Die mit den Wölfen heulen (eBook)
240 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46666-7 (ISBN)
Boris Cyrulnik, geboren 1937 in Bordeaux, ist ein international anerkannter Neuropsychiater, der sich vor allem mit dem Konzept der Resilienz beschäftigt. Seine Eltern, aus Polen eingewanderte Juden, wurden während des Zweiten Weltkriegs in nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet, er selbst entging nur knapp dem Tod. Boris Cyrulnik ist der Verfasser zahlreicher erfolgreicher Sachbücher.
Boris Cyrulnik, geboren 1937 in Bordeaux, ist ein international anerkannter Neuropsychiater, der sich vor allem mit dem Konzept der Resilienz beschäftigt. Seine Eltern, aus Polen eingewanderte Juden, wurden während des Zweiten Weltkriegs in nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet, er selbst entging nur knapp dem Tod. Boris Cyrulnik ist der Verfasser zahlreicher erfolgreicher Sachbücher.
Kinder auf den Krieg vorbereiten
Kaum waren sie besiegt, verwandelten sich die schrecklichen Übermenschen in angenehme Zeitgenossen. Ich war sieben Jahre alt, als ich Zeuge dieser Metamorphose wurde. Im Jahr 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht siegreich in Bordeaux ein. Großartig! Tadellose Parade, die Reihen der Helme und der Gewehre vermittelten den Eindruck einer unaufhaltsamen Macht. Die schönen, mit roten Federbüschen geschmückten Pferde, die Militärmusik, die hypnotisierenden Trommeln sprachen von einer ungeheuren Kraft. Um mich herum wurde geweint.
Nach vier Jahren der Besatzung, Verhaftungen auf offener Straße, Razzien im Morgengrauen, Verboten und Patrouillen flüchteten die Deutschen nach Castillon-la-Bataille. Sie besetzten die Ortschaft, stellten an Beobachtungspunkten Wachposten auf und errichteten Straßensperren an den Zugängen. Widerstandskämpfer der kommunistischen FTP und der gaullistischen FFI, ausnahmsweise einmal vereint, kesselten das deutsche Bataillon ein. Im Jahr 1944 wusste der Kommandant, dass der Nationalsozialismus den Krieg verloren hatte und dass Gegenwehr nur sinnloses Blutvergießen bedeutet hätte. Er legte die Waffen nieder, um seine Männer zu schützen. Die Worte, die ich hörte, bedeuteten »Kapitulation« und übertragen in die Alltagssprache: »Ach … ich hab die Schnauze voll vom Krieg!« Und der Offizier unterzeichnete. Und so wurden aus gefürchteten Übermenschen nette Bauern. Als sie sich ergaben, sah ich Tausende von abgerissenen Soldaten mit hängenden Köpfen im Gänsemarsch vorbeiziehen, bewacht von einem Dutzend schlecht bewaffneter, junger Burschen, die sie auf dem Dorfplatz zusammentrieben. Die Übermenschen, schmutzig, unrasiert und mit offenen Kragen, saßen regungslos da und blickten stumm zu Boden.
Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands wurden die stolzen Soldaten »Kriegsgefangene«, machten den Oberkörper frei und arbeiteten für die Bauern, die sie beherbergten. Sie bestellten die Weinberge, versorgten die Tiere und scherzten mit vorbeikommenden Fußgängern. Sie winkten den Kindern, riefen ihnen französische oder deutsche Wörter zu, ich weiß es nicht mehr, aber ich konnte sehen, dass diese Männer nicht mehr zum Fürchten waren, denn sie lächelten beim Sprechen und pflückten die Früchte, an die wir nicht herankommen konnten.
Ein einfacher Satz: »Der Krieg ist vorbei«, ein paar Worte auf einem Blatt Papier mit einer Unterschrift hatten genügt, um die Einstellung zu ändern und ein Umdenken zu bewirken. Wir hatten vor den Deutschen keine Angst mehr. Die Widerstandskämpfer verhinderten, dass sie beschimpft und bespuckt wurden, und forderten die französischen Aggressoren auf, etwas Würde zu zeigen. Mit meinem Kinderverstand dachte ich: Es ist möglich zu hassen, sich gegenseitig ganz legal umzubringen und plötzlich seine Haltung zu ändern. Ein Wort reichte aus, um die Welt mit anderen Augen zu betrachten. In der Kindheit stellen wir die grundsätzlichen Fragen, mit denen wir durchs Leben gehen. Und mit zunehmendem Alter erkennen wir, dass zwei oder drei Worte genügen, um ein Leben zu prägen.
Es war keine gute Zeit, um auf die Welt zu kommen. Sebastian wurde 1907 in Berlin geboren und ich 1937 in Bordeaux. Wir hatten die gleiche Kindheit. Unsere Länder rüsteten für den Krieg, und die Sprache, die uns umgab, sperrte uns in ein Lager. »Wir wussten, mit vielen unserer Altersgenossen konnten wir kein Wort reden, weil wir eine andere Sprache sprachen. Wir fühlten um uns herum das ›braune Deutsch‹ entstehen – ›Einsatz‹, ›Garant‹, ›fanatisch‹, ›Volksgenosse‹, ›Scholle‹, ›artfremd‹, ›Untermensch‹ …«1
Als ich im Alter von fünf Jahren in die Welt der Erzählungen eintrat, sagte meine Mutter zu mir: »Sprich nicht mit den Deutschen, sie könnten uns ins Gefängnis werfen.« Wenn Worte Waffen sind, schweigt man, um sich zu schützen. Ich war sechs Jahr alt, als ich in der Nacht des 10. Januar 1944 verhaftet wurde. Plötzlich erfuhr ich aus den Worten eines Gestapo-Offiziers, dass ich einer Gruppe gefährlicher Untermenschen angehören sollte, die im Namen der Moral getötet werden mussten.
Am Ende des Ersten Weltkriegs erlebte mein Freund Sebastian, damals elf Jahre alt, die Geburt der eigentlichen »Generation des Nazismus«, jener Kinder, »die den Krieg, ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit, als großes Spiel erlebt haben«2. Sie begeisterten sich für die Geschichten von Heldenmut und Opferbereitschaft, Schlachteninfernos und ekstatischen Morden. Welch seelische Größe, welch Schönheit! Die anderen, jene, die die Realität des Krieges erlebt hatten, die trostlosen Tage, das stumme Leiden, die Erniedrigung der Hungernden, den Schmerz der Hinterbliebenen, die Zerrissenheit der beschädigten Seelen, sie schwiegen lieber, um keine alten Wunden aufzureißen.
Sebastian und ich wurden staunende Zeugen zweier begeisternder Diskurse: von der Stärke des Nationalsozialismus in den 1930er-Jahren, von der Menschlichkeit des Kommunismus nach 1945. Aufgrund unserer Erfahrungen als Kinder, initiiert vom Krieg und der Nähe zum Tod, hatten wir bereits begriffen, dass zwei Sprachen die geistige Welt der Menschen regierten. Die eine, die gen Himmel strebte, indem sie ästhetische oder abstoßende Bilder erzeugte, umgeben von Worten, die in Fieber versetzten: »Heroismus … Sieg des Volkes … Sauberkeit … tausend Jahre Glück … strahlende Zukunft«3. Solch glühende Worte entrückten uns der Realität. Sebastian (1918 elf Jahre alt) und ich (1945 acht Jahre alt) bevorzugten Worte, die ein diskretes Vergnügen bereiteten – das des Forschers, der die Welt entdeckt und sich an der Realität erfreut. Die Emphase, die zur Utopie führt, steht im Gegensatz zum Vergnügen des Ackermanns, der den Reichtum des Banalen entdeckt. Die Liebhaber des Grandiosen belasten sich nicht mit unbequemen Fragen, sie bevorzugen die ekstatische Kohärenz, die von der Realität abschottet und eine »Logik der Unvernunft«4 hochhält, einen Wahn mit Methode, der so hell strahlt, dass er das Denken blendet, Zweifel unterbindet und Fragestellungen verbietet, die das Glück der logisch folgenden Delirien trüben könnten.
Kinder sind unweigerlich das Ziel dieser allzu klaren Diskurse, denn sie brauchen binäre Kategorien, um mit dem Denken anzufangen: Alles, was nicht nett ist, ist böse, alles, was nicht groß ist, ist klein, alles, was nicht Mann ist, ist Frau. Dank dieser falschen Klarheit bauen sie eine stabile Bindung zur Mutter, zum Vater, zur Religion, zu den Schulfreunden und zur Glocke der Dorfkirche auf. Auf dieser Grundlage können sie sich ein erstes Weltbild aneignen, eine eindeutige Gewissheit, die Selbstvertrauen gibt und dabei hilft, seinen Platz in der eigenen Familie und der eigenen Kultur zu finden.
Wohlgemerkt: Es handelt sich nur um eine Grundlage. Wenn dieser Unterbau sich abkapselt, unterbindet er die Suche nach anderen Erklärungen, und er wird zum Clandenken, zur nicht verhandelbaren Gewissheit: »So ist es und nicht anders … Man muss verrückt sein, um nicht so zu denken wie ich.« Eine ungerechtfertigte Überzeugung, die das Selbstvertrauen stärkt und das Denken blockiert wie bei Fanatikern. Durch Wiederholung wird Veränderung unmöglich. Das Clandenken schützt die Persönlichkeit, befeuert die Seele und macht diejenigen wahnsinnig glücklich, die zum Krieg gegen jene rüsten, die nicht so denken wie sie. Glaubenskriege sind unerbittlich.
Wer das Abenteuer des Menschseins wagen will, muss Selbstvertrauen entwickeln. Dieses Bedürfnis ist von allen totalitären Regimen missbraucht worden: »Ich werde euch die Wahrheit sagen, die einzige Wahrheit«, spricht der Erlöser. »Folgt mir, gehorcht, und ihr werdet den Ruhm ernten, die Angehörigen eures Clans glücklich gemacht zu haben.« Es ist schwer, einer solchen Aufforderung nicht zu trauen. »Das Unglück kommt von denen, die sich gegen unser Glück stellen«, fügt der Erlöser hinzu. »Von denen, die anders denken. Diejenigen, die an andere Himmel glauben, wollen unser Unglück, denn sie erschüttern unsere Gewissheiten.«
Wenn diktatorische Regime sich der jungen Seelen bemächtigen, geschieht es nicht selten, dass Kinder sich gegen ihre Eltern stellen, die mit ihren Zweifeln, dem Infragestellen und mit Vorbehalten die Begeisterung untergraben und Träume zerstören: »Ich war wütend auf Papa und konnte einfach nicht verstehen, warum er nicht der Nazipartei beitrat, wenn diese doch so viele Vorteile für ihre Mitglieder bot.«5 Die kleine Anneliese schwärmt von den größeren Mädchen in der Hitlerjugend. »Ich wäre gerne älter, dann könnte ich die gleiche Uniform tragen wie meine Kusinen Erna und Lisl.«6 Die anderen feiern Feste, tragen Gedichte vor, und sie muss wegen ihrer Eltern auf diesen Spaß verzichten.
Die geistige Welt eines Menschen wächst sein ganzes Leben lang, von der Befruchtung bis zum Grab. Wenn sich in den ersten Monaten im Uterus das Gehirn zu entwickeln beginnt, verarbeitet es nur unmittelbare Informationen. Die Hormone aus dem Innern des Embryokörpers interagieren mit denen aus dem Körper der Mutter, damit sich die Organe ausbilden können. Am Ende der Schwangerschaft erweitert sich die Welt des Fötus, wenn er die Emotionen der Mutter wahrnimmt, vermittelt durch ihre Stresshormone (Kortisol, Katecholamine) und ihre Glückshormone (Endorphine, Oxytocin). Nach der Geburt nehmen die Babys einige Segmente des...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2023 |
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Übersetzer | Reiner Pfleiderer, Franck Traps |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • 2. Weltkrieg Berichte • 2. Weltkrieg Biografien • Alfred Adler • anthropologie buch • Antisemitismus • autobiografisches Sachbuch • Biografie Holocaust • Boris Cyrulnik • Charles Darwin • Deutsche Besatzung • eigenständig denken • einfache Antworten • Entstehung von Ideologien • Entwicklungspsychologie • Ethnologe • Extremismus • geistiger Widerstand • George Orwell • gesellschaft buch • Gesellschaftskritische Bücher • Gewalt • Gruppendynamik • Hannah Arendt • Holocaust • Holocaust-Überlebende • Holocaust-Überlebender • Ideologie • Innere Freiheit • Josef Mengele • Kampf gegen Hass • Kindheitserinnerung • Konformismus • Kritisches Denken • Kultureller Wandel • Landarbeiter • Le laboureur et les mangeurs de vent • Manipulation • Nationalsozialismus • Neuropsychiater • Neuropsychologie • Odile Jacob • Politischer Widerstand • Psychologie • psychologie bücher • Resilienzforschung • Rudolf Höß • Sachbuch Gesellschaft • Schuldfrage • Sebastian Haffner • selbst denken • Shoah • Sigmund Freud • Stefan Zweig • Totalitäre Sprache • Totalitäres System • Totalitarismus • Trauma • Urvertrauen • Windfresser • Zeitgeschichte 2. Weltkrieg • Zugehörigkeitsgefühl |
ISBN-10 | 3-426-46666-X / 342646666X |
ISBN-13 | 978-3-426-46666-7 / 9783426466667 |
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