Kümmern und Kämpfen (eBook)

Warum Geschlechtergerechtigkeit in Erziehung und Familie uns alle freier macht

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30127-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kümmern und Kämpfen -  Anne Waak
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Frauen verdienen in Deutschland monatlich über 1.200 Euro weniger als Männer und bekommen nur knapp halb so viel Rente. Mit der Hausarbeit hingegen verbringen sie auch ohne Kinder ein Drittel mehr Zeit als ihre Partner, während Männer höheren Raten an Sucht- und psychischen Erkrankungen sowie einer geringeren Lebenserwartung entgegensehen. Alle drei Tage stirbt eine Frau durch männliche Gewalt. Von Gendergerechtigkeit kann also trotz aller Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte keine Rede sein. Wie auch, scheint doch schon die Welt der Kinder in zwei Teile zu zerfallen: rosa und blau, lieb und wild, fürsorglich und kompetitiv. Diese Zweiteilung zementiert herrschende Ungerechtigkeiten und beraubt die Frauen und Männer von morgen ganz konkreter Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Leben. Die Kulturjournalistin Anne Waak analysiert, wie zu Hause, im Kindergarten oder in der Schule toxische Männlichkeits- und Weiblichkeitskulturen (re-)produziert werden, und formuliert ein lebensnahes und undogmatisches Plädoyer an alle Sorgetragenden: Nur wenn wir unsere Kinder zu Feminst*innen erziehen, werden wir Gender Pay Gap, männliche Selbstzerstörung, Gewalt an Frauen überwinden, werden wir unsere Gesellschaft von den hohen Kosten des Patriarchats befreien können.

»Die eigenen Kinder werden einem mal dankbar sein, dass man Bücher wie dieses gelesen hat.« - Spiegel Online

Anne Waak, geboren 1982 in Dresden, arbeitet als Journalistin und Autorin für verschiedene Zeitungen, Magazine und Kulturinstitutionen. Sie hat eine Reihe von Büchern zu gesellschaftlichen Themen veröffentlicht, zuletzt Wir nennen es Familie. Neue Ideen für ein Leben mit Kindern. Sie lebt mit ihrer engsten Freundin und deren Sohn in Berlin.

VORWORT


Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die geschlechtergetrennte überwinden.

Björn Süfke, »Männer. Erfindet. Euch. Neu.«

Die Idee zu diesem Buch ist so alt wie #MeToo. Im Jahr 2017 wurden die sexuellen Übergriffe des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein auf eine Reihe von Frauen(1) bekannt, was eine ganze Bewegung ins Rollen brachte, im Zuge derer Betroffene weltweit das Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen sie sichtbar machten. Im selben Jahr bekamen sechs Paare in meinem näheren Umfeld Kinder. Darunter war auch meine engste Freundin und Mitbewohnerin Ava, die kurze Zeit später unsere WG um ein Baby namens August erweiterte – mein Patensohn und Co-Kind.

Eines von Augusts ersten Kleidungsstücken war eine rosafarbene Mütze, die nicht wenige Menschen auf der Straße und auf Spielplätzen dazu veranlasste, die Niedlichkeit des vermeintlichen kleinen Mädchens zu kommentieren. So oder so ähnlich geht es vielen Eltern, die gedankenlos oder wagemutig genug sind, ihr Kind mit nicht-genderkonformer Kleidung oder Spielzeug auszustatten.

Schon die Welt von Neugeborenen scheint in diese zwei Teile zu zerfallen: rosa und blau, und damit: lieb und wild, fürsorglich und kompetitiv, passiv und dominant. Diese Zweiteilung zementiert herrschende Ungerechtigkeiten und beraubt Mädchen, Jungen und alle anderen der Gestaltungsmöglichkeiten für ihr eigenes Leben. Wachsen diese Kinder auf, verdienen sie als Frauen in Deutschland monatlich im Schnitt 1.192 Euro weniger als diejenigen, aus denen Männer werden (außer sie arbeiten als Models oder Sexarbeiterinnen, die einzigen Berufe, in denen Frauen mehr verdienen als Männer und nicht zufällig auch solche, in denen sie auf ihre Körperlichkeit reduziert werden), und bekommen nur knapp halb so viel Rente. Mit der Hausarbeit dagegen verbringen in gegengeschlechtlichen Beziehungen lebende Frauen auch ohne Kinder ein Drittel mehr Zeit als ihre Partner, während Männer höheren Raten an Sucht- und psychischen Erkrankungen sowie einer geringeren Lebenserwartung entgegensehen. Alle drei Tage stirbt in Deutschland eine Frau durch männliche Gewalt. Jeder dritte Mann und jede fünfte Frau hat ein geschlossenes sexistisches1 bzw. antifeministisches Weltbild, stimmt also Aussagen zu wie »Für eine Frau sollte es wichtiger sein, ihrem Mann bei der Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu machen« oder »Frauen übertreiben ihre Schilderungen über sexualisierte Gewalt häufig, um Vorteile aus der Situation zu schlagen«.2 Laut des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen erreicht Deutschland nur 68,7 von 100 möglichen Punkten. Von Gendergerechtigkeit kann also trotz aller Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte keine Rede sein. Der Fortschritt scheint in der Hinsicht mit der Geschwindigkeit der tektonischen Plattenverschiebung vor sich zu gehen: Millimeter um Millimeter.

Und so wird kleinen Mädchen heute vielerorts vermittelt, dass sie alles tun, sein und werden können, was sie nur wollen, außer unansehnlich und wütend – denn Hübsch- und Freundlich-Sein ist für Angehörige ihres Genders nach wie vor nicht verhandelbar. In Wahrheit dürfen oder sollen sich Mädchen genau wie Frauen mittlerweile an männlich konnotierten Verhaltensweisen wie Entschlossenheit und Durchsetzungsstärke orientieren. Von Jungen und Männern hingegen wird nicht annähernd im gleichen Maß erwartet, sich ein traditionell als weiblich geltendes Verhalten zu eigen zu machen. Oft wird es ihnen sogar verwehrt. Darin zeigt sich die anhaltend starke Ausprägung männlicher Vorherrschaft – was als gut und erstrebenswert gilt und was eher nicht. Viele als Jungen sozialisierte Kinder wachsen noch immer mit einem Bild von Männlichkeit auf, das vor allem dadurch definiert wird, was ihnen verboten ist: Sie dürfen keine Gefühle und keine Schwäche zeigen, keinen Schmerz spüren, nicht weinen, nicht nachgeben, nicht einlenken, nicht scheitern, vor allem kein »Mädchen« und auch nicht schwul oder bisexuell sein. Verletzen sie diese ungeschriebenen Regeln, drohen ihnen Demütigung, Gewalt und Ausschluss – es droht ihnen der Verlust ihrer Identität.

Während Jungen auf diese Weise schon in der frühen Kindheit auf Linie gebracht werden, wird Mädchen häufig erst in der Pubertät bewusst, dass das Frau-Sein »etwas ganz Besonderes ist«, um mal ein geflügeltes Wort aus unserem WG-Haushalt zu gebrauchen. Auf einmal spielt es eine Rolle, welche Kleider sie tragen, welche Gegenden sie nach Einbruch der Dunkelheit betreten und ob sie die feine Grenze zwischen einem »guten« Mädchen und einer »Schlampe« kennen. Spätestens mit der Geburt eines Kindes merken Frauen oft, dass sich die Welt, die ihnen eben noch weit offen zu stehen schien, verengt. Das Versprechen, sie könnten alles haben, erweist sich als glatte Lüge.

Es geht also zunächst darum, Kindern um ihrer selbst willen das Aufwachsen in Freiheit zu ermöglichen – ihnen dabei zu helfen, die Menschen zu werden, die sie sind und sein wollen. Ich wollte herausfinden, was ich dafür tun kann, das Kind, mit dem ich seit fast fünf Jahren den Alltag teile, vor der patriarchalen Gewalt zu schützen, die es auch selbst bedroht. Ich wollte ergründen, wie ich dabei helfen kann, dass dieses Kind zu einem liebevollen, neugierigen, zugewandten, gerechten Erwachsenen heranwächst, der sensibel ist für die Belange derjenigen, die weniger privilegiert sind als er, und der auf niemanden herabschauen muss, um sich seiner selbst zu versichern – einem Erwachsenen, der der Überzeugung anhängt, dass Frauen ihm gleichwertige Menschen sind. Ich wollte herausfinden, was ich diesem Kind vermitteln wollen und wie ich mir seine Welt wünschen würde, wäre es nicht zufällig ein Junge geworden.

Mindestens einmal in der Woche denke ich an einen Satz, mit dem die Wiener Scheidungsanwältin Helene Klaar einmal auf die Frage antwortete, wie es komme, dass sie und ihr Mann im Gegensatz zu vielen anderen noch verheiratet seien: »Wir sind der Meinung, dass an allem wirklich Schlechten der Kapitalismus schuld ist. Daher lassen wir uns nicht gegeneinander hetzen.«3 Das ist, wie ich finde, ein grundlegender und potenziell rettender Gedanke: An den meisten Dingen, die das Leben schwer machen, sind weniger die Individuen schuld als vielmehr die Strukturen, in denen sie sich bewegen. Auch für die Überzeugung, Augusts rosa Mütze könne nur bedeuten, dass er ein Mädchen sei, ist letztendlich der Kapitalismus verantwortlich. Er hat einen äußerst auskömmlichen Weg gefunden, allen, die sich mit der Absicht tragen, Kinder einzukleiden oder mit Spielzeug zu beschenken, von jeder Sorte mindestens zwei Ausführungen zu verkaufen und diese beiden Optionen so zwingend erscheinen zu lassen wie ein Naturgesetz: Es gibt eines für sie und eines für ihn, und beide dürfen keinesfalls vertauscht werden.

Nun ist der Kapitalismus zutiefst mit dem Patriarchat verwoben – also der Gesellschaftsordnung, an deren Spitze einige wenige mächtige weiße Männer stehen, unter denen sich weniger mächtige Männer, Frauen und alle anderen einordnen. Der patriarchale Kapitalismus ist die Ursache dafür, dass also zum Beispiel die Arbeit auf der Welt in wertvolle Erwerbs- und als wertlos erachtete Sorgearbeit aufgeteilt ist, und dass von Männern lange Zeit erwartet wurde, dass sie gegen Bezahlung auf dem Feld, in der Fabrik oder im Büro schuften, während Frauen sich um Küche und Kinder zu kümmern hatten, und sich daran so ganz grundlegend bis heute nicht viel geändert hat. Mit dieser Zweiteilung, in deren Zentrum die bürgerliche Kleinfamilie steht, entstanden auch die bis heute geltenden Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder.

Während eine »gute« Frau von ihrer für die Sorge um Kinder und Kranke unabdingbaren und als Liebe deklarierten Selbstlosigkeit und Emotionalität bestimmt wird – von einer oppressiven Ideologie der Weiblichkeit, die Frauen auf ihre Rolle als Gebende reduziert – , gilt als »richtiger« Mann nur, wer im Gegensatz dazu über emotionale Selbstgenügsamkeit, zur Schau gestellte Härte und eine dazu passende körperliche Erscheinung verfügt, mit einer gewissen, auch sexuellen (und dabei stets heterosexuellen) Aggression sowie mit dem Willen durchs Leben geht, andere zu kontrollieren. Dieses Set an Verhaltensweisen und Attributen, die heute oft unter dem Schlagwort toxische Männlichkeit gefasst werden, schädigt die Jungen und Männer, die noch immer unter diesem Diktat aufwachsen, genau wie alle anderen Menschen. Dieses zerstörerische Verhalten kostet allein in Deutschland jedes Jahr 63 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern, ganz zu schweigen von dem Leid, das männliche Gewalt, Kriminalität, Abhängigkeit und Suizide bedeuten. Es ist erwiesen, dass eine Gesellschaft umso häufiger von Gewalt beherrscht wird, je hierarchischer sie organisiert ist und je rigider ihre Geschlechterrollen verfasst sind.4

Die Frage, welche Erwartungen wir an Kinder stellen, ist also kein politischer Nebenschauplatz, sie betrifft alle und alles um uns herum. Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster hat gezeigt, wie die Erziehung eines Menschen seine politische Gesinnung prägt.5 Nur Kinder, die in Freiheit aufwachsen – und dazu gehört auch die Freiheit von der Zurichtung auf ein genderrollenkonformes Leben – , werden diese nicht gegen Autoritarismus und Diktatur eintauschen wollen, genauso wenig wie gegen ein Leben unter Rechtspopulist*innen oder Islamist*innen, denen gemein ist,...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • Debatte • Diversität • eBooks • Erziehung • Feminismus • Frauenhass • Genderneutral • Gender-Pädagogik • Geschlechtergerechtigkeit • geschlechterklischees • geschlechtsoffen • Gleichberechtigung • Kinder • Laura Fröhlich • Mental Load • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Nils Pickert • nora imlau • Patricia Cammarata • Sachbuch • Sexismus • toxische männlichkeit
ISBN-10 3-641-30127-0 / 3641301270
ISBN-13 978-3-641-30127-9 / 9783641301279
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