22 Bahnen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

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eBook Download: EPUB
2023
208 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8278-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

22 Bahnen -  Caroline Wahl
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Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023
Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der genau wie sie immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.

>22 Bahnen< ist eine raue und gleichzeitig zärtliche Geschichte über die Verheerungen des Familienlebens und darüber, wie das Glück zu finden ist zwischen Verantwortung und Freiheit.
Spiegel-Bestseller

CAROLINE WAHL wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs bei Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman >22 Bahnen< bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Außerdem wurde >22 Bahnen< Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. Caroline Wahl lebt in Rostock.

»Caroline Wahl findet das Besondere im Alltäglichen und das Tröstliche im Schmerzvollen. Ein berührendes und feinsinniges Buch, mit dem man gern befreundet wäre.« – BENEDICT WELLS

»Ich bin durch >22 Bahnen< gerauscht und hellauf begeistert. Herzerwärmend, fein, gnadenlos und richtig schön zugleich.« – ALINA BRONSKY

TEIL 2

Karotten, Kirschtomaten, Champignons, Äpfel, Vollmilch, Vollmilch, Toppas, Lion Cereal, Vollkorntoast, Reis, Honig, Bonne Maman Rhabarber-Konfitüre, Fruchtzwerge, Joghurt mit der Ecke mit Schokoballs, Paula Schoko-Pudding mit Vanille-Flecken, Magerquark, Crème fraîche, Sahne, Gouda-Käse, Rotkäppchen-Camembert, Wurstwaren, Caprisun Multivitamin, Geo Mini. Ich spiele nicht, sage »48,99 Euro«, schaue hoch und sehe das Gesicht der Mutter. Sie lächelt mich freundlich an. Neben ihr steht ein kleiner Junge mit einer angegessenen Wurstscheibe in der Hand. Wenn der wüsste, was er für ein Glück hat.

Bevor mein Vater gegangen ist, war ich oft mit Mama einkaufen, und die Wurstscheibe, die ich an der Wursttheke bekam, war natürlich der Höhepunkt. Manchmal waren wir nach dem Supermarkt sogar noch beim Metzger in der Altstadt, wo ich von der Verkäuferin einen Doppeldecker bekam – eine Scheibe Lyoner, eine Scheibe Salami, zusammengerollt.

4 Stunden später lege ich die Mirácoli-Variante von Mirácoli-Nudeln, Cini Minis, Dr. Oetker Vanillesoße, Paula Schoko-Pudding mit Vanille-Flecken, Lyoner und Salami auf das Band. »9,27 Euro«, sagt Frau Bach, ich zahle, stopfe die Sachen in meinen Rucksack und renne zum Bahnhof.

Ich weiß nicht genau, was ich empfinde, als ich durchs Fenster der Unibibliothek die Studenten auf der Wiese liegen und sitzen sehe, und würde gern ganz kurz empfinden, was sie empfinden. Auf jeden Fall ist da nicht nur eine Fensterscheibe zwischen uns. Ich muss ein Forschungsvorhaben und eine Gliederung für meine Masterarbeit vorbereiten, die ich in dem Kolloquium vorstellen muss, aber ich habe noch kein konkretes Forschungsvorhaben, nur eine Richtung, in die ich gehen möchte. Ich will die stochastischen Navier-Stokes-Gleichungen untersuchen und habe das Gefühl, dass ich eine gute Idee habe, aber irgendwie komme ich gerade nicht weiter. Es ist alles noch viel zu vage. Meine These muss richtig stark sein, auch wegen Berlin. Nachher entscheide ich mich für Berlin, und dann entscheidet Berlin sich gegen mich. Aber mein Kopf will heute kein Forschungsvorhaben ausarbeiten, solange ich das Wichtigste vor mir herschiebe. Mein Kopf denkt an Ida, die die letzten Tage erschreckend gut drauf ist und das mit Mama seltsam gut weggesteckt hat. Wäre da nicht ihre Backe, die jeden Tag ihre Farben wechselt, würde ich fast vergessen, was passiert ist. Als wir am Donnerstagmorgen in Bambi-Schlafanzug und Nike-Trainingsanzug auf dem Nachhauseweg waren, fragte sie in der Fröhlichstraße: »Haben wir große Müllsäcke?«

Ich: Kommt drauf an. Was hast du vor?

Ida: Ich will mein Zimmer aufräumen.

Und so verschwand sie in unserer Wohnung schnurstracks mit den Säcken in ihrem Zimmer und räumte auf. Ich wusste nichts mit mir anzufangen, ging in die Küche, die so aussah wie am vorherigen Tag, noch immer kein Abendbrottisch, ging ins Wohnzimmer, wo Mama lag und schlief, stand über ihr und betrachtete sie, wie sie da einfach nur lag und schlief. Immer wieder bin ich aufs Neue geschockt, wie friedlich, unschuldig und vor allem kindlich sie aussieht, wenn sie schläft. Einzelne Haare kleben an ihrer verschwitzten Stirn, ihre Wange ist oft auf ihre zusammengefalteten Hände gebettet, manchmal liegt ein angedeutetes Lächeln auf ihren Lippen. Wut setzte meinen Körper in Brand. Ida hatte mir noch immer nicht erzählt, was passiert war. Ich klopfte an Idas Tür, ging rein, setzte mich aufs Bett und schaute ihr ein paar Minuten dabei zu, wie sie die ganzen Schulmaterialien in einen der Säcke warf.

Ich: Ida, was ist eigentlich gestern passiert?

Sie hielt kurz inne, schmiss dann weiter die Hefte in den Sack und sagte sehr leise: »Sie wollte, dass ich Wodka kaufen gehe.«

Fuck. So was in der Art hatte ich erwartet. Ich kann es mir immer noch genau vorstellen, wie Ida den Kopf schüttelt und sagt, dass sie zu jung sei, wie Mama daraufhin wütend wird, weil Ida so leise spricht und so ängstlich ist, und sie auffordert, den Wodka einfach zu klauen, wie Ida daraufhin stumm den Kopf schüttelt und wie Mama dann noch wütender wird. Und dann.

Ich: Soll ich helfen?

Ida: Nein.

Sie schleppte den 1. vollen Sack vor die Tür.

Ida: Geh doch schwimmen.

Ich: Nein, ich bleib heute hier.

Ida: Nein, geh doch. Ich brauch hier noch.

Weil ich wirklich nichts mit mir anzufangen wusste und mich die friedlich schlafende Frau auf dem Sofa so unerträglich wütend machte, ging ich dann doch schwimmen. Als ich die 23. Bahn beendete und kurz am Beckenrand ausschnaufte, stand Viktor auf dem Block; ich nickte ihm zu, er nickte oder zuckte zurück und sprang ins Wasser. Ich kletterte aus dem Becken, zog Hose und Shirt über meinen nassen Bikini, nickte Ursula zu und flüchtete. Als ich nach Hause kam, standen vor Idas Tür 4 gefüllte Müllsäcke, und in der Küche saß Ida am gedeckten Abendbrottisch und bereitete ihr Nutellatoast für die Mikrowelle vor. Ich entschied, ihr das heute nicht zu verbieten wegen dem ganzen Scheiß.

Ich: Ab morgen gibts kein Nutella mehr zum Abendbrot.

Mama kam hinter mir in die Küche, ich drehte mich zu ihr um und sah, wie sie sich am Türrahmen festhielt, als sie Idas Backe entdeckte. Sie hatte vergessen, was sie am vorherigen Tag getan hatte. Langsam ging sie auf Ida zu, wollte ihr über den Kopf streicheln, aber Ida zog ihn weg. »Es tut mir leid, Idamäuschen«, sagte sie mit der Hand in der Luft, Ida schaute konzentriert auf ihr Nutellatoast, das sie mit noch mehr Nutella bestrich, Mama verharrte kurz, drehte sich dann um, trat zum Kühlschrank, öffnete ihn, nahm sich mit der Hand, die eben noch in der Luft gehangen hatte, tatsächlich eine Dose Bier heraus. Während sie uns den Rücken zudrehte und die Küche verließ, nahm ich ein Radieschen, und anstatt es nach ihr zu werfen, zerdrückte ich es in meiner Faust, bis es entzweibrach. »Prost«, rief ich ihr nach.

Seit diesem Donnerstag war der Tisch wieder jeden Abend gedeckt, wenn ich vom Schwimmen kam. Mama aß nicht mit und war entweder im Wohnzimmer oder auf dem Balkon, trank Bier und Wein, lackierte ihre Fußnägel oder schaute Fernsehen. Beim Abendessen redeten Ida und ich meistens über den Film, den wir am Vorabend geschaut hatten. Ida mochte die Protagonistinnen der Filme oft nicht, weil sie immer so »wie Maschinen oder Roboter« wirkten. Snow White bzw. Kirsten Stewart brachte Ida richtig in Rage. »Sie guckt immer so, als ob sie Migräne hat. Sie lacht nie. Und sie ist unlustig.« Ida ist lustig. Wenn ich sie fragte, was sie am Tag gemacht habe, während ich arbeiten und in der Uni war, zuckte sie mit den Schultern, was bedeutete, dass sie gemalt hatte. Sie malte den ganzen Tag lang, abends deckte sie den Tisch, und nach dem Abendessen schauten wir einen Film in meinem Zimmer.

Meinen Plan, Ida zu einer Kämpferin zu erziehen, habe ich abgesehen von den Filmen nicht weiter ausgearbeitet. Berlin habe ich seit dem Vorfall sowieso verdrängt. Aber Berlin hin oder her, so kann das nicht die ganzen Ferien gehen. Auf dem Rand meines Blockes tagge ich Berlin in großen Buchstaben und notiere unter der Überschrift »Ida-Vorhaben« die Stichpunkte Handy (heute), Bibliothek (heute), Regeln? (Kommunikation), neues Hobby (Schwimmclub, Kampfsport?), Schwimmbad bei gutem Wetter? (Sonnenbrille, heute), Ferienbeschäftigung? (Uni, Hallenbad, Wanderung). Ich reiße die Liste aus dem Block, packe meine Sachen zusammen und verlasse die Bibliothek. Am Automaten vor der Cafeteria kaufe ich eine Unibibliothek-Plastiktasche, renne in die Altstadt. Im MediaMarkt kaufe ich ein Smartphone, im H&M eine Sonnenbrille. In der Stadtbibliothek lasse ich eine Bibliothekskarte ausstellen und leihe ein paar Coming-of-Age-Romane aus, die ich damals gern gelesen habe. Mit den Büchern und dem ganzen anderen Zeug in der Uni-Plastiktasche fahre ich zum Schwimmbad, das brechend voll ist. Schulferien und Hitzeperiode – eine gefährliche Kombination. Ich scanne das Becken 3-mal von links nach rechts, obwohl ich schon beim 1. Blick gemerkt habe, dass da heute niemand ist, der das Chaos durchbricht. Viktor ist nicht da. Der 1. Abend, an dem er nicht da ist, seit er hier ist. Vielleicht ist es ihm zu heiß und zu voll. Aber eigentlich hat er auch an den vorherigen heißen Tagen unbeirrt seine Bahnen durch das volle Becken gezogen, wobei die tobenden Kinder und paddelnden Senioren dem Krauler ehrfürchtig ausgewichen sind. Das Kopfnicken geschweige denn der Handgruß sind seit dem Besuch in seinem Zuhause nicht mehr da gewesen. Da war nur noch dieses fast unmerkliche Zucken, wenn sich unsere Blicke trafen. Ich musste ganz genau hinschauen, damit ich es sah. Und das macht mich immer noch so wütend. Es kotzt mich an, dass er so viel weiß, dass er mich in einem so schwachen Moment erlebt hat. Es kotzt mich an, dass er mich in so einem schwachen Moment gesehen hat und mich dann nicht weiter kennenlernen wollte. Am liebsten würde ich ihn eliminieren, wie bei so einem schlechten Mafiafilm, bei dem die Menschen eben sterben, die zu viel wissen. Während ich mir meine Bahnen durch das Becken erkämpfe, frage ich mich, ob Viktor vielleicht abgefahren ist. Ich denke, es wäre okay für mich, wenn er abgefahren wäre, spüre aber ein flaues Gefühl im Magen. Das schwüle Wetter macht mir zu schaffen. Ich verbiete mir den Gedanken an Viktor, der morgen bestimmt wieder hier ist, und denke an die Unibib-Plastiktasche und mein Ida-Vorhaben, das ich gleich präsentieren werde. Nach 23 Bahnen setze ich mich nicht mehr neben Ursula, ziehe mein Kleid über, setze den Rucksack auf, werfe mir die Unibib-Tasche über die Schulter und sage zu Ursula: »Sorry, muss sofort los, hab noch was...

Erscheint lt. Verlag 18.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Geisteswissenschaften Psychologie Sucht / Drogen
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alina Bronsky • Benedict Wells • Booktok • Christian Huber • Coming of Age • dysfunktionale Familien • Familienprobleme • Freibad Roman • Geschwister Roman • Girls Day • Heldinnengeschichte • Liebesgeschichte • MINT • Nullerjahre • Prekariat • Schwimmbad • Schwimmbad Roman • Schwimmerin auf Cover • Selbstermächtigung • Sommerroman • TikTok • tiktok made me buy it • tragikomischer Roman • tschick • Zusammen ist man weniger allein
ISBN-10 3-8321-8278-0 / 3832182780
ISBN-13 978-3-8321-8278-6 / 9783832182786
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