Rechtsgeschichte des frühneuzeitlichen Hispanoamerika (eBook)
238 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-040018-2 (ISBN)
Die Geschichte des Rechts im frühneuzeitlichen Hispanoamerika ist ein faszinierendes Feld rechtshistorischer Forschung. Im Zuge der europäischen Expansion seit dem späten 15. Jahrhundert etablierte die spanische Monarchie ihre Herrschaft in einem riesigen Gebiet in Nord-, Mittel- und Südamerika. Normen, Institutionen und Praktiken aus Europa wurden in die für die Spanier neue Welt übersetzt. Sie verdrängten und überlagerten oder sie vermischten sich mit den Rechten indigener Völker. Lange Zeit wurde diese Geschichte als Verlängerung der europäischen Rechtsgeschichte interpretiert. Dieser Band führt in die Forschungsgeschichte, deren Leistungen und Problematik ein. Er gibt eine Übersicht über wichtige Quellen und Literatur und zeigt Perspektiven der Forschung auf.
Thomas Duve und José Luis Egío Gacía, Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt/Main.
Teil 2: Methoden, Hilfsmittel, Quellen
5 Methoden
In der Einführung (Kapitel 1 und 2) ist gezeigt worden, dass die Forschung zur frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte sich vor allem mit der Geschichte von Institutionen und der Rechtsetzung des frühneuzeitlichen Staates beschäftigt hat. Die institutionelle Rechtspraxis, insbesondere die Justizpraxis, hat vor allem in jüngerer Zeit zunehmend Aufmerksamkeit erfahren. Dasselbe gilt für die Normenproduktion durch religiöse Akteure, etwa für das Kirchenrecht und die Moraltheologie. Die Rechte der indigenen Völker sind insgesamt nur wenig in das Blickfeld der Rechtsgeschichte geraten. Fast nichts wissen wir über Normen, die von anderen Gemeinschaften, etwa Afrikanern oder Asiaten, die nach Amerika verschleppt worden waren, produziert wurden.
Gegenstand der Rechtsgeschichte
Gleichzeitig – und zunehmend – besteht Unsicherheit darüber, was der Gegenstand der Rechtsgeschichte, nämlich „das Recht“, eigentlich ist. Ist es das „lebende Recht“, wie Ricardo Levene es in den Mittelpunkt stellen wollte? Oder ist es das vor allem in der Gesetzgebung zum Ausdruck kommende „juristische System“, nach dem García-Gallo suchte? Oder müssen wir vielfältige epistemische Gemeinschaften und Gemeinschaften der Praxis in den Blick nehmen, weil diese alle in der nicht normen-, sondern praxiszentrierten Ordnung „Recht“ produzierten und durchsetzten? Wie verhalten sich denn, wie oft und verkürzt gegenübergestellt wird, „Theorie“ und „Praxis“, und wo ist dann „das Recht“ zu finden: in den Reales Cédulas aus der königlichen Kanzlei, in den Actas de Cabildo, in den Dokumenten der Justizpraxis – oder in bildlichen Darstellungen oder öffentlichen Darbietungen und in den Entscheidungen indigener Gerichte?
Quellen der Rechtsgeschichte
Die Fragen dürften deutlich machen, dass der Kreis der als maßgeblich angesehenen Quellen der Rechtsgeschichte davon abhängt, welche Vorstellung von Recht man hat. Entsprechend der dieser Einführung zu Grunde liegenden Methodik, Rechtsgeschichte als Geschichte der Herstellung von Normativitätswissen durch Translation anzusehen (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 8), muss die rechtshistorische Forschung eine Vielzahl von epistemischen Gemeinschaften und Gemeinschaften der Praxis zum Objekt haben, die Normativitätswissen erzeugten und sich dabei auf eine Vielfalt von höchst unterschiedlichem
Normativitätswissen
Normativitätswissen stützen konnten. Der Blick der Rechtsgeschichte müsste sich deswegen genauso auf (früh)staatliche Institutionen und deren Normproduktion, z. B. den Consejo de Indias, die Audiencias, die Cabildos, richten wie auf die Normproduktion in Korporationen, im Haus, der casa poblada, oder bei indigenen Völkern, in den Gemeinschaften von Afroamerikanern und Asiaten, oder auch in den Büros und Beichtstühlen von Klöstern und Kirchen. Denn auch an diesen Orten wurden Normen ausgehandelt, produziert, durchgesetzt. Rechtsgeschichte würde dadurch zu einer Vielzahl von Studien der Normerzeugung an ganz unterschiedlichen Orten, den üblichen institutionellen und den unscheinbaren, vielfältigen, kleinen Orten des Alltags.
Epistemische Gemeinschaften
Alle diese epistemischen Gemeinschaften und Gemeinschaften der Praxis und ihre Quellen zum Gegenstand der Forschung zu machen, ist eigentlich unmöglich. Denn nicht nur liegt ein Großteil der dafür notwendigen Quellen ungehoben in den Archiven, sondern die Masse des zu verarbeitenden Materials ist geradezu unendlich. Normsetzung und -durchsetzung zum Beispiel in der sozialen Einheit des Hauses oder in Klostergemeinschaften können nur aus vielfältigen Quellen der Alltagspraxis rekonstruiert werden, also aus z. B. Testamenten, Briefen, Gerichtsverfahren und administrativem Schrifttum. Man müsste angesichts der großen Vielfalt innerhalb Hispanoamerikas und der riesigen Ausdehnung unendlich viele Lokalstudien aneinanderreihen. Möchte man nicht Gefahr laufen, eine Weltkarte zu zeichnen, die schließlich so groß wie die Welt ist – das Bild nutzte Jorge Luis Borges in seiner Kurzgeschichte Del rigor en la ciencia aus dem Jahr 1946, und es lässt sich gut auf die (Rechts)Geschichte übertragen – bleibt nur die Möglichkeit, Schlaglichter auf einzelne Momente an einzelnen Orten zu setzen (vgl. z. B. die Arbeiten von Herzog 1995; dies. 2003; dies. 2015b; McKinley 2016; Premo 2017; Zamora 2017). Als methodenbewusst verfasste „Mikrogeschichte“ und pointillistische Lokalstudien erheben solche Schlaglichter den Anspruch, nicht allein etwas über den Einzelfall auszusagen.
Kolonialismus der Archive
Sehr viele Quellen dürften allerdings unwiederbringlich verloren sein: denn es gehört zu den dauerhaften Folgen von Kolonialherrschaft, dass viele Zeugnisse der unterworfenen Kulturen vernichtet worden sind. Man kann geradezu von einem Kolonialismus der Archive sprechen. Denn Informationen wurden in den Archiven bloß selektiert gespeichert, das Interesse und die Ordnungskategorien waren von kolonialen Bedürfnissen bestimmt, die Dokumente durch die koloniale Brille gefiltert.
Nationalismus der Archive
Da viele Archive im 19. und 20. Jahrhundert mit Blick auf die jeweiligen Nationalstaaten angelegt wurden, zum Teil auch als symbolträchtige Beute an andere Orte verbracht worden sind (beispielsweise in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Chile und Peru), sind viele Archive heute nach nationalen Kriterien geordnet. Neben den Kolonialismus tritt also ein Nationalismus der Archive. Auch wenn es Möglichkeiten gibt, die erhaltenen Quellen „gegen den Strich“ zu lesen (Stoler 2008), so läuft jede Rechtsgeschichte von Imperien Gefahr, koloniale Machtasymmetrien zu perpetuieren.
Dekolonialisierung der Rechtsgeschichte
Diese Gefahr besteht auch auf der analytischen Ebene. Denn Machtasymmetrien enden nicht mit dem formellen Imperialismus. Sie bestehen bis in die Gegenwart weiter. Ein besonderes Anliegen von Rechtsgeschichten der frühneuzeitlichen Imperien muss deswegen darin liegen, die in analytischen Begriffen und Prozesskategorien eingelassenen und deswegen häufig unscheinbaren eurozentrischen Perspektiven zu vermeiden. Das gilt besonders mit Blick auf Rechtsgeschichten der indigenen Völker und der aus Afrika oder Asien verschleppten Bewohnerinnen und Bewohner, deren Rechte lange Zeit entweder überhaupt nicht beachtet worden sind oder – aus einer europäischen Logik heraus – schlicht als Gewohnheitsrecht in das europäische, imperiale oder koloniale Rechtsquellensystem eingefügt worden sind. Die Frage, wie eine „dekoloniale“ Rechtsgeschichte Hispanoamerikas zu schreiben wäre, dürfte zu den interessantesten Methodenproblemen der Globalrechtsgeschichte zählen (dazu z. B. Garriga 2019a; Duve 2020c; vgl. auch unten Kapitel 10).
Eurozentristische Imperiengeschichte
Die Gefahr einer eurozentrischen Perspektive gilt aber auch für die Rechtsgeschichte der imperialen Ordnung selbst. Es geht also um das, was üblicherweise als „Rezeption“, „Transfer“ oder „transplant“ des europäischen Rechts bezeichnet wird. Hier dominierte lange Zeit die Vorstellung, dass die in den Überseegebieten beobachteten Normen und Praktiken Übernahmen (und meistens defizitäre Kopien) der „europäischen“ oder „spanischen“ Originale gewesen seien. Eine solche Sichtweise unterschätzt die bei der Translation von Normativitätswissen stattfindende kreative Leistung. Sie ist blind für die Phänomene der Lokalisierung wie auch für die Prozesse dezentraler Normenproduktion (dazu z. B. Duve 2021b; Agüero 2012 sowie unten Kapitel 8).
Iberische Welten
Eine besondere methodische Herausforderung besteht in einer stärkeren Integration der Forschung zu den beiden Imperien der iberischen Monarchien, also dem portugiesischen und spanischen. Das gilt nicht nur, weil beide Monarchien in einer für den Aufbau und die Konsolidierung von Strukturen in Amerika entscheidenden Zeit durch eine Personalunion verbunden waren (1580–1640, vgl. dazu Cardim 2017). Auch die Grenzen zwischen diesen imperialen Räumen waren erheblich unklarer als lange angenommen (vgl. z. B. Herzog 2015b). Aus der Distanz zeigt sich auch, dass sich die Historiographien zu beiden Imperien in Abgrenzung voneinander entwickelt haben und deswegen einer Revision...
Erscheint lt. Verlag | 21.11.2022 |
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Reihe/Serie | ISSN |
ISSN | |
methodica | methodica |
Verlagsort | Berlin/München/Boston |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte |
Recht / Steuern ► Allgemeines / Lexika | |
Recht / Steuern ► Rechtsgeschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Colonial history • Indigene Völker • Indigenous peoples • Kolonialgeschichte • Lateinamerika • Latin America • Law • Rechtswissenschaft |
ISBN-10 | 3-11-040018-9 / 3110400189 |
ISBN-13 | 978-3-11-040018-2 / 9783110400182 |
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