Piraten (eBook)

Auf der Suche nach der wahren Freiheit
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12150-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Piraten -  David Graeber
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Das Schauspiel sagenumwobener Piraten, ihrer Königreiche, Gräueltaten und anarchistischen Utopien erregte im 18. Jahrhundert in der ganzen Welt Aufsehen. Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, schockierten und inspirierten die europäischen Eliten. Piraten und Freibeuter schufen die wirklich revolutionären Ideen für eine offene Weltgemeinschaft. Dieses utopische Potential elektrisierte David Graeber und lässt seine intellektuellen Funken auf seine Leser überspringen. David Graeber, der bedeutendste Anthropologe unserer Zeit, wagt eine provokative These: Der Westen belügt sich und die Welt über seine Geschichte, seinen Eurozentrismus, seinen Rassismus und seine kapitalistische Ideologie. Wechseln wir die Perspektive, wird Geschichte mit einem Schlag wieder lebendig, denn hier geht es um Menschen, um ihre Freiheit und ihren riskanten Alltag. Mit David Graeber tauchen wir ein in die ?andere?, anarchistische Geschichte von Magie, Lügen, Seeschlachten, Sklavenaufstände, Menschenjagden, Königreichen,  Spionen und Juwelendieben. Die Welt der Abenteuer verbindet sich mit historischen Fakten und literarischer Phantasie. Am Rand der Welt - in Madagaskar, in der Karibik oder im Orient - spüren wir dem Ursprung von Freiheit, Anarchie und Demokratie nach, die nicht im Westen entdeckt, sondern von ihm gekapert wurden. Mitreißend erzählt David Graeber diese Gegengeschichte und entdeckt souverän »nie begangene Wege« für unsere aus den Fugen geratene Welt.

David Graeber (1961-2020) war Professor für Anthropologie an der London School of Economics und Autor der Weltbestseller «Schulden», «Bullshit Jobs» und «Bürokratie» und Vordenker von «Occupy Wall Street». Völlig überraschend starb David Graeber am 2. September 2020 in Venedig.Sein letztes großes Werk «Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit» erschien postum im Frühjahr 2022 bei Klett-Cotta.

David Graeber (1961–2020) war Professor für Anthropologie an der London School of Economics und Autor der Weltbestseller «Schulden», «Bullshit Jobs» und «Bürokratie» und Vordenker von «Occupy Wall Street». Völlig überraschend starb David Graeber am 2. September 2020 in Venedig.Sein letztes großes Werk «Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit» erschien postum im Frühjahr 2022 bei Klett-Cotta.

Präludium


»Die ersten Griechen waren alle Seeräuber.«

Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (21. Buch, 7. Kapitel)

Dieses Buch handelt von Piratenkönigreichen, von realen und der Fantasie entsprungenen. Es handelt auch von einer Zeit und einem Ort, in der und an dem die Unterscheidung zwischen Fantasie und Wirklichkeit sehr schwerfällt. Für einen Zeitraum von etwa 100 Jahren, ab dem Ende des 17. bis gegen Ende des folgenden Jahrhunderts, war die Ostküste Madagaskars der Schauplatz eines Schattenspiels von legendären Piratenkönigen, von Gräueltaten von Piraten, von Piraten-Utopien, allesamt umrankt von Gerüchten, von denen sich die Gäste in Kaffee- und Wirtshäusern der Anrainerstaaten des Nordatlantiks schockieren, inspirieren und unterhalten ließen. Aus unserer heutigen Perspektive ist es absolut unmöglich, diese Berichte zu entwirren und eine definitive Erzählung zu schaffen, die klarstellt, welche Geschichten der Wirklichkeit entsprachen und welche nicht.

Manche waren eindeutig unwahr. Viele Menschen in Europa waren beispielsweise im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts der Ansicht, ein Kapitän namens Henry Avery habe mit 10 000 Piraten-Gefolgsleuten auf Madagaskar ein großes Königreich geschaffen, ein Königreich, das drauf und dran sei, sich zu einer der herausragenden Seemächte der Welt zu entwickeln. Doch dieses Königreich existierte nicht. Es war ein Schwindel. Die meisten Historiker sind mittlerweile überzeugt davon, dass sich dasselbe auch über die Erzählung vom großen utopischen Experiment Libertalia sagen ließe. Dabei handelt es sich um eine ebenfalls in Madagaskar angesiedelte Geschichte, die in einem Kapitel des 1728 erschienenen zweiten Bandes einer angeblich von einem gewissen Captain Charles Johnson verfassten General History of the Pyrates berichtet wird, deren erster Band bereits 1724 publiziert wurde. Johnson beschreibt Libertalia als egalitäre Republik, in der die Sklaverei abgeschafft ist, alle Dinge in Gemeinbesitz sind und alle öffentlichen Angelegenheiten demokratisch geregelt werden. Als ihr Schöpfer wird der ehemalige französische Piratenkapitän Misson angegeben, der unter dem philosophischen Einfluss eines früheren italienischen Priesters steht, der die Soutane für die Seefahrt aufgibt. Historikern ist es jedoch nicht gelungen, einen weiteren Beleg dafür aufzufinden, dass ein Piratenkapitän namens Misson oder ein solcher säkularisierter Priester (sein Name wird mit Caraccioli angegeben) tatsächlich gelebt hat – der Tatsache zum Trotz, dass fast alle anderen in dem Buch erwähnten Piraten durch Archivquellen belegt werden können. Auch der Archäologie ist es nicht gelungen, irgendeinen Nachweis für die physische Existenz von Libertalia zu lokalisieren.

Als Konsequenz hieraus besteht eine allgemeine Übereinstimmung, dass die ganze Geschichte schlicht erfunden ist. Manche Menschen räumen ein, dass es sich hierbei vielleicht um ein Seemannsgarn handelte, das nach der Einschätzung des Autors der History of the Pyrates einfach zu gut gesponnen war, um nicht in seine Sammlung mit aufgenommen zu werden, auch wenn er vermutlich wusste, dass es die fraglichen Ereignisse niemals gegeben hatte. Captain Johnson (wer auch immer er war) dachte sich ihrer Ansicht nach die ganze Sache schlicht und einfach aus. Nur wenige Menschen scheinen dem jedoch eine – wie auch immer geartete – größere Bedeutung beizumessen, weil als einzige wichtige Frage gilt: »Gab es an der Küste Madagaskars wirklich jemals eine Libertalia genannte utopische Siedlung ehemaliger Piraten?«

Für mich ist das eine eher triviale Frage. Wahrscheinlich gab es weder einen Misson noch Caraccioli noch eine Siedlung, die genau diesen Namen trug; aber ganz gewiss gab es Piratensiedlungen an der Küste Madagaskars, und sie waren Orte radikaler gesellschaftlicher Experimente. Piraten experimentierten tatsächlich mit neuen Formen der Regierungsführung und der Eigentumsverhältnisse; und darüber hinaus taten es ihnen Mitglieder der benachbarten madagassischen Gemeinschaften gleich, in die sie einheirateten. Viele von ihnen hatten in Piratensiedlungen gelebt, waren auf ihren Schiffen mitgefahren, hatten Blutsbrüderschaften mit ihnen geschlossen und viele Stunden lang politische Gespräche mit ihnen geführt.

Die Geschichte von Kapitän Misson ist auf eine Art als Täuschung angelegt, weil sie so erzählt wird, dass die Madagassen aus ihr herausgehalten werden. Den Piraten werden schiffbrüchige ausländische Frauen zur Seite gestellt, die Menschen der Umgebung werden auf die Rolle feindseliger Stammesgesellschaften reduziert, die die Piraten schließlich überwältigen und töten. Aber das erleichtert den Historikern und Anthropologen nur das, was sie unter solchen Umständen ohnehin gerne tun: Sie behandeln die politischen Angelegenheiten der als Europäer und der als Afrikaner (oder als nicht weiß) identifizierten Personen als vollkommen voneinander getrennte Forschungsgebiete, als getrennte Welten, bei denen es unwahrscheinlich war, dass es zu irgendeinem ernsthaften (geschweige denn intellektuellen) und wechselseitig ausgeübten Einfluss kam.

Die Wirklichkeit war, wie wir noch sehen werden, sehr viel komplizierter. Aber zugleich auch sehr viel interessanter und hoffnungsvoller.

Geschichten über Libertalia – oder über Averys Piraten-Königreich – waren deshalb in keinerlei Hinsicht isolierte Fantasien. Ihre bloße Existenz und Beliebtheit waren vielmehr ein historisches Phänomen, das für sich selbst sprach. In einem gewissen Sinn könnte man über diese Geschichten sogar sagen, dass sie – in Anlehnung an Marx’ Ausdruck – zur materiellen Gewalt in der Geschichte wurden.[1] Das »Goldene Zeitalter der Piraterie«, wie es heute genannt wird, dauerte schließlich nur 40 oder 50 Jahre; es liegt nun schon lange Zeit zurück; aber Menschen in aller Welt erzählen immer noch Geschichten von Piraten und Piraten-Utopien – oder schmücken sie auf ihre Weise aus, mit der Art von kaleidoskopischen Fantasien über Zauberei, Sexualität und Tod, die, wie wir noch sehen werden, dieses Thema schon immer begleitet haben.

Man kann sich der Schlussfolgerung kaum entziehen, dass diese Geschichten sich halten, weil sie eine bestimmte Vorstellung von menschlicher Freiheit verkörpern, eine Vorstellung, die immer noch bedeutsam zu sein scheint – die aber zugleich auch eine Alternative zu den Ideen von Freiheit bietet, die in europäischen Salons im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelt werden sollten und bis heute dominant bleiben. Der zahnlose oder mit einem Holzbein daherkommende Bukanier, der mit seiner Flagge der ganzen Welt trotzt, der mit dem Ertrag seines Beuteguts bis zur Besinnungslosigkeit trinkt und schlemmt, aber beim ersten Anzeichen ernsthaften Widerstands flieht und dabei nur unglaubliche Geschichten und Verwirrung hinterlässt, ist vielleicht ebenso sehr eine Persönlichkeit der Aufklärung wie Voltaire oder Adam Smith, aber er steht zugleich auch für eine zutiefst proletarische Vorstellung von Freiheit, die zwangsläufig gewalttätig und kurzlebig ist.

Die moderne Fabrikdisziplin entwickelte sich auf Schiffen und auf Plantagen. Erst später übernahmen die frühen Industriellen in Städten wie Manchester und Birmingham diese Techniken der Umwandlung von Menschen in Maschinen. Die Piratenlegenden könnte man dann als die wichtigste dichterische Ausdrucksform bezeichnen, die das in den Anrainerstaaten des Nordatlantiks sich herausbildende Proletariat hervorgebracht hat, dessen Ausbeutung den Boden für die industrielle Revolution bereitete.[2] Solange diese Formen der Disziplin – oder ihre subtileren und heimtückischeren modernen Ausprägungen – unser Arbeitsleben bestimmen, werden wir immer über Bukanier fantasieren.

Das Hauptthema dieses Buches ist jedoch nicht der romantische Reiz, der von der Piraterie ausgeht. Es ist eine historische Arbeit, für die anthropologisches Wissen genutzt wird; es soll hier versucht werden, herauszuarbeiten, was gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts an der Nordostküste Madagaskars tatsächlich geschah, als sich mehrere Tausend Piraten dort niederließen; außerdem soll in einem umfassenderen Sinn gezeigt werden, dass Libertalia tatsächlich...

Erscheint lt. Verlag 14.1.2023
Übersetzer Werner Roller
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 18.Jahrhundert • Aufklärung • Freiheit • Händler • Händlerinnen • Kaufleute • Madagaskar • Operettenstaaten • Piraten • Piraterie • Scheinkönigreiche
ISBN-10 3-608-12150-1 / 3608121501
ISBN-13 978-3-608-12150-6 / 9783608121506
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