Eine gute Zeit zu leben (eBook)
176 Seiten
Ludwig (Verlag)
978-3-641-30328-0 (ISBN)
Unser Lebensglück steckt nicht in einem komfortablen Leben ohne Hindernisse, sondern in der Selbstbestimmung, in der Freiheit, unser Leben individuell zu planen und zu gestalten, selbstbestimmt Erfahrungen und Erlebnisse zu sammeln.
Hierfür braucht es lediglich etwas Mut und Eigeninitiative. Für Hubert Messner ist klar: Das Leben ist lebenswert. Nach wie vor und mehr denn je!
Hubert Messner, geboren 1953, ist in einem Südtiroler Bergdorf im Villnößtal aufgewachsen. Er hat in Innsbruck Medizin studiert, in Modena Kinderheilkunde und wurde in Mailand, Graz, Toronto und London zum Neonatologen ausgebildet, bevor er in Bozen die Neonatologie-Abteilung übernahm und diese als Chefarzt zu einer Station mit internationalem Renommee ausbaute. Seinen Bruder, die Bergsteigerlegende Reinhold Messner, begleitete er als Expeditionsarzt mehrere Male in den Himalaja und in Eiswüsten. Seit 2018 engagiert er sich für soziale Projekte, unter anderem für Essen auf Rädern und freiwillige Arbeitseinsätze in den Sommermonaten auf steilen Bergbauernhöfen. 2023 wurde er in den Südtiroler Landtag gewählt und zum Landesrat für Gesundheit ernannt. Messner lebt heute in Girlan bei Bozen, ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne.
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WAS IST LOS MIT UNSERER WELT?
In was für eine Welt werden unsere Kinder da nur hineingeboren? Diese Frage! Immer und immer wieder wird sie mir gestellt. Von werdenden Müttern, werdenden Vätern. Kinder in diese Welt setzen? Ist das nicht verantwortungslos? Wozu ein Kind, wenn die Welt doch so ein schrecklicher Ort ist?
Klimakrise, Corona, Krieg. Wir leben in schwierigen Zeiten, da kommen solche existenziellen Fragen auf, das ist ganz natürlich. Ebenso wie die Sehnsucht nach Besserung. Manchmal auch nach verklärter Vergangenheit.
Eine Vergangenheit, in der Kinder eine Selbstverständlichkeit waren. Ein sozialer Imperativ. Und heute? Sind sie es mehr denn je! Sie waren, sind und bleiben der Kern der Gesellschaft, auch wenn sich die Familienstruktur über die Jahre verändert hat, soziale Netzwerke weggefallen sind.
Die Debatte zur Ethik des Kinderkriegens ist nicht neu, wir führen sie seit über einem halben Jahrhundert – tragen sie in unserer postmodernen Zeit von Krise zu Krise. Keine Krise hat uns jedoch, zum Glück, zu dem Schluss kommen lassen, dass Kinder nicht Zukunft bedeuten, auch wenn die Frage, ob Kind oder nicht, schlussendlich stets eine persönliche, individuelle bleibt.
Eines ist klar: Es sind unsere Kinder, die nächsten Generationen, die in Zukunft etwas bewegen werden, sie haben die Kraft dazu – die Kraft, auch Krisen zu überwinden.
Es ist an uns, ihnen die Wege dafür zu ebnen.
Wir haben oftmals einen verklärten Blick auf das Vergangene, auf das Damals, das allerdings niemals so war, wie wir es heute manchmal herbeisehnen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte ein Neugeborenes so viele Chancen, ein schönes, erfolgreiches, glückliches, bereicherndes, gutes Leben zu führen, wie heute. Es gab in der Menschheitsgeschichte noch keinen Tag, an dem ein Kind so sicher, so gut betreut und behütet auf die Welt kommen konnte, wie es heutzutage der Fall ist.
Das Heute ist besser als das Gestern. Alleine schon deshalb, weil die Wahrscheinlichkeit, dass Babys und Kinder versterben, auf ein Minimum reduziert wurde. Die Startrampe ist geebnet. Die Voraussetzungen dafür, gesund und voller Energie ins Leben zu gehen, um das Beste daraus zu machen, könnten besser nicht sein. Waren niemals besser. Früher ganz sicher nicht.
Was ist also los mit unserer Welt?
Warum stellen wir Kinder – unsere fortwährende Existenz – infrage? Warum sehnen wir uns nach einem idealisierten Gestern?
Wann wird endlich wieder alles so normal, wie es niemals war? Nie war etwas so wie immer. Wenn, dann nur so wie früher.
Und damit nicht besser als heute.
Doch was war denn früher?
Früher, das sind die Kindheitserinnerungen. Meine liegen im idyllischen Villnößtal, im Bergdorf St. Peter, das damals mehr oder weniger um die tausend Einwohner zählte, gelegen im Herzen Südtirols. Umzingelt von hohen, schönen Bergen: den Geislerspitzen! Wiesen, der Bach, der Wald, Kühe. Eine unbeschwerte Kindheit, ja, aber auch eine harte Kindheit.
Ob man Kinder in die Welt setzen sollte oder nicht, diese Frage stellte sich unseren Eltern damals überhaupt nicht.
Kinder waren Mittel zum Zweck. Vor allem bei den Bergbauernfamilien. Ein Kind war zwar ein Mund mehr, der gefüttert werden wollte, aber es waren gleichzeitig auch zwei Hände mehr, ein Kopf mehr, eine Arbeitskraft mehr. Kinder sicherten die Existenz. Die Bauernfamilien waren Selbstversorger. Sie lebten von ihrem Gemüse, von der Milch ihrer Kühe, vom Fleisch ihrer Schweine, den Eiern ihrer Hühner, vom Garten hinterm Haus.
Die Arbeit der Kinder wurde dringend gebraucht. Bauernfamilien im Villnöß der 1950er-Jahre hatten zahlreichen Nachwuchs. In manchen gab es sieben, in einigen zwölf Kinder. Handwerkerfamilien wie die des Schmieds, des Maurers, des Schneiders, des Bäckers oder des Steinmetzes hatten weniger. Denn in diesen Berufen konnten die Kleinen nicht als Arbeitskraft eingesetzt werden. Dennoch waren es auch hier meist drei, vier Kinder.
Erinnere ich mich daran, wie wir spielten, am Fluss, im Wald, Fußball auf einer Wiese, so habe ich Dutzende Kinder vor Augen. Doch viele starben auch. Das gehörte zum Alltag. Bei Begräbnissen wurden die kleinen weißen Särge zum Friedhof von St. Peter getragen. Die Musikkapelle spielte einen Trauermarsch. Kleine weiße Kreuze reihten sich aneinander. Es war nicht selbstverständlich, dass ein Kind lebt. Überlebt. Es bis ins Erwachsenenalter schafft. Das wussten die Familien.
Den Tod? Nahm man in Kauf, er war etwas Natürliches. Etwas Gegenwärtiges. Man rechnete stets damit.
Engelskinder wurden jene Kinder genannt, die nur ein paar Tage, Wochen, Monate zu leben hatten. Viele von ihnen starben schon bei der Hausgeburt auf den Höfen. Obwohl die Hebammen über viel Erfahrung verfügten, kamen sie dennoch oft an ihre Grenzen. Sie hatten ihr Wissen, das über Jahre und Generationen weitergetragen wurde, hatten ihre Hände, ihren Verstand, ihre Kraft. Ihren sechsten Sinn. Was sehr viel war. Aber oft einfach nicht genug. Eine Geburt zu Hause war ein Risiko, ein gefährliches Unterfangen.
Heute haben wir auf Geburtsstationen komplexe Gerätschaften zur Verfügung: elektronische Überwachungscomputer für das Ablesen der Herzfrequenz des Kindes und der Wehentätigkeit, Ultraschall-Equipment, Geräte für die Mikroblutanalyse bei Verdacht auf Sauerstoffmangel. Ein Team von jahrelang an Universitäten ausgebildeten Ärztinnen, Ärzten und Hebammen steht bereit, um Mutter und Kind zu unterstützen, das Risiko der Gefahr auf ein Minimum zu reduzieren. Heute stirbt bei der Geburt kaum noch ein Kind. Und auch keine Mutter. Im Normalfall.
Damals?
Steißlage? Das Kind riskierte zu sterben. Querlage? Da war das Todesrisiko für die Mutter enorm. Kaiserschnitt auf dem Hof irgendwo abseits in den Bergen? Gab es nicht. Überlebte das Kind, warteten bereits die nächsten Gefahren: tödliche Infektionskrankheiten. Pocken, Tuberkulose, Masern, Kinderlähmung. Krankheiten, die wir heute dank Impfungen an den Rand gedrängt haben. Sie sind beinahe nicht mehr existent, größtenteils ausgerottet. Man kennt diese Krankheiten heutzutage gar nicht mehr, sie sind nicht mehr in unserem Bewusstsein. Ein großer Fortschritt der Medizin!
Damals jedoch waren sie allgegenwärtig. Sie gehörten zum Leben als Kind oder Jugendlicher einfach dazu. Die Kindheit und Jugend im Villnößtal meiner Erinnerungen war ein blindes Herumtappen zwischen diesen – manchmal tödlichen – Fallen.
Aber nicht nur im abgelegenen Tal. Auch draußen, hinter den Bergen, in den Städten. Auch in Brixen, in der Stadt, in der ich einige Jahre zur Schule ging.
Es war das Jahr 1966. Eine Scharlach-Endemie ging um. Neben dem städtischen Krankenhaus wurde eine Quarantänestation eingerichtet. Ganz ähnlich wie zuletzt in den Krankenhäusern bei der Covid-Pandemie. Jeden Tag saßen weniger Kinder in der Klasse der Klosterschule, die ich besuchte. Irgendwann waren wir nur noch zu dritt. Auch nachts im großen Schlafraum. Das war beängstigend. Wir wurden nicht mehr unterrichtet, tagelang lief ich durch die Arkaden des Klosters, meine Schritte hallten unter den Gewölben. Sonst war nichts zu hören, kein Schülergeschrei, kein Schimpfen der strengen Padres. Erst nach Wochen kehrten die ersten Mitschüler aus der Isolation zurück, dann kamen immer mehr. Aber nicht alle.
Die Kindheit war ein Kampf gegen Krankheiten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts.
Die Trauer war da, natürlich, aber es war eine leise Trauer, eine in sich gekehrte. Beinahe eine schamhafte. Es gab kein großes Aufsehen. Es wurde nie laut ausgesprochen, aber eine Mutter, die ein Kind verlor, schämte sich. Ein Vater ebenso. Weil ein verlorenes Kind auch den Beigeschmack der Strafe in sich trug. Der Strafe Gottes. Es wurde geredet und gemunkelt im Dorf. Irgendeinen Grund wird der liebe Gott schon gehabt haben, das Kind sterben zu lassen. So dachten damals die Menschen in den Tälern, in den Bergdörfern.
Die Welt war klein damals. Die Berge umzingelten uns. Wir lebten unser Leben da unten im Tal. Der Allmächtige schaute zu uns herab.
Kinder waren der Lauf der Dinge. Wurde in einer jungen Familie über ein, zwei Jahre kein Nachwuchs geboren, klopfte eines Tages der Herr Pfarrer an die Tür, setzte sich in die Stube, ließ sich einen Kräutertee oder einen Schnaps bringen, fragte schließlich, was los sei. Ob denn alles in Ordnung sei.
Zu uns, zu den Messners, der Lehrerfamilie, kam er nie. Zumindest nicht aus diesem Grunde. Wir waren zu neunt. Ich hatte fünf ältere Brüder, zwei jüngere und eine ältere Schwester. Helmut, Reinhold, Günther, Erich, Waltraud, Siegfried, Hansjörg, Werner.
Weil das Lehrergehalt nicht reichte, hatten wir auch eine kleine Hühnerfarm. Jedes der Kinder half mit. Wir fütterten die Tiere, misteten die Ställe aus, sammelten die Eier ein, wogen sie. Kam Vater von der Schule nach Hause, musste der Hof so sauber wie möglich sein. Ordnung war für ihn das Wichtigste. Ab und an nahm mein Vater mich mit, wenn er in die unterschiedlichsten Täler und Dörfer Südtirols fuhr, um die Küken und Jungtiere zu verkaufen. In Kartons mit Luftlöchern abgepackt. Manche Kartons waren für dreißig Küken, andere für fünfzig, einige nur für zehn.
Mein Vater besaß einen Austin Mini Countryman, Baujahr 1967, mit einem großen Kofferraum und einer Holzverkleidung am Heck. So fuhren wir in der Früh los, noch bevor es hell wurde. Wir besuchten Hof um Hof, lieferten die bestellten Küken ab; wenn...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Recht / Steuern ► Öffentliches Recht | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Alpen • Bergsteigen • Bozen • Bruder von Reinhold Messner • Chefarzt Neonatologie in Bozen • Commissario Grauner • das Leben in die eigene hand nehmen • Der schmale Grat • die Welt im Wandel bestehen • eBooks • Extremsport • Factfulness • Hans Rosling • Ja zum Leben sagen • keine angst vor der zukunft • Krieg und Wirtschatskrise • Krisenbewältigung • Medizin • Motivation • Mutmachbuch • Mutmach-Buch • Neuerscheinung • Optimismus • Outdoor • Positives Denken • Psychologie • Reinhold Messner • Selbstbestimmt Leben • Selbstwert • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Sport • Südtirol • was tun angesichts von Klimakatastrophe • Zukunftsangst überwinden • zuversichtlich leben trotz aller Krisen |
ISBN-10 | 3-641-30328-1 / 3641303281 |
ISBN-13 | 978-3-641-30328-0 / 9783641303280 |
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