Zur Entstehung einer ökologischen Klasse (eBook)
93 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77474-8 (ISBN)
Für Bruno Latour und Nikolaj Schultz ist klar: So wie einst die Arbeiterklasse den sozialen Fortschritt erkämpfte, bedarf es heute einer ökologischen Klasse, um den Klimawandel aufzuhalten. Wo Bewegungen wie Fridays For Future und lokale Organisationen oft getrennt agieren, plädieren die Soziologen für eine Politik, die den Schutz unserer Lebensgrundlagen ins Zentrum gemeinsamer Anstrengungen stellt. Die Geschichte der Menschen, hieß es bei Marx und Engels, sei die Geschichte von Klassenkämpfen. Kommt es nicht zur Entstehung einer ökologischen Klasse, so Latour und Schultz, wird die Menschheit keine Zukunft haben.
<p>Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie. Bruno Latour war Professor am Sciences Politiques Paris. Für sein umfangreiches Werk hat er zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten, darunter den Siegfried Unseld Preis und den Holberg-Preis. Latour verstarb am 09. Oktober 2022 in Paris.</p>
9I. Klassenkämpfe und Klassifikationskämpfe
1 – Unter welchen Bedingungen könnte die Ökologie die Politik um sich herum organisieren, statt nur eine Bewegung unter anderen zu sein? Darf sie hoffen, den politischen Horizont so zu definieren, wie es einst der Liberalismus, dann die Sozialismen sowie der Neoliberalismus taten, und wie es seit Kurzem die illiberalen oder neofaschistischen Parteien tun, deren Aufstieg sich ungebremst fortsetzt? Kann sie von der Sozialgeschichte lernen, wie neue politische Bewegungen entstehen und wie diese den Kampf der Ideen gewinnen, noch bevor sie ihre Fortschritte in Parteistrukturen und Wahlergebnisse übersetzen können?
2 – Angesichts des Zusammenbruchs der »internationalen Ordnung«, des enormen Ausmaßes der laufenden Katastrophe und der allgemeinen Unzufriedenheit über das politische Angebot der traditionellen Parteien, die sich unter anderem in mannigfacher Wahlenthaltung niederschlägt, muss die Ökologie unbedingt in ihrem Zusammenhalt und ihrer Autonomie gestärkt werden. Das haben sich zwar bereits viele ökologische Bewegungen und sogar Parteien auf ihre Fahnen geschrieben. Doch noch sind sie weit davon ent10fernt, auf ihre Weise und mit ihren eigenen Begriffen die Fronten um sie herum zu bestimmen und so die Gesamtheit ihrer Verbündeten und Gegner in der politischen Landschaft auszumachen. Noch Jahrzehnte nach ihren Anfängen sind sie in den alten Gräben gefangen. Das schränkt die Suche nach Allianzen ein und beeinträchtigt ihren Handlungsspielraum. Will die politische Ökologie existieren, darf sie sich nicht durch andere definieren lassen. Sie muss aus sich heraus und für sich die neuen Quellen von Ungerechtigkeit aufdecken sowie die neuen Fronten ausmachen, an denen sie zu kämpfen hat.
3 – Weil sie getragen war von der Sorge um eine Natur, die von der Wissenschaft erkannt wurde und der sozialen Welt äußerlich war, hat sich die politische Ökologie zu lange auf eine pädagogische Version ihres Handelns verlassen: Da man weithin um die Katastrophensituation wusste, würde die Tat zwangsläufig folgen. Doch mittlerweile ist offenbar geworden, dass der Aufruf »Zum Schutz der Natur« weder die sozialen Konflikte beendet hat noch die Aufmerksamkeit von ihnen ablenkt. Im Gegenteil: Er befeuert diese noch. Von den Gelbwesten in Frankreich über die Proteste der indischen Bauern bis hin zu den indigenen Bewegungen in Nordamerika, die sich gegen das Fracking wehren, oder die Debatten um die Frage, welche Auswirkungen Elektroautos haben – der Befund ist eindeutig: Die Konflikte nehmen zu. Von der Natur zu sprechen 11heißt nicht, einen Friedensvertrag zu unterschreiben. Es heißt vielmehr anzuerkennen, dass eine Vielzahl von Auseinandersetzungen zu allen möglichen Themen des alltäglichen Daseins, auf allen Stufen und auf allen Kontinenten, besteht. Die Natur eint nicht, sie trennt.
4 – Erstaunlicherweise sind ökologische Anliegen – auf jeden Fall das Klima, die Energie und die Biodiversität – inzwischen allgegenwärtig. Dennoch hat die Vielzahl an Konflikten nicht, jedenfalls noch nicht, zu einer allgemeinen Mobilisierung geführt, wie es in früheren Zeiten durch die vom Liberalismus und vom Sozialismus in Gang gebrachten Veränderungen der Fall war. In diesem Sinne ist die Ökologie überall und nirgends. Aktuell ist es wohl gerade die enorme Vielfältigkeit der Konflikte, die den Versuch einer stimmigen Definition dieser Kämpfe verhindert. Nun ist diese Diversität jedoch kein Manko, sondern ein Trumpf. Und zwar deshalb, weil die Ökologie umfassend die Lebensbedingungen untersucht, die durch das obsessive Beharren auf der Produktion zerstört wurden. Will die ökologische Bewegung an Konsistenz und Autonomie gewinnen und soll sich dies in einem geschichtsträchtigen Elan gleich dem in der Vergangenheit niederschlagen, dann muss sie ihr Projekt erkennen, es fassen, begreifen und wirksam darstellen und diese Konflikte zu einer für alle verständlichen Aktionseinheit zusammenschweißen. Dafür muss man zunächst akzeptieren, dass die Öko12logie Trennung impliziert. Anschließend gilt es, eine überzeugende Kartografie der von ihr erzeugten neuen Arten von Konflikten zu liefern. Und schließlich muss ein gemeinsamer Horizont des kollektiven Handelns bestimmt werden.
5 – Wenn es stimmt, dass die Ökologie sowohl überall als auch nirgends ist, dann trifft auch und nicht minder zu, dass es einerseits hinsichtlich aller möglichen Themen zu Konflikten kommen kann, während andererseits eine Art Gleichgültigkeit, ein Hang zur Aussöhnung, ein Abwarten und ein trügerischer Friede herrschen. Jede Veröffentlichung des Weltklimarats löst exaltierte Reaktionen aus, doch wie in der Oper versetzen die Kriegsgesänge »Marschieren wir, marschieren wir, bevor es zu spät ist!« die Chöre auch nur um wenige Meter. »Alles muss sich radikal ändern« – und nichts verändert sich. Wenn es also dringend geboten ist, anzuerkennen, dass ein allgemeiner Kriegszustand herrscht, so muss doch auch eingestanden werden, dass eindeutige Frontlinien zwischen Freunden und Feinden gegenwärtig nur schwer zu ziehen sind. Bei einer ganzen Menge von Themen sind wir selbst gespalten, sind wir zugleich Opfer und Komplizen. Während sich die Klassenkonflikte im vorherigen Jahrhundert, wenn auch nur grob, nachzeichnen ließen, die es zum Beispiel ermöglichten, Parteien mit erkennbaren Ideologien zu wählen, ist das heute, solange der ökologische Kriegszustand nicht geklärt ist, ungeheuer schwer. Und wie 13kann man von Klassenkonflikten sprechen, wenn noch nicht einmal die ökologische Klasse an sich klar definiert ist?
6 – Es ist stets ein wenig beängstigend, den Begriff der »Klasse« wieder zu verwenden. Deshalb muss man der Versuchung widerstehen, den Ausdruck »Klassenkampf« unverändert aufzugreifen, auch wenn man zugeben muss, dass er im vorherigen Jahrhundert insofern sehr große Dienste leistete, als er die Mobilisierungsbemühungen erleichterte und einte. Der Vorteil dieses Begriffs lag darin, dass er die Grenzen der Struktur der sozialen und der materiellen Welt festzulegen erlaubte, indem er politische Dynamiken in der Begrifflichkeit sozialer Konflikte, der Herausbildung von Erfahrungen und kollektiver Horizonte vorantrieb. Seine Rolle innerhalb der sich vollziehenden Geschichte war klar deskriptiv und performativ. Er beanspruchte, die soziale Realität zu beschreiben und damit den Menschen zu ermöglichen, sich in der Landschaft, die sie bewohnten, zu positionieren. Gleichzeitig war er nie zu trennen von einem Projekt der gesellschaftlichen Transformation. Von »Klasse« zu sprechen heißt also immer, Schlachtordnung einzunehmen. Und davon zu sprechen, eine »ökologische Klasse« entstehen zu lassen, bedeutet also unvermeidlich, zugleich eine neue Beschreibung und neue Handlungsperspektiven anzubieten. Die Klassifizierung der sich herausbildenden Klasse, die wir als die »ökologische« bezeichnen, ist zwangsläu14fig ein performativer Akt. Daraus erklärt sich die Zweckmäßigkeit der Wiederbenutzung dieses Terminus, auch wenn er eine Menge Konfusion mit sich führt.
7 – Den Begriff des »Klassenkampfs« wieder zu benutzen ist deshalb so problembehaftet, weil er aufgrund der ökologischen Frage ein Klassifizierungskampf, ein Kampf um Klassifizierungen, geworden ist. Darüber, woraus die Klasse besteht, deren Teil man ist, herrscht generell Uneinigkeit. Leute, die (in sozialer oder klassisch kultureller Hinsicht) derselben Klasse angehören, fühlen sich unter ihresgleichen als völlig Fremde, sobald ökologische Konflikte auftauchen. Umgekehrt werden Aktivistinnen und Aktivisten von Leuten als »Kampfgefährten« tituliert, die unter sozialem oder kulturellem Gesichtspunkt ganz anderen Lebenskreisen angehören. Das erklärt die Orientierungslosigkeit, aus der sich ein Großteil der gegenwärtig zu beobachtenden Brutalisierung des öffentlichen Lebens herleitet: Im Hinblick auf ökologische Themen sind die Fronten zwischen Verbündeten und Gegnern nicht klar gezogen – was einen durchaus in Rage versetzen kann. Um eine ökologische Klasse entstehen zu lassen, muss also dieser Kampf um Klassifizierungen akzeptiert und müssen Unterscheidungskriterien gefunden werden, die manchmal quer durch die traditionellen Klassenkonflikte verlaufen, und manchmal im Gegenteil sich ...
Erscheint lt. Verlag | 30.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | Mémo sur la nouvelle classe écologique |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Alexander Repenning • Annalena Baerbock • bücher neuerscheinungen • Carola Rackete • Degrowth • Deutschland 2050 • Die Grünen • Extinction Rebellion • Gaia Vince • Greta Thunberg • Holberg-Preis 2013 • Klima • Klimastreik • Koalition • Kulturpreis der Münchener Universitätsgesellschaft 2010 • Kyoto Prize 2021 • Luisa Neubauer • Maja Göpel • Mémo sur la nouvelle classe écologique deutsch • Neuerscheinungen • neues Buch • post growth • Post-growth • Postwachstum • Robert Habeck • Solidarität |
ISBN-10 | 3-518-77474-3 / 3518774743 |
ISBN-13 | 978-3-518-77474-8 / 9783518774748 |
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