Gebt die Kinder nie auf (eBook)

Was wir am Beispiel der Rütli-Schule über Bildung lernen können
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Gräfe und Unzer (Verlag)
978-3-8338-8695-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gebt die Kinder nie auf -  Cordula Heckmann
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'Hauptschule unter Polizeischutz', 'Horror-Schule Rütli'. Messer und eingetretene Türen - knallharte Schulrealität mitten in Deutschland. Hilfe von oben ist nicht in Sicht. Lehrer, die kündigen oder die Klasse nur mit Handy betreten, um jederzeit Hilfe zu rufen. 2006 verfassen diese einen Brandbrief. Rütli wird zum Symbol für unsere Bildungskrise. Die neue Direktorin Cordula Heckmann greift beherzt zu und durch, und es entsteht eine der attraktivsten Schulen Berlins - von Bildungsmisere keine Spur mehr. Hier zeichnet sie den Weg des 'Wunders' von Berlin-Neukölln, das keines ist, nach. Eine engagierte Lehrerin über ihren Einsatz für gelungene Bildungsarbeit und alles, was Deutschland in Sachen fairer Bildung bisher falsch macht.

Cordula Heckmann leitet die Gemeinschafts­schule Campus Rütli in Berlin-Neukölln. Im Jahr 2006 richteten sich die Lehrer­innen und Lehrer der Rütli-Schule wegen unhaltbarer Zustände mit einem Brand­brief an die Öffentlichkeit. Cordula Heckmann übernahm die Leitung und gestaltete dort gemeinsam mit dem Team den Wandel von der Problem­schule zu einem Erfolgs­modell.

Cordula Heckmann leitet die Gemeinschafts­schule Campus Rütli in Berlin-Neukölln. Im Jahr 2006 richteten sich die Lehrer­innen und Lehrer der Rütli-Schule wegen unhaltbarer Zustände mit einem Brand­brief an die Öffentlichkeit. Cordula Heckmann übernahm die Leitung und gestaltete dort gemeinsam mit dem Team den Wandel von der Problem­schule zu einem Erfolgs­modell.

Hinweis zur Optimierung
Impressum
Wichtiger Hinweis
Bubble Trouble – Rütli und kein Ende
Deutschland – ein Brennpunkt in Sachen Bildung
Rütli 2006 – Terror, Horror, die härteste Schule des Landes
Und nun? Wege zum Neuanfang
Rütli für alle – 20 Forderungen
Takeaways – Die 20 Forderungen im Überblick
Bildung – die wichtigste Waffe. Ein sehr persönliches Fazit
Literatur

Rütli 2006 – Terror, Horror, die härteste Schule des Landes


Als ich eines Tages Ende März 2006 auf dem Weg zur Heinrich-Heine-Realschule in die Rütlistraße einbog, traute ich meinen Augen nicht: Pressefahrzeuge säumten die gesamte Straße, alle paar Meter standen Journalist:innen, dazwischen Polizeiwagen, neugierige Schüler:innen und Schaulustige. Schnell fand ich heraus, dass die Kolleg:innen der Rütli-Hauptschule einen Brandbrief zunächst an die Schulverwaltung geschrieben und dort keine Antwort erhalten hatten und dann dieser Brief an die Presse gelangt war. In den nächsten Tagen machten die Zeitungen mit plakativen Schlagzeilen auf. Ich arbeitete nun in unmittelbarer Nachbarschaft einer Terror-, Horror- oder SOS-Schule.

Vom mythischen Ort zum Nicht-Ort


Die Rütli-Schule stand viele Jahre vor jenem Brandbrief für einen ganz anderen Ort. In den 1920er-Jahren war Rütli als Reformschule entstanden: modern, progressiv, Inbegriff einer neuen Erziehung. Getragen wurde das Konzept der Lebensgemeinschaftsschule von den Ideen Fritz Karsens, Kurt Löwensteins und Anna Siemsens, die sich für eine sozial ausgerichtete, demokratische und weltliche Gesamtschule einsetzten. Bildung sollte für die breiten Schichten der Bevölkerung zugänglich werden. Mädchen und Jungen wurden hier gemeinsam erzogen. Religion spielte keine Rolle. Herkömmlicher Unterricht wurde ergänzt durch Projektarbeit und Arbeitsgemeinschaften. Nicht nur Eltern aus dem Arbeiterbezirk Neukölln schickten ihre Kinder in die Rütlistraße, sondern auch aus den wohlhabenderen Stadtbezirken wurden täglich Kinder gebracht, deren Eltern von den revolutionären Ideen der Schule begeistert waren. Doch die wirtschaftlichen Probleme der späten 1920er-Jahre hinterließen Spuren. Der Reformgedanke erstarb, Klagen über Probleme häuften sich: »Diebstähle, Widersetzlichkeiten, demonstrative Leistungsverweigerung, zunehmende Aggressivität der Schüler gegeneinander«, so ein Ausstellungsband des Museums Neukölln.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete das Experiment auch formal, die Schule wurde aufgelöst. Ab 1943 richtete man im Gebäude ein Lazarett ein. Die Schüler:innen fanden in anderen Schulen Platz, manche bewahrten die freiheitlichen Ideen. Eine kleine Gruppe Ehemaliger war sogar im Widerstand aktiv. Hanno Günther, Dagmar Petersen, Emmerich Schaper, Wolfgang Pander und Bernhard Sikorski hörten in der Wohnung von Günthers Eltern gemeinsam den Londoner Rundfunk ab, besprachen die Meldungen und formulierten systemkritische Flugschriften. Sie wurden 1942 verhaftet, vom Volksgerichtshof verurteilt und, bis auf Petersen, hingerichtet.

Auf dem Abstellgleis


Mit Günther und seinen Mitstreiter:innen war auch der Geist von Rütli gebrochen. Nach dem Krieg wurde die Schule zwar wiedereröffnet, jedoch als Hauptschule im dreigliedrigen Schulsystem, wie es sie hundertfach in Berlin gab. Noch immer wohnten vor allem Arbeiter im Viertel, später kamen Gastarbeiterfamilien dazu. Doch reformerische Gedanken wehten nicht mehr durch die Schule. Die fanden sich nun in wohlhabenderen Vierteln: Dahlem, Grunewald, Wilmersdorf.

Wann aus der durchschnittlichen Hauptschule jene Problemschule wurde, die der Brandbrief 2006 zeichnete, kann man nicht genau sagen. Der Prozess ging Hand in Hand mit der Verwandlung Nord-Neuköllns in einen sogenannten A-Bezirk – Arbeitslose, Alkoholiker, Ausländer, Asoziale. Schon die Bezeichnung war treffende Diagnose und achselzuckende Resignation in einem.

Der Abstieg war ein schleichender Prozess, gekennzeichnet durch viele Versäumnisse der Politik, die eine Integration von Menschen aus prekären Verhältnissen nicht für nötig befand. In dieser Hinsicht war die Rütli-Schule keine Ausnahme – der spätere Brandbrief hätte genauso gut in Duisburg-Marxloh oder München-Hasenbergl geschrieben sein können.

Man knüpfte eben nicht an die reformpädagogischen Ideen an, sondern nahm hin, dass die Schule im dreigliedrigen Bildungssystem als eine Art Restschule fungierte. Gymnasium und Realschule waren zufrieden – dort verließen Schüler:innen die Bildungseinrichtung mit einem Abschluss, der auf dem Arbeitsmarkt etwas wert war. Wer von der Rütli-Schule kam, verließ die Schule als Abbrecher:in ohne jede Qualifikation oder mit einem Abschluss, der nichts Gutes bedeutete. In einer Zeit, in der die Jugendarbeitslosigkeit hoch war, hatten Rütli-Schüler:innen keine Chance. »Du bist ein:e Versager:in« war eine häufige Zuschreibung, die sich spätestens bei der Lehrstellensuche zu bewahrheiten schien. Vereint waren Schüler:innen und Lehrer:innen durch eine gemeinsame Erfahrung: Ohnmacht und Perspektivlosigkeit.

Aus dem mythischen Ort Rütli, der Feier der Gemeinschaft und des Schulterschlusses, war ein Nicht-Ort geworden.

Kapitulation. Die Mutter aller Brandbriefe


2006 waren selbst die üblichen Instrumente der Gegensteuerung – mehr Lehrerstunden, kleinere Klassen – erschöpft. Überdeutlich zeigte sich jetzt: Das System war am Ende. Die Lehrer:innen waren ausgebrannt und entmutigt, die Schüler:innen abgehängt und ohne Alternativen. Die Kommunikation zwischen beiden Gruppen wurde immer schwieriger. Aus der Hauptschule, die den Gedanken der allgemeinen Volksbildung noch im Namen trug, war 2006 ein Aufbewahrungsort zur Erfüllung der staatlichen Schulpflicht geworden. Trotz aller Anstrengungen der Lehrkräfte.

Die Herausforderungen machten zahlreiche Kolleg:innen krank, auch die Schulleiterin war davon betroffen. Das Schiff Rütli schlingerte ohne nachhaltigen Kurs durch die Bildungslandschaft. Die kommissarische Leiterin sah nur noch einen Ausweg: einen Brandbrief an die zuständige Behörde. Und der blieb unbeantwortet – er versackte zwischen Aktenbündeln. Natürlich fragt man sich: Wie konnte das passieren? Vielleicht wurde der Brief in seiner Bedeutung unterschätzt, womöglich aber waren die geschilderten Probleme so schwerwiegend, dass man sich hilflos fühlte. Vielleicht hoffte man einfach, dass der Sturm vorbeizog. Ich kenne die Antwort nicht.

Sicher ist: Die Schulverwaltung stellte sich taub. Weder gelang es, in angemessener Frist eine Schulleitung zu finden noch auf die Probleme der Schule zu reagieren. Und die waren beträchtlich, wie jener legendäre Brandbrief enthüllte:

»Wie in der Schulleitersitzung am 21.2.06 geschildert, hat sich die Zusammensetzung unserer Schülerschaft in den letzten Jahren dahingehend verändert, dass der Anteil der Schüler/innen mit arabischem Migrationshintergrund inzwischen am höchsten ist. Er beträgt zurzeit 34,9 Prozent, gefolgt von 26,1 Prozent mit türkischem Migrationshintergrund. Der Gesamtanteil der Jugendlichen n.d.H. (nichtdeutscher Herkunft) beträgt 83,2 %. Die Statistik zeigt, dass an unserer Schule der Anteil der Schüler/innen mit arabischem Migrationshintergrund in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. […]

In unserer Schule gibt es keine/n Mitarbeiter/in aus anderen Kulturkreisen. Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber.

Notwendiges Unterrichtsmaterial wird nur von wenigen Schüler/innen mitgebracht. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst: Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen.

Werden Schüler/innen zur Rede gestellt, schützen sie sich gegenseitig. Täter können in den wenigsten Fällen ermittelt werden.

Laut Aussage eines Schülers gilt es als besondere Anerkennung im Kiez, wenn aus einer Schule möglichst viele negative Schlagzeilen in der Presse erscheinen. […]

Unsere Bemühungen, die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, treffen auf starken Widerstand der Schüler/innen. Diesen Widerstand zu überwinden wird immer schwieriger. In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können. Die Folge ist, dass Kollegen/innen am Rande ihrer Kräfte sind. Entsprechend hoch ist auch der Krankenstand, der im 1. Halbjahr 05/06 höher war als der der Schüler/innen. […] Einige Kollegen/innen stellen seit Jahren Umsetzungsanträge, denen nicht entsprochen wird, da keine Ersatzkräfte gefunden werden. Auch von den Eltern bekamen wir bisher wenig Unterstützung in unserem Bemühen, Normen und Regeln durchzusetzen. Termine werden nicht wahrgenommen, Telefonate scheitern am mangelnden Sprachverständnis.

Wir sind ratlos.

Über das QM (Quartiersmanagement) haben wir zwei Sozialarbeiter/innen mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund beantragt, um vor allem mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Aber diese Maßnahme allein wird die Situation nicht deeskalieren. Seit Anfang dieses Schuljahres (05/06) ist die Schulleiterin erkrankt und wird in den vorzeitigen Ruhestand gehen. Die erweiterte Schulleitung, bestehend aus vier Lehrer/innen, hat bis Dezember 05 die Schule geleitet, dann wurde eine kommissarische Schulleiterin aus diesem Kreis ernannt.

Wenn wir uns die Entwicklung unserer Schule in den letzten Jahren ansehen, so müssen wir feststellen, dass die Hauptschule am Ende der Sackgasse angekommen ist und es keine Wendemöglichkeit mehr gibt. Welchen Sinn macht es, dass in einer Schule alle Schüler/innen gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2023
Reihe/Serie Edition Familie & Erziehung
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Berlin • Bildungskrise • Bildungsmisere • Bildungspolitik • Brandbrief • Gesellschaft • Lehrer • Lehrer Schüler Verhältnis • Lernen • Lösungen • Öffentlichkeit • Pädagogik • Problem • Problemkinder • Problemschule • Schule • Schüler • Schulsystem • Systemsprenger • Umdenken
ISBN-10 3-8338-8695-1 / 3833886951
ISBN-13 978-3-8338-8695-9 / 9783833886959
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