Bleibefreiheit (eBook)
160 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491731-3 (ISBN)
Eva von Redecker, geboren 1982, ist Philosophin und freie Autorin. Von 2009 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und als Gastwissenschaftlerin an der Cambridge University sowie der New School for Social Research in New York tätig. 2020/2021 hatte sie ein Marie-Sk?odowska-Curie-Stipendiatium an der Universität von Verona inne, wo sie zur Geschichte des Eigentums forschte. Eva von Redecker beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik, schreibt Beiträge für u.a. »Die ZEIT« und ist regelmäßig in Rundfunk- und TV-Interviews zu hören. Seit Herbst 2022 richtet sie am Schauspiel Köln die philosophische Gesprächsreihe »Eva and the Apple« aus. Bei S. FISCHER erschien zuletzt ihr Buch »Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen« (2020) sowie ein Vorwort zur Jubiläumsausgabe der »Dialektik der Aufklärung«. Aufgewachsen auf einem Biohof, lebt sie heute im ländlichen Brandenburg.
Eva von Redecker, geboren 1982, ist Philosophin und freie Autorin. Von 2009 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und als Gastwissenschaftlerin an der Cambridge University sowie der New School for Social Research in New York tätig. 2020/2021 hatte sie ein Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiatium an der Universität von Verona inne, wo sie zur Geschichte des Eigentums forschte. Eva von Redecker beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik, schreibt Beiträge für u.a. »Die ZEIT« und ist regelmäßig in Rundfunk- und TV-Interviews zu hören. Seit Herbst 2022 richtet sie am Schauspiel Köln die philosophische Gesprächsreihe »Eva and the Apple« aus. Bei S. FISCHER erschien zuletzt ihr Buch »Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen« (2020) sowie ein Vorwort zur Jubiläumsausgabe der »Dialektik der Aufklärung«. Aufgewachsen auf einem Biohof, lebt sie heute im ländlichen Brandenburg.
Damit liefert die Philosophin einen wichtigen Beitrag zu […] der nötigen Neuverhandlung unseres Freiheitsverständnisses vor dem Hintergrund der ökologischen Krise.
In spielerisch schöner Sprache […] lädt das Buch dazu ein, Freiheit vor allem zeitlich zu denken, als Verweilen in erfüllter Zeit.
Redecker […] ist eine der interessantesten Denkerinnen ihrer Generation
Ihr Buch ist ein flammender Appell, ein erfülltes, statt ein verschwenderisches Leben zu führen und Klarheit über unser kollektives Tun zu gewinnen.
»Bleibefreiheit« ist ein radikales Buch, der Ton aber ist unaufgeregt. Auch deshalb entfaltet es beflügelnde Kraft.
Mit "Bleibefreiheit" ist von Redecker ein Wurf gelungen, der eine Reihe theoretischer und praktischer philosophischer Fragen im Brennpunkt einer fundierten aktuellen Zeitkritik zusammenführt
Nach der Lektüre von Redeckers Essay wird man jedenfalls künftig aufhorchen, wenn im politischen Diskurs mal wieder vollmundig die Freiheit beschworen wird.
"Bleibefreiheit" ist ein beflügelnder Essay von großer innerer Freiheit, die […] freizügig Gesten der Anerkennung und Verbundenheit verteilt. Ein nachhaltiges Sommerbuch.
Eva von Redecker führt einen mit ihrer anschaulichen Sprache und aus dem eigenen Erleben heraus wie von selbst in das Universum der Freiheit im Gestern und Heute.
01.11.2023, NDR Kultur, Agnes Bührig
Eva von Redecker schreibt ihr neues Buch "Bleibefreiheit" in die aktuellen Freiheitskämpfe hinein.
Es geht hier […] darum, den Einzelnen mit seiner Umgebung zu versöhnen, um seine Freiheit zu retten
ein anregendes Buch
Xanthippes Gesellschaft
Aber ist nicht auch die Zeit unendlich? Können wir nicht in ihr oder mit ihr unendlich bleiben? So sehen es alle, die an ein Leben nach dem Tod glauben. Ihr Freiheitsverständnis löst sich unweigerlich von der Wahlfreiheit im Augenblick. Von der Erde löst es sich dabei allerdings auch. Für Seeleute, so will es ein mythologischer Glaube, sind es die Schwalben, die die Seelen Ertrunkener in den Himmel bringen. Sie bilden deshalb ein beliebtes Tattoo-Motiv. Unter Philosophen stammt die einflussreichste Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele von Platon. In seinem Dialog Phaidon lässt er Sokrates diese für die Antike – und auch den historischen Sokrates – eigentlich ungewöhnliche Idee verteidigen. Die Umstände könnten dramatischer kaum sein, denn der Schauplatz ist die Gefängniszelle, in der Sokrates seine für den Abend angesetzte Hinrichtung erwartet. Sokrates wurde vom Athener Geschworenengericht der Verführung der Jugend schuldig gesprochen. Er ist entschlossen, dem Urteil nicht auszuweichen. Seinen treuen Schüler Platon wirft das in eine schwere Krise. Dass die demokratische Bürgerschaft ihr vorzüglichstes Mitglied morden lassen will, zerstört Platons Politikvertrauen – der wahnwitzig durchgeplante und von Philosophen kontrollierte Entwurf der Politeia trägt dem Rechnung. Und dass der Abschied von Sokrates endgültig sein soll, beraubt für Platon offenbar jede am Diesseits ausgerichtete Lebensführung ihres Sinns.
So beginnt im Phaidon, an Sokrates’ Sterbebett, eine philosophische Reflexion auf die Unerträglichkeit des Todes. Oder besser: Sie hätte beginnen können. Platon selbst ist dem Text zufolge unpässlich. Er habe Fieber und sei zu Hause geblieben. Wir wissen darüber natürlich nichts, aber in meiner Vorstellung ist er so von Verlustangst gelähmt, dass er außer Stande ist, dem Tod seines Idols ins Auge zu sehen. Vielleicht auch eifersüchtig, keinen intimen Abschied nehmen zu können, weil Sokrates eine ganze Riege von Freunden, Liebhabern und Schülern um seine Pritsche versammelt. Sokrates, der Denker des Marktplatzes, stellt bis zuletzt eine Öffentlichkeit her, die hier zugleich eine polyamore, schwul-sapiosexuelle Zelle ist.
Zumindest eine Seite Platons bricht also angesichts des Abschieds mit Schüttelfrost zusammen. Das ist allerdings nicht die Seite, die im Phaidon philosophiert. Oder zumindest nicht offen. Denn der ganze Dialog dient dazu, den Schrecken und die Verzweiflung angesichts des Todes abzuwiegeln. Ja, angeblich solle sich ein Philosoph sogar freuen zu sterben, denn im Philosophieren habe er ohnehin nichts anderes getan, als die Seele vom Leib zu lösen und sterben zu üben. »Tritt also der Tod den Menschen an«, behauptet Sokrates, »so stirbt, wie es scheint, das Sterbliche an ihm, das Unsterbliche und Unvergängliche zieht wohlbehalten ab, dem Tode aus dem Wege.«[1] Gemessen an solcher Reisefreiheit ist nebensächlich, wie viel Zeit man auf der Erde verbringt. Was allein zählt, ist, dass man die irdische Dauer nutzt, um das Ticket zur Weiterreise zu erwerben. Denn aus platonischer Sicht gelingt es nicht allen Seelen, ihre Fortdauer zu sichern; manche hingen zu sehr am Körperlichen, um sich sterbend zu befreien. Lust und Unlust beschreibt Sokrates als Nägel, die die Seele an den Körper heften. Wenn es schlecht läuft, bleibt der Körper also der Sarg der Seele. Wenn es gut geht, ist er dagegen nur eine kleine Weile ihr Gefängnis. Sokrates geht für sich von Letzterem aus und verbietet den Freunden deshalb, ihn zu bedauern.
Sicher, Platon braucht Trost. Und es hat etwas Rührendes, zu sehen, wie Sokrates, quirlig und widerborstig und großherzig wie bei all seinen Auftritten, seinen Freunden in ziemlich aberwitzigen Schlussfolgerungen beweisen will, dass es keinen Anlass zur Klage gäbe. Aber das ist kein Trost, der nicht zuerst die Wahrheit des Schmerzes bekennte. Und diese Wahrheit wird in dem hundertseitigen Kerntext der abendländischen Philosophie nur ein Mal, auf den ersten Seiten, formuliert. Xanthippe, Sokrates’ Frau, ist anfänglich ebenfalls im Gefängnis zu Besuch. Von ihrer eigenen Lage absehend, die Neigungen ihres Gatten fest im Blick, ruft sie erschüttert: »O Sokrates, nun reden diese deine Freunde zum letzten Mal mit dir und du mit ihnen.«[2] Es bleibt ihre einzige Äußerung. Denn kaum dass das gesagt ist, lässt Sokrates sie aus dem Raum schaffen.
Wir könnten den Schmerz, den Xanthippe artikuliert, als Wunsch nach Bleibefreiheit deuten: der Wunsch danach, dass Sokrates noch ein wenig unter seinen Freunden weilen dürfe. Vielleicht läge sogar ein gewisser Trost für die Freunde darin, dass vorzüglich um ihretwillen das Weiterleben gewünscht würde. Das wäre ein Anfang gewesen. Stattdessen macht der overkill an Bleibefreiheit, den Platons Sokrates-Avatar einführt, auf einen Schlag die ganze Welt unwesentlich. Was zählt, ist die Seele und ihr ewiges Leben. Anders als später im Christentum ist die Welt als antiker Kosmos hier noch unendlich gedacht. Aber das, worauf es ankommt, das, worauf unser Handeln zielen sollte, ist plötzlich nicht mehr die Erde. Auch nicht, wie die meisten Griechen argumentiert hätten, die Polis als politische Gemeinschaft. Was allein zählt, ist die eigene Seele als Vehikel zur Todesumschiffung. Den anderen Ort, zu dem sie einem Zugang verschaffen soll, nennt Sokrates die »wahre Erde«. Anders als unsere sei sie nicht »zerfressen und verwittert, wie, was im Meere liegt, vom Salz angefressen«, nicht voller »unendliche[m] Kot und Schlamm«, sondern ebenmäßig, glänzend und voller Farben. Sie ist nicht auf Wasser angewiesen, sondern vom Äther genährt. Immerhin – das gebe ich zu – klingt das attraktiver als der Mars. Aber ist es wirklich verlockender als ein endliches Leben mit dem Trost von Salzwasser und Freund_innen?
Es gibt in meinem Leben einige kostbare und immer auch etwas nervenaufreibende Gesprächspartner_innen, an deren Beharrlichkeit mich Sokrates in seinen typischen Dialogen erinnert. Sie ähneln ihm darin, wie sie ihre Unwissenheit behaupten. Vor dem Hintergrund einer riesigen Wissbegierde sagen sie, dass sie nichts wüssten. Zugleich zerpflücken sie aber auch unheimlich geschickt jedes dargebotene Wissen so lange, bis es sich wieder in Unwissenheit auflöst. Was bleibt, ist dieser wilde Wissensdurst und meine eigentlich ganz fehlgeleitete Hoffnung, ihn zu stillen. Große Liebe also.
Eine dieser Personen führte mir etwas vor Augen, das dem sokratischen Sterben-Können nahe kam. Jutta hatte Multiple Sklerose und sehr früh und sehr vehement entschieden, die Krankheit nicht behandeln zu lassen. Ich besuchte sie und ihren Mann erst ein paarmal als ungelenkter Teenager mit meinen Eltern, gegen Ende der Schulzeit und zu Beginn meines Studiums dann öfter und allein. Der Schlüssel in der Haustür steckte immer von außen. Ihr Mann war tagsüber bei der Arbeit, nachdem er vor Tageseinbruch Haushalt und Pflege besorgt hatte. Ich kam, wie Sokrates’ Schüler, einfach nur zum Sprechen hereinspaziert. Anfangs saß Jutta noch im Rollstuhl, schließlich lag sie auf einem Bett im Wohnraum, in den der Flur hinter der Tür direkt überging.
Inzwischen fällt es mir leicht, Sokrates’ Trennung von Körper und Seele abzuweisen, geschult wie ich bin in feministischer Theorie und sonstigen antidualistischen Ansätzen. Diese Trennung ist ja auch nicht nur falsch, sondern fatal: schon in Sokrates’ Formulierungen zeichnet sich eine starre Hierarchie ab. Die Natur geböte der Seele, über den Leib »zu herrschen und zu regieren«.[3] Dieser Triumph des Unsichtbaren über das Sichtbare hat später, verknüpft mit Paulus’ Fleischeshass, als Körperfeindlichkeit die ganze christliche Tradition durchwirkt. Und wie wir noch sehen werden, kehrt ebendiese Herrschaftsgewalt im Souveränitätsphantasma zurück, das das moderne Selbst zum Eigentümer seiner selbst erklärt. Das alles – das Beherrschen und das ewig Leben – gilt es natürlich zu bestreiten. Aber etwas an der Trennung ist dennoch zutreffend. So jedenfalls hat es sich mir bei diesen Besuchen ins Gedächtnis eingebrannt. Jedes Mal wieder gab es diese Transformation. Anfangs war ich immer betreten, schockiert vom sichtlichen Verfall. Dösend auf der Liege, mit eingefallenem Gesicht, gekrümmten Fingern über der Wolldecke und schütterem Haar, sorgte ich mich oft, ob Jutta überhaupt noch ansprechbar wäre. Aber fünf Minuten ins Gespräch war es, als ob die Krankheit wie weggewischt war. Natürlich bewegte sich der Körper weiter nicht, aber darauf kam es eben auch überhaupt nicht an. Die ganze Luft vibrierte, und Juttas Augen funkelten mit einem koboldhaften Schalk und einer Radikalität, die ich nicht kannte und immer weiter kennenlernen wollte. Ich erklärte es mir damals so, dass es da eben eine intakte, vielleicht gebeutelte, aber doch absolut lebendige Seele gab. Dass diese Seele sich über den Körper erhob, nicht nur in der – zumal dem Umfeld gegenüber – drastischen Entscheidung, ihn unabgemildert sterben zu lassen. Sondern auch im Leben. G.W.F. Hegel sagt, wir seien »geistige Wesen«.[4] Auf irgendeine Weise muss man daran festhalten. Aber ohne dass es kippt in Überlegenheit gegenüber sonstigen Lebewesen, ohne dass die Integrität des Geistes an seiner Körperbeherrschung – oder gar Lustfeindschaft – bemessen wird und vor allem ohne den Tod zu verdrängen. Vielleicht ist Hunger ein gutes Kriterium für endliche Lebendigkeit. Juttas Geist war jedenfalls hungrig. Sie war...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bewegungsfreiheit • Corona • Covid-19 • Essay • Frankfurter Schule • Freiheit • Gemeinschaft • Hannah Arendt • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Klimakrise • Klimawandel • Kritische Theorie • Kulturelle Integration • Migration • Nachhaltiges Handeln • Naturschutz • Pandemie • Reisefreiheit • Revolution • Simone de Beauvoir • Soziale Gerechtigkeit • Umweltschutz |
ISBN-10 | 3-10-491731-0 / 3104917310 |
ISBN-13 | 978-3-10-491731-3 / 9783104917313 |
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