Unsozialstaat Deutschland (eBook)

Warum wir radikal humanistisch werden müssen
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
254 Seiten
Quadriga (Verlag)
978-3-7517-4292-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unsozialstaat Deutschland -  Cansin Köktürk
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Die Armutsquote in Deutschland hat ein Rekordhoch erreicht. Die verheerenden Auswirkungen erlebt Cansin Köktürk bei ihrer täglichen Arbeit als Sozialarbeiterin hautnah: In Kitas, in Schulen, in der ambulanten Jugendhilfe, in Notunterkünften und in den Städten, die am stärksten davon betroffen sind. Sie fordert eine Vermögenssteuer, ein bedingungsloses Grundeinkommen und offene Grenzen als Grundlage einer gerechten Gesellschaft. Ihrer Partei, den Grünen, wirft sie vor, die eigenen Werte verraten zu haben. Cansin Köktürks Buch ist eine unverzichtbare, streitbare Stimme im Kampf für soziale Gerechtigkeit.



Cansin Köktürk studierte nach dem Abitur Soziale Arbeit, weil sie soziale Ungleichheiten und gesellschaftliche Probleme seit ihrem 16. Lebensjahr bewusst beschäftigt haben. Sie wollte wissen, wieso Menschen in Armut leben müssen und wieso Menschen aus ihrer Heimat fliehen und vor allem wieso Menschen erst und überhaupt durch die Soziale Arbeit aufgefangen werden müssen. Die Erfahrungen unmenschlicher Zustände brachten sie dazu, später bei den Grünen in Bochum Mitglied zu werden, in der Hoffnung politisch etwas bewegen zu können.

Cansin Köktürk studierte nach dem Abitur Soziale Arbeit, weil sie soziale Ungleichheiten und gesellschaftliche Probleme seit ihrem 16. Lebensjahr bewusst beschäftigt haben. Sie wollte wissen, wieso Menschen in Armut leben müssen und wieso Menschen aus ihrer Heimat fliehen und vor allem wieso Menschen erst und überhaupt durch die Soziale Arbeit aufgefangen werden müssen. Die Erfahrungen unmenschlicher Zustände brachten sie dazu, später bei den Grünen in Bochum Mitglied zu werden, in der Hoffnung politisch etwas bewegen zu können.

Kapitel 1


Soziale Arbeit als politischer Auftrag


Mir fällt es selbst sehr schwer, in dieser Zeit die Hoffnung nicht zu verlieren und ein Buch zu schreiben. Mir fällt es schwer, in Worte zu fassen, was ich täglich als Sozialarbeiterin erlebt habe und aktuell erlebe. Doch weiß ich auch, dass es wichtig und notwendig ist, das jetzt gerade zu tun: helfen, kümmern und füreinander da sein. Genau das ist die Essenz, die uns zu sozialen Wesen macht, zu Mitmenschen, die erkennen, dass wir alle miteinander verbunden sind.

In meiner Jugend hatte ich Schwierigkeiten zu verstehen, wieso diese Welt so ungerecht ist und niemand etwas dagegen unternimmt. Warum wir auf der einen Seite des Globus privilegiert leben dürfen, während auf der anderen Seite oder sogar im selben Land Menschen leiden. Meine Großeltern kamen als Gastarbeiter in den Siebzigerjahren nach Deutschland. Schon während meiner Kindheit und Jugend sah ich, wie unterschiedlich die Leben von Menschen ungewollt verlaufen und wie schmerzhaft es sein kann, dass man nicht frei, sondern bereits zum Zeitpunkt der Geburt vorbelastet ist. Wie es ist, wenn man Kinder in der Heimat hat, in einem fremden Land unter schlechten Bedingungen arbeiten muss und der einzige Bestandteil des Alltags der Überlebenskampf ist.

Ich wurde früh damit konfrontiert, dass meine Familie sich anderen Hürden gegenübersah als die Familien meiner Freunde. Zumindest wirkte es so auf mich. Aus dem Ausland hierherzukommen, eine neue Sprache zu lernen und sich der neuen Kultur anpassen zu müssen, ist kein einfacher Weg. Ich bemerkte, wie meine Großeltern anders auftraten in ihrem neuen, bürgerlichen deutschen Leben als sonst, wenn sie mit uns zusammen waren. Ich erlebte ihre zwei Versionen – denn sie waren unterschiedliche Personen; die fremde Sprache machte sie zu anderen Menschen, hemmte sie darin, sich zu entfalten und so sein zu dürfen, wie sie eigentlich waren. Mir fiel schon damals auf, wie viele Faktoren das Leben bereithält, die wir selbst nicht beeinflussen können. Ich empfand immer Mitgefühl und auch Mitleid mit meinen Großeltern, dass sie ihre Heimat verlassen mussten, um ihren Kindern etwas bieten zu können.

Meine Welt als Kind und als Jugendliche war geprägt von unterschiedlichen Lebensweisen. Zwischen zwei Kulturen fand ich mich wieder und durchlebte eine Identitätskrise, die meine deutschen Freunde nicht nachvollziehen konnten. Ich spürte die Melancholie auf der einen und die vielen positiven Eindrücke auf der anderen Seite. Abends sprachen wir Türkisch, und morgens musste ich in der Schule Deutsch sprechen. Ich konnte beide Sprachen fließend, doch auch heute noch gibt es Dinge im Türkischen, die es im Deutschen nicht gibt, und andersherum genauso. Die unterschiedlichen Benennungen der Dinge und der Gefühle waren für mich Geschenke. Meine Welt weitete sich, und meine Blickwinkel wurden verdoppelt. In meiner Welt gab es mehr Emotionen, mehr Gefühle und mehr Schmerz als nur in einer Sprache. Andere Bezeichnungen erschufen neue Dimensionen und machten sie greifbarer.

Wir fuhren in meiner Kindheit oft in die Türkei und durchs ganze Land, und ich konnte verschiedene Eindrücke sammeln. Ich traf damals auf viele Kinder in meinem Alter, die ein völlig anderes Leben führten als ich. Es bewegten sie andere Dinge, obwohl wir im selben Alter waren. Laut meinen Tagebüchern dachte ich bereits damals darüber nach, wieso es uns allen nicht gleich gut gehen kann. Wieso muss es arme Menschen geben und dafür in so einem starken Kontrast Superreiche? Wieso darf ein Mensch nicht von Anfang an selbst entscheiden, welche Version er von sich werden möchte? Die Gegebenheiten, in die wir hineingeboren werden, bestimmen unser Leben – wo wir auf die Welt kommen, wie viel Geld unsere Eltern oder Großeltern haben, welche Schulen wir besuchen und noch so viel mehr. Unser Glück ist abhängig von vielen Zufällen, die wir nicht selbst bestimmen können.

Wann wurden ungerechte Umstände als normal angesehen?


Schon als Kind verstand ich die Unterschiede nicht, die zwischen Menschen gemacht werden. Am Ende des Tages wollen wir alle in den Arm genommen werden und brauchen etwas zu essen und zu trinken, dachte ich. Wieso also muss es jemandem schlechter gehen als mir selbst? Wieso darf nicht jedes Kind dieser Welt lachen und Spielzeuge haben? Wieso müssen manche Menschen vor Angst zittern, um ihr Leben bangen und um ihre Freiheit kämpfen, während andere das Gegenteil erleben und sich ihrer Freiheit nicht mal bewusst sind?

Diese Gedanken verfestigten sich in mir mit den Jahren. Geprägt durch linke Zeitungen, die meine Eltern lasen, und die Musik, die ich in meiner Jugend hörte, wandelte sich meine Neugier in eine Haltung um, die ich bis heute einnehme und verteidige. Für gleiche Rechte und vor allem die gleichen Chancen, damit sich jeder Mensch entfalten kann. So wie er oder sie es möchte und nicht, wie die Umstände es vorgeben. Ich träumte von einer Welt, von einem System, in dem jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich glücklich zu fühlen und Glück zu erfahren, Erfolg zu spüren, sich selbst zu finden und zufrieden irgendwann von dieser Welt zu gehen. Ich war mir sicher, dass es weniger Hass, Kriege und Neid geben würde, wenn Menschen zufrieden wären und sich nicht mehr vergleichen oder andere dafür beschuldigen würden, dass sie weniger haben. Ich glaubte daran, und das tue ich nach wie vor, dass wir unser Leben selbst in die Hand nehmen müssen und verantwortlich dafür sind, sofern wir die Freiheit haben, eigenverantwortlich handeln zu können, und die Strukturen fair sind. Ich konnte es schon in meiner Jugend nicht ertragen, an einem obdachlosen Menschen vorbeizugehen – nicht, ohne wütend zu werden. Warum musste der Mensch draußen in der Kälte sitzen? Ich war süchtig danach, Erklärungen zu suchen, wollte die Welt begreifen. Luxusgüter und teure Dinge interessierten mich nicht, ich wollte wissen, was uns antreibt und wieso wir die Wege gehen, die wir eben gehen. Wer hatte die Erlaubnis, über mich zu bestimmen, wenn er oder sie doch auch nur ein Mensch war, so wie ich? Wie konnten sich die einen über die anderen stellen, wenn wir doch gleich waren? Hatten sie irgendeine Superpower, von der wir nichts wussten, oder wieso durften die das? Wieso nutzten manche ihr Glück aus und stemmten sich dagegen, dass alle Menschen so leben durften?

Mir leuchteten Hass und Gier, Neid und Missgunst nicht ein. Wieso es so war und ich so empfand, kann ich nicht erklären. Es war ein Gefühl, das ich früh in meiner Jugendzeit spürte und das mit der Empörung darüber einherging, dass die Welt so unfair war. Ich war schockiert darüber, dass Menschen mit geschlossenen Augen durch diese Welt gingen und andere Wesen, die ihnen doch glichen, wie Dreck behandelten. War denn niemandem klar, wohin wir uns bewegten, wenn wir so weitermachten?

Ich floh damals in die Melancholie und trug dabei eine Wut in mir, die so lange in mir schlummerte, bis ich den Beruf der Sozialarbeiterin wählte. Ich hatte keine Lust, einen Job zu machen, der sich lediglich übers Einkommen definierte. Für dieses menschenverachtende System sollte ich nur deshalb arbeiten, um Geld zu verdienen? So war ich nicht. Geld war nicht das, wieso ich hier war. Zugleich war es in meinen Augen genau dieses System des Gelderwerbs, das arme Menschen ärmer machte und die Reichen noch reicher. Ich fragte mich: Wer oder was war wirklich schuld daran, dass wir uns nicht mehr menschlich verhielten und einander kaum mehr Beachtung schenkten? Wann wurde der Mensch zu einem absolut egoistischen Monster, dem es egal war, dass andere Menschen im Mittelmeer ertranken oder in der Kälte starben?

Diesen Drang, mich der Welt mitzuteilen und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen, habe ich seit meinem elften Lebensjahr. Damals wollte ich Bücher und Texte schreiben, um Menschen zum Nachdenken zu bewegen. Oft hatte ich das Gefühl, die Einzige zu sein, die unter diesen wahnsinnigen Missständen litt und die Wahrheit sagen wollte. Was auch immer ich damals als Wahrheit empfand – ich wollte eben darauf aufmerksam machen, dass es nicht gut ist, so wie es ist! Das Gefühl, ausbrechen zu wollen aus dieser künstlich eng denkenden Welt, spürte ich in meinem Brustkorb. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Weite der Meere und der Wälder dieser Erde sollten uns als Vorbild dienen, über den Tellerrand hinauszudenken. Die Grenzen der Menschlichkeit engen uns ein und machen uns zu ignoranten Monstern. Wir gehen davon aus, dass wir alle unterschiedlich sind und uns nicht mögen können, wenn wir eben ein paar Unterschiede haben; wir verfeinden uns, greifen uns an und interessieren uns nicht mehr für das Leid der anderen. Dabei verhält es sich doch völlig anders: Uns alle eint mehr, als dass uns trennt.

Wie kann man Wut auf diese Welt in etwas umwandeln, das den Menschen hilft?


In meiner Jugend fand ich mich auf Demos wieder und schrieb Texte über die Moral der Menschheit und darüber, dass sie sich schämen sollte. Ich hatte ein sehr schlechtes Abitur, anscheinend interessierte es mich nicht, ein Gedicht zu analysieren oder Gleichungen zu lösen. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich wollte einfach nur ein guter Mensch werden. Und wenn ich irgendwann diese Welt verlassen würde, sollten andere nicht darüber reden, dass ich großartige Noten gehabt hätte, sondern, dass ich geholfen hätte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, wenigstens ein kleines bisschen. Das war eine meiner Visionen und ist es heute immer noch. Ich entschied mich für das Studium der Sozialen Arbeit, da ich darin die Verknüpfung zu meiner politischen Haltung sah. Ich wollte all die bewegenden Geschichten meiner Mitmenschen hören und vielleicht ein...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alkohol • Altersarmut • Armut • Attacken • Ausländer • Aussichtslosigkeit • Behörde • Bundesrat • Bundestag • Bürgergeld • CDU • Die Grünen • Drogen • Ertrinken • Flüchtlinge • Frauen • Geld • Gesundheitspolitik • Gewalt • Hausbesuche • Hilfe • Hilflosigkeit • Hochaus • Humanismus • Hunger • Jugendhilfe • Kinder • Kinderarmut • Kitas • Krankheit • Lösungen • Marode Schulen • Medizin • Mitglied • Mobbing • Partei • Pflege • Pflegestufen • Politik • Problembezirk • Prostitution • Psychisch krank • Psychologie • Reich • Schere • Schulen • Sozialarbeit • Sozialstaat • SPD • Sprachlosigkeit • Staatsschulden • Straßenkids • Streit • Sttasversagen • Unterkunft • Vernachlässigung
ISBN-10 3-7517-4292-1 / 3751742921
ISBN-13 978-3-7517-4292-4 / 9783751742924
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