Die Paradoxien der Mehrlust (eBook)

Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
496 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491770-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Paradoxien der Mehrlust -  Slavoj ?i?ek
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»Kaum ein anderer Denker veranschaulicht die Widersprüche des heutigen Kapitalismus besser als Slavoj ?i?ek.« New York Review of Books Das heutige Leben ist vom Überfluss geprägt. Es muss immer mehr sein, nie ist es genug. Lacan hat jedoch gezeigt, dass wir immer einen Überschuss an dem benötigen, was wir brauchen: Sonst können wir das, was wir haben, nicht genießen. Mit dieser Gedankenfigur, die ?i?ek mit Marx' »Mehrwert« und Freuds »Lustgewinn« zusammendenkt, analysiert der Meisterdenker aus Slowenien die Paradoxien der gegenwärtigen politischen Lage. Unter anderem anhand von Hollywood-Filmen wie der »Joker«, Thomas von Aquin, der Corona-Pandemie und den Zwängen der »Cancel Culture« zeigt ?i?ek, dass wir vielleicht einen Ausweg aus unserer verzwickten Lage finden, wenn wir nur erkennen, dass der Gewinn, den die »Mehrlust« verspricht, substanz- und nutzlos ist. »?i?ek ist der Philosoph, der den richtigen Leuten auf die Nerven geht.« The Spectator

Slavoj ?i?ek, geboren 1949, ist Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker. Er lehrt Philosophie an der Universität von Ljubljana in Slowenien und an der European Graduate School in Saas-Fee und ist derzeit International Director am Birkbeck Institute for the Humanities in London. Seine zahlreichen Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt. Im S. Fischer Verlag sind zuletzt erschienen »Hegel im verdrahteten Gehirn« (2020), »Wie ein Dieb im Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus« (2019), »Mut zur Hoffnungslosigkeit« (2018), »Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus« (2016), »Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus« (2015), »Was ist ein Ereignis?« (2014) und »Das Jahr der gefährlichen Träume« (2013).

Slavoj Žižek, geboren 1949, ist Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker. Er lehrt Philosophie an der Universität von Ljubljana in Slowenien und an der European Graduate School in Saas-Fee und ist derzeit International Director am Birkbeck Institute for the Humanities in London. Seine zahlreichen Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt. Im S. Fischer Verlag sind zuletzt erschienen »Hegel im verdrahteten Gehirn« (2020), »Wie ein Dieb im Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus« (2019), »Mut zur Hoffnungslosigkeit« (2018), »Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus« (2016), »Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus« (2015), »Was ist ein Ereignis?« (2014) und »Das Jahr der gefährlichen Träume« (2013).

[…] man folgt den theoretischen Volten und Purzelbäumen, Widerlegungen und Retourkutschen, Witzen und Filmnacherzählungen […] mit Faszination und zuletzt oft genug mit Bewunderung.

Žižek wirkt oft dann am hellsichtigsten, wenn er dank seines psychoanalytischen Blicks die libidinösen Unterströme in der Gesellschaft offenlegt.

Eigentlich artikuliert Žižek die philosophische Verzweiflung an der Wirklichkeit.

Von der Katastrophe zur Apokalypse … und zurück


In einem ideologischen Raum werden verschiedene Haltungen zu dem verbunden, was Ernesto Laclau eine »Äquivalenzkette« genannt hat – so werden zum Beispiel rechtsextreme Verschwörungstheorien über die COVID-19-Pandemie mit esoterischer Spiritualität kombiniert. Melissa Rein Livelys starke Beschäftigung mit Wellness, Naturheilkunde, biologischer Ernährung, Yoga, ayurvedischen Heilmethoden, Meditation und so weiter führte dazu, dass sie Impfstoffe als gefährliche Kontaminationsquelle vehement ablehnte.[1] Heute ist dieser Prozess überall um uns herum spürbar. Wir leben in einem seltsamen Moment, in dem mehrere Katastrophen – Pandemie, globale Erwärmung, soziale Spannungen, die Aussicht auf die vollständige digitale Kontrolle unseres Denkens … – um die Vorherrschaft kämpfen, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch im Hinblick darauf, welche von ihnen als »Stepppunkt« gelten wird (Lacans point-de-capiton), der alle anderen totalisiert. Der Hauptkandidat im öffentlichen Diskurs ist gegenwärtig die globale Erwärmung, während, zumindest in unserem Teil der Welt, der entscheidende Antagonismus in letzter Zeit der zwischen Impfbefürwortern und Impfskeptikern zu sein scheint. Das Problem dabei ist, dass die Hauptkatastrophe für die COVID-Skeptiker heute die falsche Sicht der (pandemischen) Katastrophe selbst ist, die in ihren Augen von den Mächtigen manipuliert wird, um die soziale Kontrolle und die wirtschaftliche Ausbeutung zu verstärken. Wenn man sich genauer anschaut, wie der Kampf gegen die Impfung andere Kämpfe verdichtet (den Kampf gegen soziale Kontrolle, gegen die Wissenschaft, gegen die wirtschaftliche Ausbeutung durch Unternehmen und den Kampf für die Verteidigung unserer Lebensweise …), dann wird klar, dass die Schlüsselrolle des Kampfes gegen die Impfung das Ergebnis einer ideologischen Mystifizierung ist, die in einigen Punkten sogar Ähnlichkeiten mit dem Antisemitismus hat. Denn ebenso wie dieser eine verschobene bzw. mystifizierte Form des Antikapitalismus ist, ist der Kampf gegen die Impfung eine verschobene bzw. mystifizierte Form des Klassenkampfes gegen die Mächtigen.

Um einen Ausweg aus diesem Durcheinander zu finden, sollten wir uns vielleicht auf die Unterscheidung zwischen Apokalypse und Katastrophe besinnen, wobei der Begriff »Katastrophe« auf das beschränkt bleibt, was Günther Anders die »nackte Apokalypse« genannt hat. Eine Apokalypse (altgriechisch »Enthüllung«) ist eine Aufdeckung oder Offenbarung von Wissen; im religiösen Sprachgebrauch ist das, was die Apokalypse enthüllt, etwas Verborgenes, die letzte Wahrheit, für die wir in unserem Alltag blind sind. Heutzutage bezeichnen wir gewöhnlich jede größere Katastrophe oder Kette schädlicher Ereignisse für Mensch oder Natur als »apokalyptisch«. Man kann sich zwar unschwer die Enthüllungs-Apokalypse ohne die Katastrophen-Apokalypse vorstellen (etwa in einer religiösen Offenbarung) und auch die Katastrophen-Apokalypse ist leicht ohne die Enthüllungs-Apokalypse denkbar (etwa ein Erdbeben, das einen ganzen Kontinent hinwegfegt), aber es herrscht dennoch eine innere Verbindung zwischen den beiden Dimensionen. Wenn wir (glauben, dass wir) einer höheren und zuvor verborgenen Wahrheit ausgesetzt sind, unterscheidet sich diese so sehr von unseren gewöhnlichen Ansichten, dass sie unsere Welt notwendigerweise erschüttert, und jedes Katastrophenereignis, und sei es auch vollkommen naturbedingt, offenbart vice versa etwas, das wir in unserem normalen Dasein ignoriert haben und das uns direkt mit einer unterdrückten Wahrheit konfrontiert.

In seinem Essay »Apokalypse ohne Reich« führte Günther Anders den Begriff der »nackten Apokalypse« ein, »der Apokalypse, die im bloßen Untergang besteht, die also nicht den Auftakt zu einem neuen, und zwar positiven, Zustande (zu dem des ›Reiches‹) darstellt.«[2] Eine atomare Katastrophe war für Anders genau so eine nackte Apokalypse: Aus ihr würde kein neues Reich hervorgehen, nur die Auslöschung unserer selbst und unserer Welt. Und die Frage, die wir heute stellen sollten, lautet: Welche Art von Apokalypse kündigt sich in der Vielzahl von Katastrophen an, die eine Bedrohung für uns alle darstellen? Was wäre, wenn sich die Apokalypse im vollständigen Sinn des Wortes, also einschließlich der Enthüllung einer bislang unsichtbaren Wahrheit, nie ereignete? Was, wenn die Wahrheit etwas ist, das im Nachhinein konstruiert wird, um die Katastrophe verstehen zu können? Manch einer würde wohl sagen, dass der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa 1990 eine echte Apokalypse war: Er brachte die Wahrheit zum Vorschein, dass der Sozialismus nicht funktioniert und dass die liberale Demokratie das endlich entdeckte bestmögliche sozialwirtschaftliche System ist. Doch dieser Fukuyama’sche Traum vom Ende der Geschichte endete ein Jahrzehnt später am 11. September mit einem bösen Erwachen, so dass wir jetzt in einer Zeit leben, die sich am besten als Ende vom Ende beschreiben lässt – der Kreis ist geschlossen, wir sind von der Katastrophe zur Apokalypse und zurück zur Katastrophe gelangt. Wir hören ständig, dass wir am Ende der Geschichte angelangt seien, aber dieses Ende zieht sich hin und bringt sogar sein eigenes Genießen mit sich.

Nach unserer herkömmlichen Vorstellung findet eine Katastrophe dann statt, wenn das Eindringen eines gewaltsamen Ereignisses – Erdbeben, Krieg … – die symbolische Fiktion zerstört, die unsere Realität ist. Vielleicht ist es aber eine ebensolche Katastrophe, wenn die Realität bestehen bleibt und nur die symbolische Fiktion zerfällt, die unseren Zugang zur Realität aufrechterhält. Betrachten wir das Beispiel der Sexualität, denn nirgendwo sonst spielen Fiktionen eine entscheidendere Rolle. In einem interessanten Kommentar zur Rolle des Einverständnisses in sexuellen Beziehungen erinnert sich Eva Wiseman an »einen Moment in The Butterfly Effect, Jon Ronsons Podcast-Serie über die Nachbeben der Internetpornographie. Am Set eines Pornofilms verlor ein Schauspieler mitten in der Szene seine Erektion – um sie zurückzubekommen, wandte er sich von der Frau ab, die nackt unter ihm lag, griff zu seinem Handy und rief Pornhub auf. Was mir ein wenig apokalyptisch vorkam« – man beachte das Wort »apokalyptisch« an dieser Stelle. Wiseman kommt zu dem Schluss: »Etwas ist faul im Staate des Sex.«[3] Da bin ich ganz ihrer Meinung, möchte allerdings noch die Lektion der Psychoanalyse hinzufügen: Die menschliche Sexualität ist in sich pervers, sie ist sadomasochistischen Umkehrungen und ganz besonders der Vermischung von Realität und Phantasie ausgesetzt. Auch wenn ich mit meinem/r Partner/in allein bin, ist meine (sexuelle) Interaktion mit ihm/ihr unauflöslich mit meinen Phantasien verknüpft, das heißt, jeder Geschlechtsverkehr ist potenziell strukturiert wie »Masturbation mit einem/r echten Partner/in«. Ich benutze den Körper meines Partners/meiner Partnerin als Requisit, um meine Phantasien verwirklichen bzw. umsetzen zu können. Wir können diese Lücke zwischen der körperlichen Realität meines Partners/meiner Partnerin und dem Universum der Phantasien nicht auf eine vom Patriarchat und der sozialen Herrschaft oder Ausbeutung herbeigeführte Verzerrung reduzieren – die Lücke ist von Anfang an da. Daher kann ich ganz gut verstehen, dass der Schauspieler Pornhub aufgerufen hat, um seine Erektion wiederzuerlangen – er suchte nach einer phantasmatischen Stütze für seine Darbietung.

Die traurige Schlussfolgerung, die wir aus all dem ziehen müssen, ist, dass eine Katastrophe nichts ist, was uns in der Zukunft erwartet und durch eine wohldurchdachte Strategie noch verhindert werden kann. Die Katastrophe im (nicht nur) grundlegendsten ontologischen Sinne ist etwas, das immer schon passiert ist, und wir, die überlebenden Menschen, sind das, was übrig bleibt – auf allen Ebenen, sogar in einem ganz empirischen Sinn: Zeugen die riesigen Öl- und Kohlereserven, die bis heute unsere wichtigste Energiequelle sind, nicht von ungeheuren Katastrophen, die vor der Entstehung der Menschheit auf der Erde stattgefunden haben? Unsere Normalität ist per definitionem postapokalyptisch.

Dies führt uns zu unserem Hauptpunkt zurück. Abgesehen von ein paar »rationalen Optimisten« würden die meisten von uns zustimmen, dass wir – wir alle, die ganze Menschheit – in einer mehrfachen Krise stecken: Pandemie, globale Erwärmung, soziale Proteste … Wir treten in ein neues Zeitalter ein und die Hinweise darauf mehren sich. Die Aussicht auf einen Krieg um den Zugang zum Nilwasser ist möglicherweise ein Modell zukünftiger Kriege: Vom Standpunkt der nationalstaatlichen Souveränität ist Äthiopien berechtigt, so viel für sich zu behalten, wie es will oder braucht, aber wenn es zu viel beansprucht, steht das Überleben Ägyptens auf dem Spiel, das vom Nil abhängig ist. Es gibt für dieses Problem keine abstrakte Lösung; notwendig ist ein ausgehandelter Kompromiss aus einer globalen Perspektive.

Machen wir nun einen Sprung zu einem Akt des Staatsterrorismus, der sich kürzlich ereignet hat. Belarus zwang eine Ryanair-Maschine, die sich auf dem Weg von Athen nach Vilnius befand, zur Landung, um den belarussischen Dissidenten Raman Pratassewitsch verhaften zu können. (Wenngleich man diesen terroristischen Akt unmissverständlich verurteilen muss, sollte man auch daran erinnern, dass Österreich genauso vorging und ein Flugzeug zur...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Reihe/Serie Fischer Wissenschaft
Übersetzer Frank Born, Axel Walter
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Begehren • binär • Brecht • Christentum • Covid-19 • Entfremdung • Freiheit • Freud • Hegel • Heidegger • Identität • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Kommunismus • Lacan • Liebe • Marx • Psychoanalyse • Queer • Rassismus • Religion • Sexualität • Tod
ISBN-10 3-10-491770-1 / 3104917701
ISBN-13 978-3-10-491770-2 / 9783104917702
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