Polarisierte Gesellschaft (eBook)
449 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45376-7 (ISBN)
Richard Münch ist Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Emeritus of Excellence an der Universität Bamberg.
Richard Münch ist Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Emeritus of Excellence an der Universität Bamberg.
Vorwort
Wir befinden uns in einer Situation der Polarisierung der Gesellschaft, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht erlebt haben, auch nicht in den Jahren nach 1968. Die Polarisierung lässt auch die Sozialwissenschaften nicht unberührt. Sie sind – wie schon im Nachgang zu 1968 – starken Tendenzen der Politisierung unterworfen, auf jeden Fall in den Bereichen, die einen Bezug zu den Themen haben, bei denen die Gesellschaft polarisiert ist. Das macht eine unvoreingenommene soziologische Untersuchung der polarisierten Gesellschaft besonders schwierig. Es besteht dabei immer die Gefahr, dass nicht ausreichend zwischen rein sachlicher Analyse und politischen Präferenzen getrennt wird, sachliche Analysen nicht hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts interessieren, sondern nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, ob und für wen sie politisch nützlich sind. Fragen von Ursache und Wirkung werden allzu leicht mit Fragen von Recht versus Unrecht, erwünscht versus unerwünscht, gut versus böse vermengt. Im politischen und medialen Diskurs ist das der Normalzustand, im wissenschaftlichen Diskurs sind solche Vermischungen von völlig unterschiedlichen Logiken aber zu vermeiden, weil anderenfalls die Unterscheidung von wahr und falsch hinfällig wird und sich die Wissenschaft selbst aufgibt. Um meine Position zu dieser elementaren Frage der wissenschaftlichen Forschung von vornherein klarzumachen, möchte ich hier eine kleine Selbstreflexion über meinen soziologischen Zugang zum Thema der polarisierten Gesellschaft der eigentlichen Untersuchung vorausschicken.
Als ich mich nach dem Abitur im Frühjahr 1965 für ein Studium der Soziologie entschieden hatte, war die Frage, wo das am besten sein sollte. Mein erster Gedanke war Frankfurt, dann habe ich aber doch Heidelberg vorgezogen. Und ich bin bis heute froh darüber, dass ich genau diese Wahl getroffen habe. So bin ich bei meinem Studium von 1965 bis 1970 nicht in die Frankfurter Schule der Kritischen Theorie, sondern in die Schule des Kritischen Rationalismus gegangen, bei Ernst Topitsch an der Universität Heidelberg und besuchsweise bei Hans Albert an der benachbarten Universität Mannheim. Dazu gehörten viele prägende Diskussionen mit Hans G. Oel, damals Assistent von Ernst Topitsch. Er war mein Mentor. Er bleibt unvergessen. Was für großartige Seminardiskurse wir geführt haben! Nach dem Seminar ging es weiter im Café Scheu oder im Weißen Bock. In Heidelberg und Mannheim stand man auf der genau entgegengesetzten Seite des damaligen Positivismusstreites in der deutschen Soziologie als in Frankfurt. Karl R. Popper, nicht Theodor W. Adorno, war das allseits verehrte intellektuelle Vorbild. Diese Sozialisation im Denken des Kritischen Rationalismus hat uns in Heidelberg ein für alle Mal auf kritischer Distanz zu jeglicher Art der ideologischen Verblendung gehalten. Bis heute bin ich zutiefst dankbar für dieses Privileg. Meine erste Fingerübung war ein Aufsatz, in dem ich mich im Heidelberger Forum Academicum kritisch mit einer Kritik an Max Webers Postulat der Werturteilsfreiheit der Sozialwissenschaften auseinandergesetzt habe (Weber 1922/1973, S. 148–161; Münch 1968). Dabei ging es darum, dass sich mit den Mitteln einer wissenschaftlichen Disziplin nur Fragen des Seins, aber keine Fragen des Sollens beantworten lassen, das heißt Fragen wie »Was ist der Fall?«, »Was sind die Ursachen oder Gründe dafür?«, »Was sind die Folgen und Nebenfolgen?«, »Was sind effektive bzw. effiziente Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?«, »Mit welchen Nebenfolgen ist zu rechnen?«
Selbstverständlich hat jede wissenschaftliche Forschung eine sogenannte Wertbasis. Sie beruht auf dem Interesse an Erkenntnis und auf der Wahl bestimmter begrifflicher, theoretischer und methodischer Instrumente. Davon hängt ab, was überhaupt in das Blickfeld geraten kann. Für die Sozialwissenschaften gilt darüber hinaus, dass sie als »Wirklichkeitswissenschaft« eine Wertbeziehung und Kulturbedeutung haben, was für Max Weber (1922/1973, S. 181–184) von zentraler Bedeutung war. Das heißt, sie behandeln Fragestellungen, deren Beantwortung uns etwas über die Situation der Gesellschaft und ihren Wandel in Bezug auf ihre Kultur und grundlegenden Werte sagt. Wir sollten dann besser wissen, wie es zum Beispiel um Freiheit, Gleichheit, soziale Probleme, Konflikte, Integration bzw. Desintegration, Offenheit für Innovation und Wandel der Gesellschaft bestellt ist. Sozialwissenschaftliches Wissen dieser Art steigert das Reflexionsniveau von Debatten über die normative Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, was bewahrt und was verändert werden soll. In diesem Sinne leisten die Sozialwissenschaften einen Beitrag zur Beantwortung normativer Fragen der Gesellschaft. Es versteht sich von selbst, dass ein Buch über die polarisierte Gesellschaft genau auf die Generierung von Wissen mit Wertbezug und Kulturbedeutung zielt. Das muss jedoch in größtmöglicher Unabhängigkeit von jeglicher Parteipolitik geschehen, wenn es sich um einen genuin wissenschaftlichen Beitrag zu dieser Thematik handeln soll.
Es ist allerdings nie völlig vermeidbar, dass bei aller Bemühung um Distanz zum Untersuchungsgegenstand dennoch Vorurteile den Blick trüben und zu falschen Aussagen führen. Das aufzudecken und Irrtümer zu korrigieren, ist Sache des offenen kritischen Diskurses. Die Annäherung an die Wahrheit wird demnach nie allein durch die besondere Distanz und Sorgfalt des einzelnen Forschers gewährleistet, sondern durch den kritischen Diskurs als Verfahren der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung. Deshalb ist die unabdingbare Voraussetzung für den Erkenntnisfortschritt, dass die vollkommene Offenheit dieses Diskurses gegeben ist. Ich betone das deshalb, weil ich den Eindruck habe, daran erinnern zu müssen. Es sind in meinen Augen zwei Entwicklungen, die besondere Aufmerksamkeit für diese Selbstverständlichkeit jeder wissenschaftlichen Forschung verlangen. Das ist erstens die Einbeziehung der Sozialwissenschaften in politisch geförderte Programmforschung auf nationaler und europäischer Ebene. Sie verleitet dazu, politisch erwünschte Fragen zu bearbeiten und auch politisch erwünschte Ergebnisse zu liefern, was sich oft schon durch die Art der erforschten Fragen ergibt, zumal man nur so in diesem Drittmittelgeschäft bleiben kann. Zweitens ist es die Verknüpfung der sozialwissenschaftlichen Forschung mit politischem Aktivismus für diese oder jene gute Sache. Auch hier passiert leicht, dass das herauskommt, was politisch erwünscht ist. In beiden Fällen muss das Opfer des Intellekts erbracht werden, wie Max Weber (1922/1973, S. 611) festgestellt hat. Das äußert sich auch in der zunehmenden Verbreitung von Denkverboten. Wenn wir damit anfangen, können wir allerdings den Betrieb gleich einstellen. Die Sozialwissenschaften verspielen auf diese Weise den Status einer ernstzunehmenden wissenschaftlichen Disziplin und dürfen sich nicht wundern, wenn der gewöhnliche Steuerzahler nicht mehr einsieht, dafür Geld aufbringen zu müssen. Sie verlieren die Fähigkeit zur politisch unabhängigen und distanzierten Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Fähigkeit zu dem, was Niklas Luhmann (1967) als »soziologische Aufklärung« bezeichnet hat. Wenn Machtfragen illegitimerweise in Wahrheitsfragen umdefiniert werden, dann wird Aufklärung durch Indoktrination ersetzt.
Soziologische Aufklärung lässt sich dezidiert vor keinen politischen Karren spannen, auch nicht bei einer so brisanten Frage wie derjenigen nach den Ursachen der wachsenden gesellschaftlichen »Spaltung« bzw. »Polarisierung« und nach den Möglichkeiten ihrer Überwindung. Sie ist auch nicht mit einfacher Dienstleistung für eine Politik zur Hand, die mangelnden »gesellschaftlichen Zusammenhalt« als Problem erkannt hat und von der Soziologie nur wissen will, wie man aufmüpfige Bürger wieder auf Linie bringen kann. Soziologische Aufklärung ist keine instrumentell nutzbare Dienstleistungswissenschaft, sondern eine Reflexionswissenschaft, die vor keinen Fragen Halt macht, auch dann nicht, wenn die Antworten nicht gern gehört werden. Beispielsweise kann der Appell an den »gesellschaftlichen Zusammenhalt« in einer Zeit verschärfter Konflikte auch einfach nur dem Interesse an Machterhalt und an leichterem Durchregieren geschuldet sein, was durch eine offene Konfliktaustragung gefährdet sein könnte. Nur die offene Konfliktaustragung nach den Spielregeln einer liberalen Demokratie garantiert jedoch diejenige Wandlungsfähigkeit, die...
Erscheint lt. Verlag | 21.6.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | abgehobene Eliten • Bildungswettgewerb • gespaltene Gesellschaft • Soziale Ungleichheit • Soziologie • Wohlfahrtskoalition • Wohlstand |
ISBN-10 | 3-593-45376-2 / 3593453762 |
ISBN-13 | 978-3-593-45376-7 / 9783593453767 |
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