Ein antisemitischer Doppelmord (eBook)

Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
300 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76946-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein antisemitischer Doppelmord -  Uffa Jensen
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»Letztlich war auch die NSU-Mordserie 20 Jahre später nur möglich, weil man sich schon 1980 geweigert hatte, aus dem rechten Terror Schlussfolgerungen zu ziehen.«

Am 19. Dezember 1980 wurden Shlomo Lewin, der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Nürnberg, und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke in ihrem Haus in Erlangen erschossen. Statt den Spuren nachzugehen, die zur rechtsextremistischen »Wehrsportgruppe Hoffmann« führten, konzentrierten sich die Ermittler lange auf das Umfeld Lewins. Die genauen Umstände der Bluttat blieben ungeklärt. Kaum ein zeitgeschichtlich bedeutendes Ereignis wurde so aggressiv vergessen wie dieser antisemitische Doppelmord.
Uffa Jensen rekonstruiert die Tat und ihre Hintergründe. Er folgt den Verbindungen zur PLO, in deren Lager die Wehrsportgruppe ausgebildet wurde, beleuchtet die Rolle von deren Gründer, Karl-Heinz Hoffmann, und stellt das Attentat in Bezug zu den weiteren Anschlägen des Jahres 1980, in dem in der Bundesrepublik mehr Menschen durch (rechten) Terror ums Leben kamen als in jedem anderen Jahr. Dabei macht Jensen die Muster im Umgang mit Rechtsterrorismus sichtbar, die sich künftig mehrfach wiederholen sollten - eine bis heute anhaltende Geschichte aus Gewalt, Verharmlosung und Verdrängung.



<p>Uffa Jensen, geboren 1969, lehrt Geschichte an der Technischen Universität Berlin und forscht am dortigen Zentrum für Antisemitismusforschung.</p>

1. Einleitung


Das schlimmste Terrorjahr in der Geschichte der Bundesrepublik war nicht 1977, als die linksterroristische Rote Armee Fraktion (RAF) im Deutschen Herbst sieben Menschen tötete. Es war auch nicht 2016, als ein islamistischer Terrorist das Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz verübte, bei dem 13 Menschen ermordet und 67 verletzt wurden. Vielmehr nimmt in der – west-, ost- wie gesamtdeutschen – Nachkriegsgeschichte das Jahr 1980 den traurigen Spitzenplatz ein. Damals schlugen andere, bis heute zu oft vergessene Terroristen erbarmungslos zu. Das verhängnisvollste Attentat des Jahres war der Sprengstoffanschlag auf das Münchner Oktoberfest, begangen von Gundolf Köhler am 26. September, bei dem 12 Menschen sowie der Attentäter getötet und 211 verletzt wurden. Einige Wochen zuvor, am 22. August, hatte eine Terrorgruppe um Manfred Roeder Brandsätze in eine Flüchtlingsunterkunft in der Hamburger Halskestraße geworfen, die beiden Vietnamesen Nguyễn Ngọc Châu und Đễ Anh Lân kamen ums Leben. Am 24. Dezember 1980 erschoss Frank Schubert bei dem Versuch, Waffen aus der Schweiz in die Bundesrepublik zu schmuggeln, zwei Schweizer Grenzbeamte (und sich selbst).1

1980 war das Jahr der westdeutschen Rechtsterroristen; umso befremdlicher ist es, dass viele dieser Taten nahezu in Vergessenheit gerieten. Kaum etwas wurde in der Bundesrepublik so aggressiv und so konsequent beschwiegen und verdrängt wie Gewalt von rechts. Wer die Vor- und Nachgeschichte des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) kennt, wird hinzufügen wollen: Das ist bis heute so.

Obwohl der Rechtsterrorismus die Bundesrepublik bis in die unmittelbare Gegenwart kontinuierlich geprägt hat – ich bin sogar überzeugt: letztlich kontinuierlicher als der Linksterrorismus während seiner überdies kürzeren Geschichte –, verhält es sich im bundesrepublikanischen Gedächtnis genau andersherum: Nur die Gewalttaten der RAF bildeten einen konstanten Fixpunkt für die bundesrepublikanische Selbsterzählung.2 Viele Westdeutsche, die die siebziger und achtziger Jahre bewusst erlebt haben, können sich an die Konterfeis der RAF-Mitglieder Susanne Albrecht, Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt usw. erinnern, auch weil sie zeitweise in jeder Bankfiliale und Poststelle der Republik aushingen. Doch wie sahen Gundolf Köhler, Michael Kühnen, Manfred Roeder oder Ekkehard Weil aus?

Einen Beleg für diese Erinnerungsdifferenz liefert das Google-Tool Ngram-Viewer. Damit kann man die riesigen Mengen an gedrucktem Material, die Google aus den Jahren 1500-2019 digitalisiert hat, nach bestimmten Wörtern durchsuchen. Schaubild 1 zeigt die Verteilung, die Sie sehen, wenn Sie für den Zeitraum seit 1970 die Begriffe »Rote Armee Fraktion« und »Wehrsportgruppe Hoffmann« eingeben.

Schaubild 1: Ngram-Statistik zu den Suchbegriffen in den von Google gescannten Publikationen.

Die beiden Begriffe wurden seit ca. 1985 und vor allem seit 2000 sehr unterschiedlich häufig erwähnt, und die Wehrsportgruppe Hoffmann verschwand Mitte der Achtziger nahezu vollständig aus den Medien. Ein weiterer Hinweis: Wenn man von dem Film Der blinde Fleck (2013) über das Oktoberfest-Attentat absieht, hat rechter Terror selten bis nie die kulturelle Produktion inspiriert, während über die RAF Dutzende Filme gedreht wurden.

Dieses aggressive Vergessen der rechten Gewalt ist aus meiner Sicht eines der größten gesellschaftlichen und politischen Probleme der Bundesrepublik. Mit diesem Buch möchte ich daher an ein weiteres Datum erinnern, das in der obigen Liste über das Terrorjahr 1980 fehlt: den 19. Dezember. An diesem Tag wurden der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Nürnbergs, Shlomo Lewin, und seine Lebensgefährtin, Frida Poeschke, in ihrem Haus in Erlangen erschossen. Getötet wurden sie – so viel kann als gesichert gelten – von einem Mitglied der Wehrsportgruppe (WSG) um den Rechtsextremisten Karl-Heinz Hoffmann, zu der auch Gundolf Köhler Verbindungen hatte, der die Bombe auf dem Münchner Oktoberfest zündete. Die Justiz kam letztlich zu dem Schluss, dass das führende WSG-Mitglied Uwe Behrendt den Doppelmord begangen hat. Doch auch Hoffmann selbst hat bei dem Fall eine wichtige Rolle gespielt. Im Unterschied zu den anderen Morden des Jahres 1980 besaß die Erlanger Tat eine persönliche Dimension: Sie war nicht gegen eine anonyme Menge von Festbesuchern oder unbekannte Insassen eines Wohnheims gerichtet; vielmehr war das Opfer Shlomo Lewin Behrendt und seinem sogenannten »Chef« Hoffmann bekannt, wenn auch nicht persönlich.

Diese Tat war durch die rechtsextreme Ideologie der WSG Hoffmann begründet und wie keine der anderen durch Antisemitismus motiviert, obwohl die Zeitgenossen – und mit ihnen die Ermittlungsbehörden – diesen Aspekt nahezu komplett ignorierten. Wie mit Lewin ein Jude ins Visier der WSG geriet, aber auch, grundsätzlicher, welche Bedeutung Juden als potenzielle Opfer für rechtsterroristische Gewalt hatten und leider noch immer haben, ist Thema dieses Buches.

Mit dessen Titel bezeichne ich das Erlanger Verbrechen als antisemitischen Doppelmord. Was meine ich aber sinnvollerweise, wenn ich von einem antisemitischen Motiv für einen terroristischen und rechtsextremistischen Anschlag spreche? Ist das Ermorden eines Juden (und seiner Lebensgefährtin) nicht per se antisemitisch? Die Antwort auf solche Fragen ist komplizierter, als es zunächst scheinen mag. Ich halte daher eine solche Beschreibung – trotz des unguten Bauchgefühls, das sich bei solchen Erörterungen leicht einstellt – für begründungsbedürftig. In meinem Alltag als Antisemitismusforscher muss ich häufig Stellung dazu beziehen, ob etwas antisemitisch ist oder nicht; in der Regel geht es dabei jedoch um Aussagen. Ob ein Satz einen antisemitischen Gehalt hat, ist allerdings eine andere Frage als im Zusammenhang mit einem Gewaltakt. Einen stereotypischen Satz über Juden kann jemand gedankenlos äußern oder ohne sich des problematischen Gehalts bewusst zu sein. Dies gilt gerade in einer Kultur, die über Jahrhunderte ein reiches Arsenal solcher stereotyper Rede entwickelt hat. In solchen Fällen können wir nicht davon sprechen, dass hier jemand Antisemitismus intendiert. Gleichwohl können wir den Vorwurf aufrechterhalten, dass dadurch ein antisemitisches Stereotyp weiterverbreitet wird. Schließlich kann jemand den antisemitischen Gehalt des Satzes gehört und so verstanden haben. Oder eine Jüdin sich berechtigterweise beleidigt fühlen.3 Manche Forscher sehen in solchen Beispielen einen strukturellen Antisemitismus am Werk, der ohne Intentionalität auskommt – zumindest in Bezug auf den antisemitischen Gehalt, wodurch ein entsprechender Satz natürlich nicht per se intentionslos wird.4

Intentionslosigkeit ist jedoch bei einem Gewaltakt, insbesondere bei einem Mord, keine sinnvolle Kategorie, auch wenn ich später erörtern werde, warum im Fall des Doppelmords struktureller Antisemitismus durchaus eine Rolle gespielt hat. Juristisch gesehen, liegt jedem Mord eine Intention in der Form eines Vorsatzes bzw. einer Tötungsabsicht zugrunde, andernfalls handelt es sich um Körperverletzung mit Todesfolge oder um einen Unfall. Natürlich ist ein Mord denkbar, der ohne Bezug zur jüdischen Identität des Opfers geschieht (zum Beispiel ein Mord aus Habgier, bei dem der Täter schlicht nicht weiß, wen er ermordet). Bei einer Gewalttat mit Todesfolge muss also erstens ein – wie auch immer gearteter – Tötungsvorsatz vorliegen, sonst handelt es sich nicht um einen Mord. Bei einem antisemitischen Mord muss sich zweitens dieser Vorsatz als ein Wille erweisen, eine Jüdin bzw. eine Person zu töten, die man für einen Juden hält.

In Bezug auf das erste Problem muss man Mord etwa von Totschlag unterscheiden, was im Übrigen ein viel diskutiertes Problem des deutschen Strafrechts darstellt, nicht zuletzt da diese Unterscheidung historisch auf den infamen Präsidenten des NS-Volksgerichtshofs Roland Freisler zurückgeht. Ein Mord zeichnet sich durch niedrige Beweggründe (Handeln aus Mordlust, ...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Neonazi • Neuerscheinungen • neues Buch • NSU • Polizei • Rechtsterrorismus • Verschwörungstheorie • Wehrsportgruppe Hoffmann
ISBN-10 3-518-76946-4 / 3518769464
ISBN-13 978-3-518-76946-1 / 9783518769461
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