Cancel Culture Transfer (eBook)

Wie eine moralische Panik die Welt erfasst | Das Phänomen »Cancel Culture« verstehen

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77465-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Cancel Culture Transfer -  Adrian Daub
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Ein Gespenst geht um in Europa, ja in der ganzen Welt - das Gespenst der Cancel Culture. Glaubt man diversen Zeitungen, dürfen insbesondere weiße Männer jenseits der vierzig praktisch nichts mehr sagen, wenn sie nicht ihren guten Ruf oder gar ihren Job riskieren wollen. Ist da etwas dran? Oder handelt es sich häufig um Panikmache, bei der Aktivist:innen zu einer Gefahr für die moralische Ordnung stilisiert werden, um ihre berechtigten Anliegen zu diskreditieren?
Der Ursprung der Cancel Culture wird üblicherweise an US-Universitäten verortet. Adrian Daub lehrt im kalifornischen Stanford Literaturwissenschaft. Er zeigt, wie während der Reagan-Jahre entwickelte Deutungsmuster über Campus-Romane verbreitet und auf die Gesellschaft insgesamt übertragen wurden. Man pickt einige wenige Anekdoten heraus und reicht sie herum, was auch hierzulande zu einer verzerrten Wahrnehmung führt. Anhand quantitativer Analysen zeichnet Daub nach, wie diese Diagnosen immer weitere Kreise zogen, bis sie auch die Twitter-Kanäle deutscher Politiker erfassten.

<p>Adrian Daub, geboren 1980 in Köln, ist Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University. Er schreibt u. a. für die <em>Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung</em> sowie die <em>Neue Zürcher Zeitung</em>.</p>

7Vorwort
Allerlei Gespenster


»Wenn ich ein Wort gebrauche«, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, »dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.«

»Es fragt sich nur«, sagte Alice, »ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.«

»Es fragt sich nur«, sagte Goggelmoggel, »wer der Stärkere ist, weiter nichts.«

Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln (1871)

Die Angst vor Cancel Culture hat uns erfasst, eine alte Angst in einem neuen Gewand. Wie viele alte Ängste (und wie viele unserer neuen Gewänder) kommt diese Furcht aus den USA. Harper's Magazine druckte im Oktober 2020 einen offenen Brief, in dem zahlreiche Intellektuelle und Künstler:innen klagten: »Der freie Austausch von Informationen und Ideen, das Lebenselixier liberaler Gesellschaften, wird mit jedem Tag weiter eingeschränkt.«1 Die ehrwürdige New York Times (NYT) fürchtet um die Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten und berichtet von einer »Last«, die im Alltagsleben der USA auf ihr liege.2 »Keiner – unabhängig von Alter und Beruf – ist sicher«, so das liberale Magazin The Atlantic.3 Slavoj Žižek bezeichnet die »Auferlegung neuer Verbote und Regeln« als »Pseudoaktivität, vermittels derer man sicherstellt, dass sich wirklich nichts ändert, indem man vorgibt, hektisch zu handeln«.4 Gavin Williamson, unter Boris Johnson Bil8dungsminister des Vereinigten Königreichs, wollte Cancel Culture per Gesetz verbieten. Lapidarer formulierte es Elon Musk auf Twitter: »Cancel Cancel Culture!«5

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) fühlt sich an die chinesische Kulturrevolution erinnert. Der Spiegel weiß zu berichten, dass in den USA »im Wochentakt Professoren ins Visier eines erregungsbereiten Internetmobs geraten«.6 Auch in Deutschland sieht Die Welt »die Stunde der Denunzianten und Zensoren« gekommen: »Viele Deutsche haben das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen. Tatsächlich werden Menschen daran gehindert, sich zu äußern – von Radikalen, ob in Lehrsälen oder im Internet.«7

Im Präsidentschaftswahlkampf 2020 entdeckte Donald Trump das Thema für sich. Vor dem klassisch amerikanischen Postkartenmotiv des Mount Rushmore warnte er in einer Rede anlässlich der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli, Cancel Culture »sei die Definition von Totalitarismus«, sie sei »unserer Kultur und unseren Werten völlig fremd«. Sie habe »absolut keinen Platz in den Vereinigten Staaten von Amerika«. Sie sei eine »politische Waffe«, mit der das Ziel verfolgt werde, »Menschen von ihren Arbeitsplätzen zu vertreiben, Andersdenkende zu beschämen und von jedem, der anderer Meinung ist, völlige Unterwerfung zu verlangen«.8

Dieser Diskurs, der einmal so ur-amerikanisch war wie eine Rede am 4. Juli am Mount Rushmore: Er hat sich längst zum internationalen Exportschlager entwickelt. Im Oktober 2021 hielt Wladimir Putin als Teil 9der Drohkulisse im Zuge der Vorbereitungen zum Krieg gegen die Ukraine eine Rede beim Valdai-Diskussionsforum in Sotschi. Dort griff er die »культура отмены« (Stornierungskultur) an. Diese sei ein gefährlicher westlicher Import, mit dem Russland geknebelt und geknechtet werden solle. 2022 dann, während Bomben auf Kiew fielen, verglich Putin die Reaktion des Westens gegenüber Russland mit dem Schicksal der Harry-Potter-Autorin J. ‌K. Rowling. Papst Franziskus warnte Anfang des Jahres 2022 vor der Cancel Culture als »eine[r] Form der ideologischen Kolonisierung, die keinen Raum für Meinungsfreiheit lässt«.9 Harry Potter erwähnte er leider nicht.

Auch in der Alten Welt hat man Angst vor den Canceler:innen, gerade weil sie angeblich amerikanische Verhältnisse nach Europa einschleppen. Die deutschsprachige Presse hat sich früh für den Begriff »Cancel Culture« interessiert. Er ist in Deutschland vor allem ein Medienbegriff geblieben. Seit 2019 findet sich »Cancel Culture« in Tausenden Artikeln in deutschsprachigen Zeitungen, von der Heilbronner Stimme bis zum Düsseldorfer Handelsblatt. Mindestens 120 Artikel widmete allein die NZZ dem Thema, im Spiegel tauchte der Ausdruck in fast 200 Artikeln auf. Der Philosoph Richard David Precht charakterisiert Cancel Culture als Teil einer »offensichtlichen Wertverschiebung der Linken«: Nach dem Ende des klassischen Marxismus fordere die Linke »heute die uneingeschränkte Deutungsmacht über den Menschen: seine Sprache, seinen Charakter, seinen Körper und seine Sexualität«. Precht sieht in den Debatten um »Gender und Transgender, 10drittes Geschlecht und Cancel Culture« einen »neue[n], divers gefüllte[n] autoritäre[n] Moralismus«.10

Seit 2020 warnt das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit vor der Cancel Culture, das Jahrbuch für Meinungsfreiheit widmet sich ihr ebenso wie die 2020 ins Leben gerufene Buchreihe »Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses«. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in großen Tageszeitungen wird munter über linksidentitäre »Shitstorms« und »Wokeness« debattiert und gefragt: »Wie selbstgerecht sind die Linken?«11

Dieses Buch ist Ausdruck meiner Sorge, dass oft selektiv und partiell argumentiert wird, wenn von Cancel Culture die Rede ist. Aus wichtigen gesellschaftlichen Verschiebungen, auf die wir dringend Antworten benötigen, werden bestimmte Strömungen, Tendenzen und Einzelfälle herausgepickt und andere geflissentlich ignoriert. Im Endeffekt haben wir es nicht mit hilfreichen Lösungsansätzen zu tun, wenn vor Cancel Culture gewarnt wird, sondern eher mit einer moralischen Panik. Diese hängt vor allem mit dem zusammen, was ich Aufmerksamkeitsökonomie nennen werde: Man redet über Cancel Culture, um nicht über anderes reden zu müssen, um bestimmte Diskurse, Positionen und Autoritäten zu legitimieren und andere zu delegitimieren. Das Problem am Diskurs um Cancel Culture ist, dass er reale Probleme in einer Art Jahrmarktspiegel verzerrt. Winston Churchill wird der Satz zugeschrieben: »Ein Fanatiker ist jemand, der seine Meinung nicht ändern kann und das Thema nicht wechseln will.« Es geht mir nicht darum, jene, die gerne noch den nächsten und übernächsten Artikel schreiben würden über das, was 11sie alles angeblich nicht mehr sagen dürfen, von meiner Meinung zu überzeugen. Diese 371 Seiten sind ein Versuch, sie dazu zu ermuntern, zumindest das Thema zu wechseln.

Aber auch dieser Versuch hat seine Geschichte, die hier nicht verschwiegen werden soll. »Ein Gespenst geht um in Europa«, so beginnt der Klappentext dieses Buches. Ein Zitat, ursprünglich ein Marx-Zitat, aber – wie ich während der Arbeit an diesem Buch merken musste – mittlerweile weitaus mehr als das. Wenn ein anderer berühmter Satz von Marx wahr ist und sich »alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen« zwei Mal ereignen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce, dann hat sich das Zitat vom umgehenden Gespenst längst von aller tragischen Schwerkraft gelöst und stößt in die unendlichen Weiten der Farce vor. 1992 notierte Dietrich Diederichsen in einem Text zur politischen Korrektheit: »Ein Gespenst geht mal wieder um.«12 1995 beschrieb Michael Bonder einen konservativen Diskurs über Political Correctness, vermittels dessen »der ewige Kampf gegen die Kommunisten umgemünzt« werden konnte – der Titel, Sie ahnen es: Ein Gespenst geht um die Welt.13 Und in einer Metageste schrieb Marc Fabian Erdl 2014 ein Buch über Das Gespenst der politischen Korrektheit.14

Das Sprachspiel um »Diskurspolizisten«, »Tugendterror« und »Moralkollektivierung«: Es wiederholt sich, es rotiert, es tritt seit 30 Jahren auf der Stelle. Aber auch der Diskurs, der es entlarvt, klingt seit über 30 Jahren gleich. Beide Seiten sind vereint in ihrer Ermüdung. Wenn es um angebliche Denk-, Rede- und Auftrittsver12bote, um Diskursrinnen und Tugendwächter:innen geht, sind wir – ob Anti-PC-Panikmacher:innen oder Anti-Panikmache-Abwiegler:innen – die Gespenster, die umgehen. Wie der von Jack Nicholson gespielte Jack Torrance in Stanley Kubricks The Shining, dem der angebliche...

Erscheint lt. Verlag 21.11.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
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ISBN-10 3-518-77465-4 / 3518774654
ISBN-13 978-3-518-77465-6 / 9783518774656
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