Gekränkte Freiheit (eBook)
478 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77380-2 (ISBN)
Ein wichtiger und hochaktueller Beitrag zur Debatte über den Zustand unserer Demokratie
Querdenker, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen, Journalisten, die sich als Rebellen gegen angebliche Sprechverbote inszenieren: Die Spätmoderne bringt einen Protesttypus hervor, der lautstark für individuelle Freiheiten streitet, etwa frei zu sein von Rücksichtnahme, von gesellschaftlichen Zwängen - und frei von gesellschaftlicher Solidarität. Dieser »libertäre Autoritäre« erlebt sich als zunehmend macht- und einflusslos gegenüber einer komplexer werdenden Welt. Das wird als Kränkung erfahren und äußert sich in Ressentiment und Demokratiefeindlichkeit.
Auf der Grundlage zahlreicher Fallstudien verleihen Amlinger und Nachtwey dieser Sozialfigur Kontur. Sie erläutern die sozialen Gründe, die zu einem Wandel des autoritären Charakters führten, wie ihn noch die Kritische Theorie sich dachte.
Carolin Amlinger, geboren 1984, ist Literatursoziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel.
Einleitung
Meine Freiheit muss noch lang' nicht deine Freiheit sein.
Meine Freiheit: ja! Deine Freiheit: nein!
Meine Freiheit wird von der Verfassung garantiert,
Deine hat bis jetzt nicht interessiert.
Barbara Peters/Georg Kreisler, »Meine Freiheit, deine Freiheit« (1985)
Die alte Schulfreundin, der Kollege, das Familienmitglied, die neuerdings davon raunen, dass sie ihre Freiheit bedroht sehen – die meisten von uns können wohl von solchen Begegnungen berichten. Die Gespräche mit ihnen haben sich verändert. Wir vermeiden bestimmte Themen, weil wir wissen, dass sie auf einen rutschigen Abhang argumentativer Eskalation führen können. Manchmal löst sich ein Gesprächsfaden, im schlimmsten Fall eine alte Beziehung auf. Kinder entfremden sich von ihren Eltern. Sie brechen sogar den Kontakt ab, da sie es nicht länger aushalten, Zeug:innen einer fortschreitenden Radikalisierung zu werden.
Oft handelt es sich bei den entsprechenden Personen um Menschen, die sich selbst als aufgeklärt und liberal beschreiben und die nicht selten über eine umfassende Bildung verfügen. Ihre Sorge gilt nicht autoritären Populisten, weder Donald Trump noch Wladimir Putin, und auch nicht rechtspopulistischen Parteien wie der AfD. Sie wähnen sich eingeschnürt von einer Vielzahl von Regeln, Vorschriften und Verboten. Diese ersonnen habe der »Mainstream« oder neuerdings die »Woken«. Sie sehen sich als Opfer eines sinistren Establishments, in dem Liberale und Linke, Wissenschaft und globale Unternehmen einen Totalitarismus ungekannten Ausmaßes vorbereiten.
Wir (und unsere Mitarbeiter:innen in den entsprechenden Projekten) haben mit einer Reihe von Menschen gesprochen, die auf die eine oder andere Weise ins Driften gekommen sind. Unsere Forschung beruht auf mehr als sechzig Interviews mit Personen aus der Querdenken-Szene (45) sowie zivilgesellschaftlich aktiven AfD-Anhänger:innen (16). Viele der Begegnungen gingen uns noch lange nach. Meistens erschienen uns die Gesprächspartner:innen im ersten Moment gar nicht als die aggressiven Charaktere, als die sich einige schließlich entpuppten. Wir lernten sie als freundliche, ja sogar herzliche Menschen kennen. Allerdings wirkten sie auf uns eigentümlich verstimmt und enttäuscht von der Welt – gekränkt. Im Laufe der Gespräche tauchten neue Facetten ihrer Persönlichkeit auf, vor allem radikale und autoritäre. Sie ließen ihrer Wut freien Lauf, wahrscheinlich auch, weil wir ihnen in unserer Rolle als soziologische Beobachter:innen nicht widersprachen, sondern zuhörten, zuweilen nachfragten.
Da war etwa Herr Rudolph, ein verarmter Fabrikantensohn, der für das Interview extra Kuchenteilchen geholt hatte. Auch Kaffee stand bereit, eine Kanne mit, eine Kanne ohne Koffein. Ein Grüner der ersten Stunde, ein Kosmopolit, der viele Teile des Globus bereist hat, schilderte er eine bewegte Lebensgeschichte voller Einsatz für die gute Sache. Rudolph hat sich für seine Familie aufgeopfert, aber niemand hat es ihm gedankt. An seinem Küchentisch, an dem er nun höflich und zuvorkommend Kaffee einschenkt, habe schon »die halbe Welt« gesessen. Heute gerät er jedoch in Rage, wenn er von der »Überfremdung« seiner Heimat berichtet. Er ist nicht mehr zu bremsen, es wird beklemmend, als er von seinen Rachefantasien gegenüber jenen spricht, die er verantwortlich macht für die Malaise.
Frau Weber hingegen wünscht sich eine Welt, in der es harmonisch zugeht. Sie meditiert für den Weltfrieden und gibt Kurse in dieser Technik. Für sie zählen menschliche Nähe, Kontakte, Berührungen – und all das werde Kindern in der Coronapandemie vorenthalten. Niemand würde das thematisieren, erst recht nicht die »gleichgeschalteten« Medien. Im Staat sei etwas faul, da stimme etwas grundsätzlich nicht. Mit dem Umstand, dass Rechtsextreme auf den von ihr besuchten Demonstrationen mitlaufen, hat sie kein Problem.
Während sich Frau Weber mehrfach entschuldigt, dass sie nicht konsequent gendere, ist der Genderstern für andere zum Symbol einer heraufziehenden Unfreiheit geworden. Einige Intellektuelle sind der Ansicht, es sei kaum noch möglich, vom »Mainstream« abweichende Positionen zu vertreten. Sie warnen vor einer Meinungsdiktatur. Einst hingen sie subversiven Theorien an und traten für die emanzipatorische Überwindung der bestehenden Ordnung ein. Jetzt kämpfen sie für eine nostalgische »Retrotopie« (Zygmunt Bauman), in der alles so werden soll, wie es einmal war. Sie tigern mit dem heißen Atem des Ressentiments durch die Talkshows, wo sie vor einem Millionenpublikum erklären, dass sie mundtot gemacht werden sollen.
Freiheitskonflikte
In vielen Auseinandersetzungen der Gegenwart kommt irgendwann der Punkt, an dem jemand auf das Recht der individuellen Freiheit pocht. Doch was hier verteidigt wird, ist ein anderer Freiheitsbegriff als der, den sich das aufstrebende Bürgertum und die Arbeiterbewegung einst auf die Fahnen geschrieben hatten. Der Ruf nach Freiheit richtete sich damals gegen die absolutistische Monarchie, gegen feudale Abhängigkeiten, die Herrschaft der Kirche und der Zünfte, gegen die staatliche Zensur. Der Begriff der Freiheit war verbunden mit der Forderung nach gleichen Bürgerrechten, etwa nach Meinungsfreiheit und dem allgemeinen Wahlrecht. Heute sind die Freiheitsrechte, die einen Schutz vor staatlicher Willkür bedeuten, weitgehend realisiert.
Aber nur, weil wir im Prinzip von staatlicher Willkür frei sind, steht es uns noch lange nicht frei, alles zu tun, wonach uns gerade ist. Der soziale Aufstieg bleibt vielen verwehrt, weil die ökonomische Macht nach wie vor höchst ungleich verteilt ist (manche, wir etwa, sprechen deshalb von einer Klassengesellschaft). Wir müssen bei Rot an der Ampel halten, Steuern zahlen und als Kinder zur Schule gehen. Es gibt also in jeder Gesellschaft Regeln, die die Freiheit einschränken. Regeln, die einen offiziellen und formellen Charakter haben und vom Staat durchgesetzt werden, beispielsweise die Straßenverkehrsordnung. Es gibt auch Normen, die eher informeller Natur sind: Wenn eine ältere Person Sie bittet, ihr beim Überqueren der Straße zu helfen, müssen Sie das nicht tun und können weiter Ihres Weges ziehen. Sie können auch einen Döner im vollbesetzten Zugabteil verspeisen, wenn Ihnen die entgeisterten Blicke der Mitreisenden nichts ausmachen.
In der Gegenwart wird oftmals ein libertäres Freiheitsverständnis sichtbar, das gewandelte gesellschaftliche Übereinkünfte als äußere Beschränkungen betrachtet, die die eigene Selbstverwirklichung auf illegitime Weise eingrenzen. Die Anhänger:innen eines solchen Verständnisses empfinden das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder gendersensible Sprachkonventionen als Blockade, die sie in ihrer Entfaltung hemmt. Manche gehen sogar noch weiter und richten sich auch gegen die Voraussetzungen, die Freiheit ermöglichen. Sie wollen keine (oder nur sehr niedrige) Steuern bezahlen, fahren aber selbstverständlich auf den Straßen, die aus Steuermitteln finanziert werden. Sie ignorieren, dass medizinische Spitzenforschung ohne staatliche Gelder nicht denkbar wäre und dass Bildung in öffentlichen Schulen die Grundlage individueller Selbstentfaltung ist.
In heutigen Freiheitskonflikten kulminiert eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahrzehnten angedeutet hat. Sichtbar wird sie mit der Rückkehr des intervenierenden Staates, der das individuelle Handeln einschneidend limitiert. Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die nun auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat. Ihre zuweilen frivole Subversion und die rabiate Ablehnung anderer Ansichten zeugen jedoch zugleich von autoritären Einstellungen. Sie verneinen die Solidarität mit vulnerablen Gruppen, sind verbal martialisch und hoch aggressiv gegen jene, die sie als die Verursacher von Einschränkungen ihrer Freiheit identifizieren. Sie tragen rechte Verschwörungstheorien vor, aber den Vorwurf, rechts zu sein, weisen sie entschieden von sich. Dieser Autoritarismus, der auf der unbedingten Autonomie des Individuums beharrt, ist ein Symptom dafür, dass die etablierten politischen Koordinaten in Unordnung geraten sind. Was steckt hinter diesem Wandel? Waren solche ...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-518-77380-1 / 3518773801 |
ISBN-13 | 978-3-518-77380-2 / 9783518773802 |
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