Das Versprechen der Künstlichen Intelligenz (eBook)
300 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45312-5 (ISBN)
Hartmut Hirsch-Kreinsen, Prof. i.R. Dr., lehrte Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Technischen Universität Dortmund und ist Research Fellow an der Sozialforschungsstelle Dortmund.
Hartmut Hirsch-Kreinsen, Prof. i.R. Dr., lehrte Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Technischen Universität Dortmund und ist Research Fellow an der Sozialforschungsstelle Dortmund.
1.Promising Technology
1.1Leitmotiv und Koordinationsfunktion
Die These vom Technologieversprechen KI kann präzisiert werden mit dem Konzept der Promising Technology (van Lente/Rip 1998; Bender 2005). Das Kernargument lautet, dass Akteure bei ihren Entscheidungen, an einer Technologieentwicklung teilzunehmen, sich zunächst noch an einem noch sehr allgemeinen Versprechen über diese erst noch zu entwickelnde Technologie orientieren. Das Versprechen offeriert im Prinzip interessierten Akteuren eine Entwicklungsperspektive, stellt zukünftige Nutzenpotenziale in Aussicht, eröffnet einen einzuschlagenden Weg für die Innovation und begründet auch die Möglichkeit für die Durchsetzung eigener Interessen. Es bietet die Voraussetzung dafür, weitere Akteure anzusprechen, sie in den Innovationsprozess einzubinden, ihr Handeln zielgerichtet zu koordinieren sowie Wissens- und Innovationsressourcen zu mobilisieren und Investitionen in Forschung und Entwicklung zu initiieren. Anders formuliert, das Technologieversprechen hat die Funktion eines Leitmotivs für heterogene Akteure mit ihren im Grunde sehr unterschiedlichen Interessen, die in einen Innovationsprozess eingebunden werden. In diesem Sinn lässt sich festhalten, dass Versprechen »[…] do not strive for truth or accuracy, but are meant to influence spezific social processes in technological developments« (Geels/Smit 2000: 880).
Freilich ist dies sehr voraussetzungsvoll. Wie noch genauer zu begründen ist, ist hierfür eine rhetorische Architektur des Technologieversprechens erforderlich, die durch Generalisierung und Pauschalisierung ein hohes Maß Anschlussfähigkeit ermöglicht. Mehr noch, mit dem Verweis auf technologisch lösbare gesellschaftliche Herausforderungen wird zugleich an eine gesellschaftspolitische Debatte über wünschenswerte gesellschaftliche Weiterentwicklung angeknüpft und es wird damit Interesse von Akteuren jenseits der zunächst angesprochenen Fachöffentlichkeit geweckt (Hirsch-Kreinsen 2016: 12 f.). Soziologisch gesprochen, fungiert ein Technologieversprechen als Boundary Object mit einem sehr allgemeinen Kern von Ideen, der mit verschiedensten Kontexten verknüpft und von unterschiedlichsten Akteuren aufgegriffen werden kann. Das heißt, die Formbarkeit eines solchen Grenzobjekts erlaubt eine Vielzahl von lokalen Interpretationen und Praktiken, die sich locker auf einen Gemeinsamkeiten stiftenden Kern beziehen lassen (Faust 2021: 72). Dabei kann ein Technologieversprechen entweder den Charakter einer explizit artikulierten und rhetorisch vorgebrachten Meinung, eines Vortrages oder eines Diskussionsbeitrages haben oder als Dokument, Objekt oder generell als materialisierte Darstellung präsentiert werden (Brown et al. 2003: 6).
Innovationsdynamik
Ein Technologieversprechen bezeichnet mithin einen Startpunkt, von dem aus ein Innovationsprozess angestoßen, koordiniert und vorangetrieben wird. Es entsteht eine Entwicklungsdynamik, die mit van Lente und Rip (1998; 1998a) analytisch mit mehreren Schritten grob präzisiert werden kann:
Im ersten Schritt wird ein Versprechen formuliert, das Zukunftsvisionen postuliert und damit verschiedenste Akteure interessiert und eine kollektive Orientierung herstellt. Entworfen wird ein solches Technologieversprechen in der Regel von einer kleinen Gruppe in der Sache engagierter und von den formulierten Visionen überzeugter Protagonisten etwa aus dem Wissenschaftsbereich, der Politik oder auch aus Unternehmen. Dabei weicht diese Gruppe oftmals vom Stand der Forschung und bisherigen technologischen Entwicklungspfaden ab und entwirft eine neue technologische Vision. Folgt man der Innovationsforschung, so ist die Voraussetzung hierfür ein »protected space« bzw. eine Nische, in der diese Gruppe institutionell geschützt und relativ autonom ihre Ideen entwickeln kann. Eine solche Nische kann geschaffen werden durch strategische Investitionen von Unternehmen, durch eine gezielte politische Förderung, oder aber auch durch die gezielte Nutzung vorhandener akademischer Freiräume. Nischen werden auch als »incubation rooms« für radikale Innovationen angesehen, da sie insbesondere vor dem Druck existierender Technologiepfade und der damit verwobenen Interessen schützen (Geels 2004; Markard/Truffer 2008). Zudem müssen diese Akteure über hinreichende kommunikative und interaktive Ressourcen verfügen, um im späteren Verlauf ihrer Anstrengungen das Technologieversprechen zunächst einer Fachöffentlichkeit präsentieren zu können und das Interesse ihrer Mitglieder an dem Versprechen zu wecken. Angestoßen wird auf diese Weise ein Diskurs, in dem denkbare Optionen und Perspektiven einer neuen Technologie zwischen einer zunehmend größeren Zahl von interessierten Akteuren ausgetauscht werden.6 Dieser Austausch- und Kommunikationsprozess ist die Voraussetzung dafür, dass das ursprünglich nur von einer kleinen Gruppe Interessierter vorgetragene Technologieversprechen verallgemeinert wird und die daran geknüpften Erwartungen kollektiven Charakter gewinnen (Konrad 2006: 431).
Der zweite Schritt wird als Agenda Setting gefasst. In dessen Verlauf wird die Vision der neuen Technologie fortgeschrieben und präzisiert, Anforderungen an die Entwicklung und die erforderlichen Innovationsschritte definiert, die Rollen verschiedener zu beteiligender Akteure beschrieben und damit insgesamt der Innovationsprozess strukturiert. Es findet eine Transformation der schriftlich niedergelegten, in Vorträgen präsentierten oder sonst wie fixierten Perspektiven, Visionen und Ziele in Handlungsbedarf und in kollektiv orientierte Handlungsanweisungen statt. Generiert wird damit eine Agenda, die wie ein Drehbuch das weitere Handeln der beteiligten Akteure in einer Weise strukturiert, die der beabsichtigten Innovation förderlich ist (Bender 2005: 174). Die Akteure mit ursprünglich divergierenden Interessen entwickeln ein gemeinsames Interesse an der Innovation, arbeiten zunehmend in einer koordinierten Weise zusammen und sie versuchen, Lösungen zu erarbeiten, die die in der Agenda spezifizierten Anforderungen erfüllen. Es entsteht so eine vorher so nicht existierende Community of Practice, das heißt eine vernetzte Akteurskonstellation, die, geteilten Entwicklungsperspektiven folgend, einen Diskurs über die zu verfolgenden Ziele führt und damit eine gemeinsame Wissensbasis über Potenziale und Entwicklungserfordernisse der neuen Technologie generiert (Wenger 1998). Dabei wird die Agenda fortlaufend spezifiziert, leitet weitere Innovationsschritte an und formt damit einen sich abzeichnenden technologischen Entwicklungspfad.
Ein dritter Schritt stellt die zunehmende Verfestigung und Strukturierung dieses Interaktionszusammenhangs dar und er gewinnt den Charakter eines zunehmend stabilen Handlungskontextes mit spezifischer Logik und normativer Verbindlichkeit. Insofern kann dieser Prozess auch als Institutionalisierung von Handlungsverbindlichkeiten begriffen werden. Es entstehen soziale Strukturen, die durch vernetzte Akteurskonstellationen, arbeitsteilige Routinen und gefestigte Wahrnehmungsmuster bestimmten Handlungsweisen Optionen für weitere konkrete Innovationsverläufe eröffnen und andere mehr oder weniger ausschließen. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die am Innovationsprozess beteiligten Akteure bei ihren Entscheidungen, Handlungen und Interaktionen an diesen Bedingungen orientieren – wodurch sie durchaus auch zu ihrer Reproduktion und Reputation beitragen.
Ergebnis ist die Emergenz eines neuen soziotechnischen Feldes. Mit diesem werden in institutionentheoretischer Perspektive jene Organisationen bezeichnet, »die gemeinsam einen...
Erscheint lt. Verlag | 20.1.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | artificial general intelligence • Deep learning • Innovationsforschung • Innovationspolitik • intelligente Maschine • KI • Maschinelles Lernen • Technikutopie • Technologieversprechen • trustworthy AI |
ISBN-10 | 3-593-45312-6 / 3593453126 |
ISBN-13 | 978-3-593-45312-5 / 9783593453125 |
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