Arbeitszukünfte -  Oliver Pfirrmann,  Claudio Zettel,  Patrick Stuhm,  Günter H. Walter,  Felicitas Schlitz

Arbeitszukünfte (eBook)

Szenarien zur Zukunft der Arbeitswelt
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
208 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-6637-3 (ISBN)
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Mit diesem Buch laden wir Sie ein, die Arbeit im Übergang zum 22. Jahrhundert in verschiedenen Szenarien zu betrachten. Im Projekt FutureWork, das dieser Veröffentlichung zugrunde liegt, haben in den letzten drei Jahren WissenschaftlerInnen durch eine Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung untersucht, wie die Arbeit der Zukunft aussehen kann und welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind. Mithilfe von Literatur und Filmen aus der Science Fiction sind verschiedene Zukunftsentwürfe, sogenannte Szenarien, entstanden, die sich von einer Vielzahl bereits bekannter Studien durch eine weiter Vorausschau abgrenzen. Methodisch bauen die Szenarien auf einer bewährten Methode der Zukunftsforschung auf: der Szenariotechnik. Wissenschaftlich betrachtet kombiniert diese Studie also Bewährtes mit Neuem und kann dadurch neue Perspektiven aufzeigen.

PD Dr. Oliver Pfirrmann hat Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Bonn und Berlin studiert, 1991 Promotion und 2007 Habilitation jeweils an der Freien Universität Berlin. Er war wissenschaftlicher Leiter des Projekts FutureWork, hat in verschiedenen Einrichtungen der Auftragsforschung und -beratung gearbeitet und lehrt aktuell an der Freien Universität Berlin.

1.2 Arbeit im Spannungsfeld von Utopien, Dystopien, Vergangenheit und Zukunft


Der zentrale Begriff der Studie - Arbeit - verlangt nach einer mehrfachen Klärung. Neben der Frage, wie Arbeit abzugrenzen ist, ist bei einer Vorausschau zu klären, ob es gesicherte Ansatzpunkte aus Vergangenheit und Gegenwart gibt, auf die sich die Zukunftsforschung beziehen kann.

In der umfangreichen Literatur zum Thema Arbeit finden sich nicht nur in wissenschaftlichen, sondern auch in klassischen Werken Utopien und Dystopien von Arbeit. Begriffe, die bei genauerer historischer Betrachtung selbst unterschiedliche Interpretationen erfahren haben. In ihren „Streifzügen durch zweihundert Jahre Science Fiction“ verweisen Steinmüllers dabei auf die klassischen Utopien, bei denen vor allem Staatenbilder im Vordergrund stehen.24 Thomas Morus, englischer Staatsmann und humanistischer Autor des 16. Jahrhunderts, hat mit Utopia aus dem Jahre 1516 schon frühzeitig das Bild einer „glücklichen Gesellschaft“ literarisch aufgezeigt.25 In diesem „post-antiken Staatsgebilde“ wird nicht aus existenziellen Bedürfnissen gearbeitet. Die BewohnerInnen sind materiell abgesichert, es besteht aber eine Arbeitspflicht für die Gemeinschaft und diese wird durch eine patriarchalische und hierarchische Führung innerhalb der Gemeinschaft überwacht. In dieser „glücklichen Gesellschaft“ weisen dank einer umfassenden Erziehung bzw. Schulung alle ein hohes Bildungsniveau auf. Unglück, Gebrechen und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten sind durch soziale, politische, ökonomische, kulturelle Reformen oder Revolutionen in diesem idealen „Nirgendreich“, beseitigt worden. In der vom Autor beschriebenen Welt leben nur „glückliche Menschen“. Nach Morus gingen vor allem die Werke „Der Sonnenstaat“ des italienischen Philosophen Tommaso Campanella aus dem Jahre 1602 und „Nova Atlantis“ des englischen Lordkanzlers Francis Bacon von 1627 in die Literatur(-geschichte) ein. Bacon bezog sich in seiner Utopie auf ein perfektes Technikbild, welches sich im 19. Jahrhundert als naturwissenschaftlich-technisches Utopiebild durchsetzt, und wie Karlheinz Steinmüller ausführt, eine der drei weltanschaulichen Ideen der Science Fiction belegt: die Überzeugung vom unaufhaltsamen Fortschritt von Wissenschaft und Technik.26 Nach diesem Verständnis bedeutet Utopie also keineswegs unmöglich, sondern eben nur unwirklich, also noch nicht oder nicht mehr möglich.27 Eine Utopie geht in dieser Interpretation von der Erfahrung aus, dass es nicht so ist wie es sein könnte.28 Das muss jedoch nicht zwangsläufig besser sein, sondern kann auch schlechter bedeuten. Beispielsweise sorgte Edward Bellamys mit seinem „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“ für einen Bruch in der sonst optimistischen Betrachtung einer industriell basierten kapitalistischen Entwicklung. Er entwarf eine „sozialutopische Gesellschaft“, die, nach einer gewaltfreien Revolution, Privateigentum in Staatseigentum überführt hat und auf einer freiwilligen Beschäftigung aller BürgerInnen zwischen 21 und 45 Jahren beruht. Die Arbeit ist einfach, unterstützt durch maschinelle Produktion, kurzen Arbeits- und langen Urlaubszeiten und jenseits der Altersgrenze von 45 winkt die Rente.

Mit der die Industrialisierung begleitenden Technisierung von Gesellschaften trugen vor allem der 1. Weltkrieg und das Aufkommen totalitären Gedankenguts dazu bei, „utopische Gegenentwürfe“ zu verfassen. Utopien also, die in einer anderen Lesart bzw. Interpretation keine „bessere Zukunft“ entwerfen. Seitdem sind unterschiedliche Bezeichnungen verbreitet; durchgesetzt haben sich die Begriffe Anti-Utopie und Dystopie, verschiedentlich werden sie synonym gebraucht.29 Der russischer Revolutionär und Schriftsteller Jewgenij Iwanowitsch Samjatin veröffentlichte im Exil in den USA 1924 den Roman „Wir“, der prägend für die dystopische Literatur werden sollte und auch Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ von 1932 sowie George Orwells „1984“ aus dem Jahr 1949 beeinflusst hat.30

In der Folge dieser frühen Dystopien sind im Genre der Science Fiction-Literatur viele weitere Werke verfasst worden, im Aufbau und der Botschaft durchaus vergleichbar. Dystopien zeigen eine nicht erstrebenswerte Welt auf, die negative Entwicklungen der Gegenwart aufgreift und zuspitzt. Das geschieht immer wieder auch mit prophetischem Charakter, wie beispielsweise bei H.G. Wells‘ Science Fiction-Roman „Befreite Welt“ von 1914, der als Ideengeber für die im 2. Weltkrieg entwickelte und eingesetzte Atombombe gilt.31 Im Gegensatz zur (positiven) Utopie sind diese Zuspitzungen vor allem als Kritik zu verstehen an dem, was in der Gegenwart passiert und absehbar passieren wird. Wie Karlheinz Steinmüller ausführt: „Aber vergessen wir nicht, daß Science Fiction zuallererst einmal kritische Kommentare zu gesellschaftlichen Verhältnissen abgibt.“32 Dystopien versuchen den Nachweis zu führen, dass eine in der Realität eingeschlagene Entwicklung, sei es technisch, ökonomisch, politisch oder, wie aktuell zu sehen ökologisch, ohne Korrektur zu einer Katastrophe führen muss und eben nicht zu einer „glücklichen Gesellschaft“. Arbeit, wie zuvor erläutert, über eine klassische Erwerbsarbeit hinaus verstanden als soziale Tätigkeit, die für den Reproduktionsprozess menschlichen Lebens unabdingbar ist, steht somit im Spannungsfeld verschiedener Entwicklungen, die literaturgeschichtlich unterschiedliche Akzentuierungen erfahren haben, deren differenzierter methodischer Einbezug für eine wissenschaftliche Studie aber notwendig ist.33

In der Frage der Textauswahl haben wir uns nach ersten Gesprächen und Materialsichtungen vor allem auf zeitgenössische Texte konzentriert, diese aber um einen relevanten Aspekt ergänzt: Um die zentrale Rolle von Automatisierung und Computersystemen in den möglichen Zukunftsszenarien noch besser beleuchten zu können, sind als historischer Anker auch Texte des seit den 1980er Jahren entwickelten literarischen (und später filmischen) Cyberpunk in die Betrachtung aufgenommen worden. Cyberpunk verkörpert geradezu idealtypisch die science-fiktionale Aufarbeitung technologischer Entwicklungen im Bereich Informationstechnologie und stellt somit einen wichtigen Einflussfaktor auf heutige Visionen von Arbeitszukunft dar. Wie McFarlane, Murphy und Schmeink ausführen34, hat sich der Cyberpunk heutzutage als kulturelle Formation zu einem idealen Mittel entwickelt, mit dem unser „21st-century technocultural age“ erfasst werden kann. Darüber hinaus sind nicht alle Arten von Fiktion gleichermaßen dazu geeignet, Aussagen über Veränderungen im Umfeld von Arbeit zu treffen. Individuelle Abenteuer und Heldenreise, polizeiliche Ermittlungen in Kriminalfällen oder militärische Kampagnen eignen sich nicht gut zur Analyse gesellschaftlicher Strukturen und den Umgang mit Arbeit in der Zukunft. Aus diesem Grund sind vor allem Werke ausgewählt worden, in denen im Verhältnis zur heutigen Gesellschaft bessere oder schlechtere Gesellschaftsbilder entworfen werden und die sich auf die Beschreibung komplexerer sozialer Systeme berufen, also Werke aus dem Bereich utopischer oder dystopischer Literatur.35

In der arbeitswissenschaftlichen Literatur ist verschiedentlich die These vom Wertewandel, der zu einem neuen Arbeitsverständnis führt, diskutiert worden.36 Wenngleich diese These empirisch umstritten ist, wird in vielen Studien zur sogenannten „Zukunft der Arbeit“ wiederholt darauf hingewiesen, dass der Arbeitsbegriff neue Akzentuierungen erfahren hat.37 Trends wie Globalisierung und technologischer Wandel haben unzweifelhaft einen Beitrag zur Erosion des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses geleistet, mit der Konsequenz, dass der „flexible Mensch“ (Sennet) jederzeit bereit ist, sich neuen Aufgaben und Arbeitsformen zu stellen mit wechselnden Arbeits- und Wohnorten.38 Der demografische Wandel hat nicht nur in Deutschland zu einer Verlängerung von Lebensarbeitszeiten zur Sicherung des Sozialstaates geführt, sondern auch zu unterschiedlichen Zyklen von Frühverrentung und auch Wiedereingliederung Älterer in den Arbeitsmarkt. In individueller Perspektive gehen die gewachsene Vielfalt von Lebensphasen, -formen und -partnerschaften, gekennzeichnet durch differenziertere Bedürfnisse und Umstände, oftmals einher mit brüchigen Berufs- und Lebensbiografien.39 Wissenschaftlich aufgegriffen ist das u.a. durch neuere Studien, die sich auf das Anfang der 1980er Jahre entwickelte Konzept der „New Work“ des Sozialphilosophen Frithjof Bergmann beziehen. Er thematisiert die veränderte Arbeitsweise der heutigen Gesellschaft im globalen und digitalen Zeitalter und geht von der Annahme aus, dass das bisherige Arbeitssystem durch den Kapitalismus geprägt ist, dieses veraltet sei und ein Gegenmodell zum Kapitalismus zu entwickeln ist.40 Wenngleich die These vom Wertewandel in der Arbeitsgesellschaft in den letzten Jahrzehnten verschiedene Ausprägungen...

Erscheint lt. Verlag 18.10.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7568-6637-8 / 3756866378
ISBN-13 978-3-7568-6637-3 / 9783756866373
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