nachhaltig reduziert haben.
Als Digital Natives werden Menschen bezeichnet, die in der digitalen Welt aufgewachsen sind und digitale Medien deshalb ganz selbstverständlich bedienen. Wir werden ihnen im Verlauf dieses Buches noch ein paarmal begegnen.
Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn man Smartphone-Multitasker mit Menschen vergleicht, die zweisprachig aufgewachsen sind, also gelernt haben, zwischen verschiedenen Sprachen zu switchen. Diese schnitten 230 Millisekunden besser ab als die Multitasker und damit sogar 60 Millisekunden besser als die einsprachigen Nicht-Multitasker. Dieses Beispiel zeigt, dass Abweichungen vom »normalen« Verlauf der Gehirnbildung und des Gehirnabbaus in beide Richtungen möglich sind.
Dark Patterns und Willenskraft
Konzentration und Achtsamkeit sind entscheidende Elemente des effektiven Arbeitens und Lernens. Im Idealfall lenkt unser Wille unsere Aufmerksamkeit auf einen eng begrenzten Ausschnitt der Umwelt und schaltet dabei äußere und innere Störfaktoren weitgehend aus, so wie ein Theaterscheinwerfer nur einen kleinen, aber wichtigen Teil der Bühne ausleuchtet. Das ist vor allem eine Leistung des Arbeitsgedächtnisses, das im Stirnlappen unseres Gehirns lokalisiert ist. Wenn man das Gefühl hat, sich nicht konzentrieren zu können, sollte man sich zunächst einen Moment Zeit für einige Fragen nehmen: Liegt es an der Tageszeit? Beginne ich mit dem Arbeiten oder Lernen immer nur dann, wenn gerade nichts anderes Wichtiges passiert? Was ist vor dem Lernen an diesem Tag schon alles passiert? Diese Fragen sind deshalb wichtig, weil Konzentration in unserem Gehirn von den gleichen Gehirnarealen vermittelt wird, die unsere Willenskraft ausmachen. Letztere kann wie ein Muskel ermüden und im Laufe eines Tages »aufgebraucht werden« – und dann klappt nichts mehr. Oder haben wir den Kopf, den Tisch vor uns und unsere technischen Geräte voll mit Zerstreuungspotenzial? Dann heißt es erst einmal aufräumen, Abstand gewinnen und abstellen, was man nicht braucht.
Willenskraft verstehen wir hier als die Fähigkeit, eine Handlung zu unterdrücken, wenn ihre Konsequenzen unseren langfristigen Interessen widersprechen. Sind wir im Kopf parallel zu einer aktuellen Tätigkeit immer auch mit anderen Gedanken oder einem zweiten Bildschirm beschäftigt, sinkt die Willenskraft – unsere selbstdefinierten langfristigen Ziele werden nicht mehr verteidigt gegen kurzfristige Belohnungen und Ablenkungen. Das bedeutet auf der neuronalen Ebene, dass der Stirnlappen, der die Handlungen auf langfristige Ziele hinlenken kann, in einem innergehirnlichen Wettstreit verliert gegen Gehirnareale, die eher kurzfristige Ziele und Belohnungen ansteuern.
Viele Apps sind so programmiert, dass sie uns dazu verführen, mehr Zeit als gewollt zu »verdaddeln«, und uns so zu übermäßigem Konsum verleiten. Sie haben Muster eingepflegt, die genau das bewirken sollen. In der Programmierlogik werden solche Designs als Dark Patterns (Dunkle Muster) bezeichnet. Sie bewirken unter anderem, dass unsere Aufmerksamkeit regelrecht an unseren Smartphone-/Tablet-Apps klebt.
Dark Patterns werden programmiert, damit das Bezahlmodell von Apps funktioniert. Deren Werbeeinnahmen generieren sich aus Benutzerzahl und Nutzungsdauer. Die Programmierer und Programmiererinnen müssen also versuchen, uns dazu zu verleiten, die Apps immer wieder einzuschalten und nach Möglichkeit sogar Geld bei In-App-Käufen auszugeben.
Die psychologischen Mechanismen hinter den Dark Patterns werden vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) analysiert. Das TAB begann vor einigen Jahren, vor dem Design dieser Apps zu warnen. Denn sie machen im schlimmsten Fall abhängig.
Zur Veranschaulichung hier ein paar Beispiele dafür, was mit Dark Patterns bezweckt wird:
- Uns mehr Informationen entlocken, als wir preisgeben wollen, indem wir auf verwirrende Art und Weise Kreuzchen in Kästchen setzen oder aktiv entfernen müssen.
- Unsere Aufmerksamkeit aufbrauchen, bevor erst mit dem sechsten oder gar siebten Klick eine entscheidende Information kommt, der Ausweis der Liefergebühren zum Beispiel. Unser Gehirn hat so die eigentümliche Tendenz, ob der Zeit, die wir schon investiert haben, unnötige und unliebsame Gebühren zu akzeptieren. Dies wird auch als Bindungseskalation bezeichnet: Je mehr Zeit wir bereits »investiert« haben, umso mehr haben wir eine Abneigung dagegen, die App zu wechseln. Dahinter steckt die neuronal kodierte Tendenz, die aktuelle »Investition« höher zu bewerten als einen möglichen Gewinn durch einen Wechsel. Wer z. B. schon seinen Lebenslauf, Bilder und Interessen bei LinkedIn eingegeben hat, bindet sich kognitiv an diese Anwendung und wechselt nicht gleich wieder zu Xing.
- Unsere Veranlagung zu reziprokem Altruismus ausnutzen. Eine psychologische Verankerung unseres Gehirns nutzen Apps aus, wenn sie uns zum Beispiel kostenlose Testversionen oder Testabos anbieten, die danach automatisch in eine Bezahlvariante überführt werden. Denn wenn uns etwas Gutes widerfahren ist, neigen wir dazu, uns revanchieren zu wollen.
All das rechtfertigt Bedenken – und die Dark Patterns nehmen zu. Allerdings muss man sich auf der anderen Seite in Erinnerung rufen, dass unser Gehirn, insbesondere das von jungen Menschen, auch schon ablenkbar war, bevor digitale Medien und digitale Endgeräte erfunden wurden. Manches, was hier als negativer Effekt aufgezeigt wird, ist nicht neu, und vor allem sollten wir versuchen, mehr über die Art und Dauer unserer Mediennutzung herauszufinden.
Warum aber ist unser Gehirn überhaupt so anfällig für Ablenkungen? Zum einen macht uns das als...
Erscheint lt. Verlag | 17.5.2023 |
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Zusatzinfo | mit Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • ADHS • besser fühlen • Bildschirmtätigkeit • Chatten • Computer • Computersucht • Digitale Bildung • Digitale Demenz • Digitale Erschöpfung • digitale Gesellschaft • digitale Reizüberflutung • Digitaler Stress • Digitalisierung • digitalisierung an schulen • Durchgehend Online • eBooks • Effektiv Arbeiten • Gesundheit • Hirnforschung • Hybrides Arbeiten • Jung im Kopf • Kopf frei! • Kreativität • Künstliche Intelligenz • Leon Windscheid • Lesen am Bildschirm • Manfred Spitzer • Medizin • Multitasking • Neuerscheinung • Neurologie • new work • Online-Konferenzen • Smartphonesucht • Spracherwerb • Stress • Tablets • virtuelle Meetings • Volker Busch |
ISBN-10 | 3-641-28482-1 / 3641284821 |
ISBN-13 | 978-3-641-28482-4 / 9783641284824 |
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