Institution Lager (eBook)

Theorien, globale Fallstudien und Komparabilität
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2023 | 1. Auflage
446 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45341-5 (ISBN)

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Institution Lager -
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Der Band bietet einen ersten systematischen Ansatz, um kollektive Fragen und Phänomene in der bislang eher disziplinär-fragmentierten Lagerforschung zu diskutieren, ohne dabei die empirische Pluralität und Heterogenität von Lagersystemen in ihrem jeweiligen historischen, geographischen und politischen Kontext zu vernachlässigen. Drei theoretisch orientierte und zwölf an globalen Fallstudien argumentierende Beiträge von Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen arbeiten die Potenziale und Grenzen sozialtheoretischer Ansätze zur Institution Lager heraus. Sie legen den Fokus auf übergreifende Lagerphänomene wie Ordnungsregime zwischen Zwang, Schutz und Erziehung, Temporalität und Liminalität, Materialität und Raum sowie Subjektivität und Handlungsmacht.

Annett Bochmann, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin. Felicitas Fischer von Weikersthal, Dr. phil., lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg.

Annett Bochmann, Dr. phil., lehrt am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Siegen. Felicitas Fischer von Weikersthal, Dr. phil., lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg.

Ambivalenz der Ausnahme und Normalität. Sozialtheoretische Ansätze zur Institution Lager


Annett Bochmann

Lager – Orte, an denen Menschen gezwungen werden zu leben – sind global und historisch betrachtet keine Ausnahme. Die Institution Lager ist ein vom Regierungssystem unabhängiges, weit verbreitetes und durchaus etabliertes Politikinstrument, mit dessen Hilfe spezifische Menschengruppen isoliert und zu kontrolliert werden.23 Ungeachtet dieser Tatsache betrachtet die Sozialtheorie Lager als Anomalien, mit der Begründung, dass in diesen Institutionen Ereignisse stattfänden, die sich außerhalb des Rechts und außerhalb gewöhnlicher sozialer Normen befänden.

Der Ausnahmecharakter ist auch der Ausgangspunkt der meisten Historiker:innen und Philosoph:innen, die den Ursprung der Institution Lager in den ersten Konzentrationslagern um 1900 während der kubanischen Unabhängigkeitskriege gegen Spanien24 oder dem zweiten südafrikanischen Krieg verorten.25 Mit diesen von den Spaniern und Briten eingerichteten Institutionen der Zwangsumsiedlung an der imperialen Peripherie wird der Zeitpunkt des ersten Aufkommens von Lagernarrativen identifiziert.26 In diesem Zeitraum wurden auch in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika im Kontext des Völkermordes an den Herero und Nama Konzentrationslager errichtet.27 Jedoch wurden bereits vor 1800 Gefangenenlager und Reservationssysteme für die indigene amerikanische Bevölkerung28 geschaffen, welche im Kontext der Lagerforschung kaum rezipiert und eingeordnet werden. Nicht nur die kolonialen Konzentrationslager in Südamerika und Afrika, sondern auch das System der Reservate in Nordamerika dienten der massenhaften Internierung »feindlicher« Bevölkerungsgruppen. Teilweise von diesen ersten Lagersystemen inspiriert29, wurde mit den Konzentrations- und Vernichtungslagern im Nationalsozialismus sowie den Lagern im Gulag-System der Sowjetunion ein systematisches Netzwerk von Lagerinstitutionen errichtet.30 Gegenwärtig sind Flüchtlingslager die global verbreitetste, wenn auch nicht alleinige Form von Lagern auf der Welt. Die Etablierung dieser Lager ist eine politische Antwort auf Flucht und Migration über Staatsgrenzen hinweg. Lager erscheinen aktuell als Instrumentarium der internationalen Politik, um globale Mobilitäten von Menschen zu stoppen, zu kontrollieren und zu regulieren.31

Dieser kurze Rekurs soll zeigen, dass das Lager als ein global und historisch verbreitetes Instrument und eine Technologie politischer Herrschaft zu verstehen ist, der sich Diktaturen als auch Demokratien bedienen. Lager sind Teil einer transnationalen Institutionengeschichte und prägen nicht nur die Politik des 20. Jahrhunderts, wie von Zygmunt Bauman akzentuiert,32 sondern ebenso die internationale Politik der Gegenwart. Lagerinstitutionen existieren von der Vergangenheit bis zur Gegenwart in verschiedensten Formen, von »Maschinen des Terrors«33 bis hin zu wenig abgegrenzten Siedlungen.34 Ein Anomaliecharakter, eine Ausnahme, lässt sich vor diesem Hintergrund kaum attestieren, selbst wenn die Etablierung eines Lagers zunächst als temporär und vorläufig betrachtet wird. Die Ausnahme kann nur auf die Behandlung der Menschengruppen bezogen werden, die gezwungen werden, in ihr zu sein, im Kontrast zur Behandlung der Menschengruppen, die in der Welt außerhalb des Lagers leben.

Der folgende Artikel legt dar, welche und wie Sozialtheorien in der empirischen Lagerforschung genutzt werden, um verschiedene Aspekte von Lagersystemen und ‑konstellationen zu beleuchten. Die in der Forschungslandschaft zu unterschiedlichen Lagersystemen typischerweise angewandten Sozialtheorien — die ich im Folgenden als Lagertheorien bezeichne — tendieren dazu, den Ausnahmecharakter und die Macht von Lagerstrukturen, die durch einen dominanten Souverän auferlegt worden sind, zu fokussieren.35 Dadurch geraten bestimmte Aspekte aus dem Blick, wie etwa die »Notwendigkeiten« der Lagerinsass:innen, das Lagerleben (erträglich) zu gestalten, sowie die Eigendynamiken des Lagerlebens selbst. Damit blenden diese Lagertheorien den Umgang, die Macht, die Bearbeitung, den Widerstand und Kampf von Lagerinsass:innen und dem Lagerpersonal gegenüber auferlegten Strukturen aus. Gleichwohl kann diese binäre Unterscheidung zwischen Beherrschten und Herrschenden in der Praxis diffus sein.36

Wissenschaftler:innen, die aktuell zu unterschiedlichen Lagerkonstellationen forschen, arbeiten in ihren empirischen Studien genau diese Aspekte heraus.37 Diese Differenzen zwischen Theorie und Empirie machen es notwendig, die etablierten Lagertheorien um eine prozessuale, praxeologische Soziologie zu ergänzen. Diese Perspektive ermöglicht es, die lokalen und interaktiven Lagerordnungen in den Blick zu nehmen.

Im ersten Teil des Artikels skizziere ich die grundlegenden Ideen der Lagertheorien und zeige, was diese Konzeptionen in Bezug auf die empirische Lagerforschung leisten, wie sie unser Verständnis von Lagerinstitutionen prägen und wo ihre Grenzen liegen. In der Lagerforschung wird immer wieder auf Hannah Arendts Überlegungen zu Konzentrationslagern und totalitären Regimen verwiesen. Giorgio Agambens Arbeiten zum Ausnahmezustand werden breit und interdisziplinär (sehr kritisch) rezipiert. Zu den in Studien zu Lagern typischerweise angewandten Sozialtheorien zählen des Weiteren die »totale Institution« und die Disziplinarinstitution, wie sie von Erving Goffman (in Asyle) und Michel Foucault (in Überwachen und Strafen) beschrieben werden. Ebenso trägt das Konzept der Heterotopie, Biopolitik und Gouvernementalität von Foucault zu unserem Verständnis von Lagerinstitutionen bei. Weniger, aber zunehmend sichtbar in der Lagerforschung erscheint das Konzept der Liminalität (in den rites de passage) von Arnold van Gennep, das von Victor Turner weiterentwickelt wurde. Abschließend rekapituliere ich die markierten Leerstellen dieser theoretischen Ansätze und zeige, wie diese konzeptuell über eine prozessuale Soziologie überwunden werden können.

Ein zentraler Aspekt dabei ist, dass Möglichkeiten, vor allem aber auch »Notwendigkeiten« der Lagerbevölkerung und anderer lokal präsenter Akteur:innen bestehen, an den Lagerregimen interaktiv mitzuwirken. Das Lagerkollektiv ist differenziert zu betrachten. Die Macht des interaktiven Geschehens, lokaler Ordnungen und Mikrostrukturen, die ich auf Basis meiner Forschung zu Flüchtlingslagern im Globalen Süden konzipiert habe, verdeutlicht dies.38 Am Ende fasse ich die wichtigsten Erkenntnisse, die wir über die etablierten Lagertheorien erhalten, zusammen und diskutiere das Konzept eines kritischen Lagerregimes. Es besitzt das Potenzial, die machtvollen, lokalen und interaktiven Ordnungen und Mikrostrukturen empirisch und theoretisch in die Betrachtung der Institution Lager einzuschließen.

Sozialtheorien zu Lagerinstitutionen und ihre Grenzen


Totalitarismus und Lager

Arendts Überlegungen zu Lagern und ihre Idealtypologie zu Konzentrationslagern wird in der Lagerforschung vielfach genutzt und rezipiert.39 Sie setzt die Funktion von Lagern mit politischen Systemen in Zusammenhang. In ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft40 diskutiert Arendt unter anderem die Rolle von Lagern in totalitären Regimen, insbesondere dem Nationalsozialismus und Stalinismus. Laut der Theoretikerin sind diese totalitären Regime daran interessiert, über jeden Bereich des menschlichen Lebens zu herrschen. Lager dienen den Regimen als Laboratorien, um zu demonstrieren, dass der fundamentale Glauben des Totalitarismus, dass alles kontrolliert und möglich ist, bewiesen werden kann.41 Um die Macht des Regimes zu demonstrieren, wurden diese Labore für Experimente aller Art genutzt.42 Ferner nimmt Arendt an, dass Lager die strikteste Form der für die...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2023
Co-Autor Laura Adam, Reinhard Bernbeck, Annett Bochmann, Tobias Breuckmann, Marc Buggeln, Daniel Bultmann, Darren Byler, Heike Delitz, Felicitas Fischer von Weikersthal, Christoph Jahr, Jonas Kreienbaum, Jochen Lingelbach, Julia Manek, Elisabeth Pönisch, Mirjam Sprau
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Arbeitslager • Flüchtlingslager • GULAG • Konzentrationslager • Lagerforschung • lagertypische Phänomene • Migrationslager • Ordnungsregime • sozialtheoretische Ansätze • Terror-Regime • Umerziehungslager • Vernichtungspolitik
ISBN-10 3-593-45341-X / 359345341X
ISBN-13 978-3-593-45341-5 / 9783593453415
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