Alternative Fakten (eBook)

Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
336 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77472-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alternative Fakten -  Nils C. Kumkar
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Begriffe wie »postfaktisch« und »alternative Fakten« haben Konjunktur. Sie verweisen darauf, dass in vielen Gesellschaften ein Kampf um die Wirklichkeit der Wirklichkeit entbrannt zu sein scheint. Der Soziologe Nils C. Kumkar betrachtet diese Phänomene jedoch aus einem anderen Blickwinkel: Ausgehend von Fallstudien zu den Auseinandersetzungen um Corona, den Klimawandel und die Größe des Publikums bei der Amtseinführung Donald Trumps, plädiert er dafür, »alternative Fakten« nicht primär als Versatzstücke einer Parallelwelt zu verstehen, sondern als diskursive Nebelkerzen im Kontext polarisierter Debatten. Sie wirken, so Kumkar, nicht als Beitrag zur Konstruktion einer alternativen Realität, sondern als kommunikative Realitätsdestruktion, die es erlaubt, wider besseres Wissen weiterzumachen wie bisher.

Nils C. Kumkar, geboren 1985, ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOCIUM der Universit&auml;t Bremen. Er forscht zu sozialer Ungleichheit und zu politischem Protest. Au&szlig;erdem schreibt er f&uuml;r die <em>Frankfurter Allgemeine Zeitung</em> sowie das Magazin <em>Jacobin</em>.

411. Die größte Feier der Geschichte: Alternative Fakten an der Schwelle von Politik und Massenmedien


Wem vertraust du mehr –
mir oder deinen Augen?

Marx Brothers, Duck Soup (1933)

»Alternative facts are not facts, they're falsehoods« – alternative Fakten sind keine Fakten, sondern Falschbehauptungen –, hielt der Journalist Chuck Todd der Präsidentenberaterin Kellyanne Conway in einem Interview auf dem Sender NBC entgegen, als diese behauptete, der Pressesprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, habe in Bezug auf die Teilnehmer:innenzahl bei Trumps Amtseinführung nicht gelogen, sondern eben »alternative Fakten« präsentiert. Zwei Tage später sekundierte auch die ehemalige Chefredakteurin der New York Times, Jill Abramson, in einem Kommentar für den Guardian, alternative Fakten seien »schlicht und einfach Lügen«.[25]  Wäre es so einfach, würde unsere Geschichte hier wahrscheinlich enden, bevor sie begonnen hat. Die Wortschöpfung »alternative Fakten« wäre dann eine einfache begriffliche Ausflucht geblieben, der 42Versuch, sich aus einer eindeutig inkriminierenden Situation herauszumogeln. Und da sie sofort als solche enttarnt wurde, wäre sie gleich wieder aus dem gesellschaftlichen Wortschatz verschwunden. Doch es kam anders: Wie eine einfache Schlagwortsuche in eingängigen Rechercheplattformen schnell ergibt, war der Begriff bis zu diesem Moment quasi nicht existent, verbreitete sich dann aber rasend durch die Massenmedien, die bis heute nicht aufgehört haben, ihn zu verwenden.[26]  Zumindest in dieser Hinsicht ist die Zeile also durchaus zutreffend, mit der die Washington Post das Transkript des Gesprächs zwischen Chuck Todd und Kellyanne Conway überschrieb: Kellyanne Conway leitete eine Ära alternativer Fakten ein.[27] 

Eine solch steile Begriffskarriere lässt es als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass »alternative Fakten« einfach nur ein anderer Ausdruck für »Lügen« ist. Ob nun etwas anderes als Lügen, eine bestimmte Form der Lüge oder eine Lüge in einem bestimmten Kontext gemeint ist: Wenn nicht irgendein Bedeutungsgewinn damit verbunden wäre, den Begriff anstelle von »Lüge« zu benutzen, hätte er auch als Mode wohl eine sehr viel kürzere Halbwertszeit gehabt. Es wird ein durchgängiges Be43mühen dieses Buches sein, genauer herauszufinden, wovon eigentlich die Rede ist, wenn von alternativen Fakten gesprochen wird. Die Ausgangslage für ein solches Unterfangen ist paradox: Obwohl keine mir bekannte formale Definition der Verwendungsweise des Begriffs gerecht zu werden scheint, wird er doch durchgängig mit einer praktischen Gewissheit gehandhabt, die nahelegt, dass alle am Diskurs Beteiligten sich gegenseitig unterstellen können zu wissen, wovon die Rede ist.[28]  Bei näherer Betrachtung ist das freilich kein Alleinstellungsmerkmal dieses Terminus. Vielmehr ist Alltagssprache grundlegend dadurch gekennzeichnet, dass ihre Begrifflichkeiten gleichzeitig definitorisch unscharf und dennoch im Gebrauch beeindruckend präzise sind. Was Angehörige eines beliebigen Milieus meinen, wenn sie zum Beispiel »Familie« sagen, und worüber sie sich mit diesem Begriff alles verständigen können, das fängt keine Wörterbuchdefinition ein[29]  – und auch die Betroffenen selbst wären höchstens rudimentär in der Lage zu erklären, was sie mit diesem Begriff alles (mit)meinen.[30]  In der Rechtsprechung, die ja eigentlich 44wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Diskurs mit dem Zwang zur Eindeutigkeit operiert, wurde dieses Phänomen, ursprünglich in Bezug auf Pornografie, mit der sprichwörtlich gewordenen Wendung »I know it when I see it« auf den Punkt gebracht – »Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe«.[31] 

Der Lösungsweg, den unter anderem die rekonstruktive Sozialforschung[32]  gewählt und ausgefeilt hat, um solche praktisch eindeutigen, definitorisch unscharfen Begriffe dennoch in den Griff zu bekommen, beginnt deshalb gerade nicht mit einer Definition, sondern mit der Untersuchung ihrer Verwendung.[33]  Im Prinzip geht 45es dabei nur darum, nachvollziehbar nachzuvollziehen, was man beim Erlernen eines Alltagsbegriffes, zum Beispiel in einer neuen Sprache, ohnehin tut: Man liest oder hört ihn in einem Kontext, entwickelt ein Gefühl dafür, was damit gemeint sein könnte, merkt, dass die Gegenüber leicht irritiert reagieren, wenn man ihn nicht ganz zutreffend benutzt, justiert nach, liest oder hört ihn in einem anderen Kontext und erwirbt so (oft) langsam, aber (meist) sicher eine immer solidere praktische Kompetenz in seiner Handhabung.

In diesem Sinne sind die Fallstudien dieses Buches nicht nur eine Erkundung dessen, was alternative Fakten in verschiedenen Kontexten machen, sondern auch ein praktisches Erproben der Begrifflichkeit selbst: Wovon ist eigentlich die Rede, wenn von alternativen Fakten gesprochen wird? Und muss der Begriff abhängig vom jeweiligen Kontext vielleicht doch noch einmal anders gefasst werden?

Damit das aber gelingt (und nicht unnötig kompliziert gerät), ist es wichtig, einen geeigneten Ausgangspunkt für die Rekonstruktion zu wählen: eine Verwendung des Begriffs, bei der man sicher sein kann, dass sie den gesuchten Gegenstand nicht völlig verfehlt. Das Pressebriefing Spicers, das den Anlass zu Conways Begriffsschöpfung bot, ist dafür der beste Kandidat. Der 46gesamte Diskurs um alternative Fakten hatte hier seinen weithin wahrgenommenen Ausgangspunkt:[34]  Wie auch immer man die Ereignisse normativ beurteilt und wie gelungen man die Begriffsschöpfung findet, es ist unstrittig, dass das, was hier geschah, die Artikulation alternativer Fakten war, denn diese Äußerungen wurden hier gewissermaßen so »getauft«. Wann immer seither jemand nach der Devise »I know it when I see it« etwas als alternativen Fakt bezeichnet, beruft er sich implizit auf eine (wie auch immer vage, über verschiedene Zwischenglieder vermittelte) Familienähnlichkeit zwischen dem von ihm so Bezeichneten und diesem ersten »Fall«.

Das Ziel dieser Fallstudie ist ein doppeltes: Zunächst geht es darum, anhand einer Interpretation des Pressebriefings und des Interviews mit Kellyanne Conway eine erste Skizze davon herauszuarbeiten, was man eigentlich getan hat, wenn in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung später die Rede davon ist, man habe einen »alternativen Fakt propagiert«. Der Begriff »alternative Fakten« bezieht sich, so wird sich zeigen, nicht einfach nur auf geäußerte Tatsachenbehauptungen, sondern auf die Art der Äußerung: Man hat nämlich, wenn man alternative Fakten vorträgt, so viel kann ich an dieser Stelle schon vorwegnehmen, nicht einfach nur be47hauptet, dass etwas der Fall ist, sondern auch und vor allem, dass etwas Bestimmtes, gemeinhin Akzeptiertes, nicht der Fall ist. Diese Interpretation wird sich, anders als die späteren Fallstudien, sehr nah an einem relativ kleinen Materialausschnitt entlangtasten. Diese kleinteilige Vorgehensweise ist nötig, um die begrifflichen Weichenstellungen dieser ersten Annäherung an eine Definition alternativer Fakten auch zu begründen (und nicht einfach zu postulieren). Sie erlaubt mir allerdings auch, exemplarisch meine Arbeitsweise bei der Interpretation des Materials zu illustrieren. Ausgehend von dieser ersten Definition, wendet sich das Kapitel dem spezifischen Kontext dieses alternativen Fakts – einem Pressebriefing am Anfang einer hochumstrittenen Präsidentschaft – zu und zeigt, im kursorischen Vergleich mit der sogenannten »Birther-Theory«, die vor allem zu Beginn von Barack Obamas erster Amtszeit im Umlauf war, welches Problem diese Praxis im Fall Spicer/Conway eigentlich bearbeitet: eine unleugbare Legitimationskrise gleich am Anfang der Präsidentschaft Donald Trumps, die durch Indienstnahme einer gleichzeitigen Legitimationskrise des Journalismus aufgefangen wurde. Das Kapitel schließt mit ersten theoretischen Überlegungen dazu, ob und wie das Verhältnis der Systeme Politik und Massenmedien die Praxis der Artikulation alternativer Fakten ermöglicht.

48Alternative Fakten im Dialog:
Pressebriefing und Interview


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Erscheint lt. Verlag 26.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • aktuelles Buch • alt-right • Björn Höcke • Brexit • bücher neuerscheinungen • edition suhrkamp 2811 • Elisabeth Wehling • ES 2811 • ES2811 • Fake Facts • Fake News • Filterblase • Gaslighting • Informationskrieg • Kellyanne Conway • kleinste gemeinsame Wirklichkeit • Lüge • Lügenpresse • Luisa Neubauer • Lukaschenko • mai thi nguyen-kim • Natascha Strobl • Neuerscheinungen • neues Buch • Polarisierung • Populismus • postfaktisch • post-truth • Propaganda • Putin • Russia Today • Sarah Wagenknecht • Social Media • Telegram • Trump • youtube • Zusammenhalt
ISBN-10 3-518-77472-7 / 3518774727
ISBN-13 978-3-518-77472-4 / 9783518774724
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