Putinland (eBook)
240 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46663-6 (ISBN)
Leonid Wolkow (Jg. 1980) betrat 2009 die politische Bühne und wurde für vier Jahre zum Abgeordneten der städtischen Duma von Jekaterinburg gewählt. 2013 leitete er die Kampagne Alexei Nawalnys bei der Moskauer Bürgermeisterwahl, 2018 als Stabschef dessen Präsidentschaftswahlkampf. Seit 2019 lebt er in Litauen, von wo aus er für Alexei Nawalnys Antikorruptionsstiftung arbeitet. Für sein Engagement verleiht ihm die Theodor Heuss Stiftung 2023 den 58. Theodor Heuss Preis.
Leonid Wolkow (Jg. 1980) betrat 2009 die politische Bühne und wurde für vier Jahre zum Abgeordneten der städtischen Duma von Jekaterinburg gewählt. 2013 leitete er die Kampagne Alexei Nawalnys bei der Moskauer Bürgermeisterwahl, 2018 als Stabschef dessen Präsidentschaftswahlkampf. Seit 2019 lebt er in Litauen, von wo aus er für Alexei Nawalnys Antikorruptionsstiftung arbeitet. Für sein Engagement verleiht ihm die Theodor Heuss Stiftung 2023 den 58. Theodor Heuss Preis.
Einführung
Im November 2021 fuhr ich nach Washington zu Gesprächen mit US-amerikanischen Politikern. Wir diskutierten, wie Alexei Nawalny frei zu bekommen sei, auf welche Weise sich der Druck auf Putins Regime erhöhen ließe, wie ein Wandel in Russland bewirkt werden könnte. Wir besprachen ein mögliches Szenario für die Zukunft Russlands. Ab einem bestimmten Moment fiel mir jedoch auf, dass meine Gegenüber nicht mehr recht bei der Sache waren, dass ihre Gedanken abschweiften. Sie fragten mich stattdessen immer wieder, was ich zum unmittelbar bevorstehenden, unvermeidlichen Krieg in der Ukraine dächte. Ich wunderte mich. Ich glaube, ich musste sogar lächeln. Was für ein Krieg? Wovon reden die?
Für einen Krieg gebe es in der russischen Gesellschaft keine Unterstützung, antwortete ich. Und es herrsche auch nicht die propagandistisch herbeigeführte Hysterie, die notwendig wäre, um einen Krieg zu beginnen. Die Tatsache, dass Putin an der ukrainischen Grenze Truppen zusammenzog, bedeutete meiner Meinung nach nicht, dass er die Ukraine tatsächlich angreifen wollte. Militärische Drohkulissen waren ihm schon öfter als probates Mittel erschienen, um die westlichen Staatsoberhäupter zu beunruhigen und an den Verhandlungstisch zu zwingen, das war immer eine Art Erpressungsmethode gewesen. Aber im 21. Jahrhundert einen richtigen Krieg anzufangen, das wäre doch purer Wahnsinn.
Was dort gerade vor unseren Augen geschehe, entgegneten meine Gesprächspartner, seien definitiv Kriegsvorbereitungen. Es bestehe kein Zweifel daran, dass Putin einen Angriff auf die Ukraine plane, sie hätten verlässliche Informationen darüber. Ich hörte mir das an und dachte: Was für ein Unsinn. Ihr habt Putin offenbar all die Jahre hindurch nicht verstanden. Ihr begreift nicht, dass er nicht von irgendwelchen wahnsinnigen geopolitischen Ambitionen getrieben ist, sondern allein von dem Wunsch, sich grenzenlos zu bereichern und auf ewig an der Macht zu bleiben.
Putin ist ein kleines Licht, er folgt niederen Beweggründen. Das belegt zum Beispiel die Geschichte seines Schlosses am Schwarzen Meer. Als im Januar 2021 der Dokumentarfilm »Ein Palast für Putin« herauskam, eine Recherche der Antikorruptionsstiftung FBK von Alexei Nawalny, war Putin rasend vor Wut. Er ließ die Demonstrationen und Protestaktionen, die daraufhin in vielen russischen Städten stattfanden, mit beispielloser Härte unterdrücken. Nawalny selbst ließ er ins Gefängnis werfen aufgrund eines »Gerichtsurteils«, das nur eine Verhöhnung des Rechtsprinzips zu nennen ist.
Warum hatte dieser Film Putin buchstäblich ins Mark getroffen? Von der Existenz des Schlosses wusste man längst, bereits 2010 wurde darüber berichtet. Aber dieser Film ermöglichte dem Publikum einen direkten Blick in Putins Kopf. Wir hatten öffentlich gemacht, was für ein armseliger und lächerlicher Mensch Russlands Präsident ist. Man sieht einen Mann, der seit zwanzig Jahren unvorstellbare Macht besitzt, der über endlose Dollar-Milliarden aus Öl- und Gasverkäufen verfügt und damit über die Möglichkeit, in seiner Heimat blühende Landschaften zu erschaffen. Was hätte ein ambitionierter Staatschef mit solch unbegrenzten Ressourcen in dieser Zeit nicht alles bewirken können! Wissenschaft und Technik, Industrie und Landwirtschaft, das Gesundheitssystem, das Bildungssystem, die gesamte Infrastruktur hätte er auf ein internationales Spitzenniveau heben können. Und was tut er? Lässt sich einen gigantischen, nutzlosen, unfassbar kitschigen Palastklotz bauen, ein Monstrum aus Gold und rotem Samt – womit sich der kleine Wolodja Putin aus dem zwielichtigen Leningrader Bezirk Ligowka offenkundig einen Kindheitstraum erfüllt hat.
Keinen Staatsmann historischen Formats zeigte dieser Film, keinen großen Politiker, der mit visionärem Blick und schöpferischer Kraft die Zukunft seines Landes gestaltet, sondern einen schlichten Geist, der die Gunst des Zufalls genutzt hatte, um sich die Macht über eines der reichsten Länder der Welt anzueignen, und dem nichts Besseres einfiel, als diese Macht zur Erfüllung privater Bedürfnisse zu verwenden. Jetzt stand für alle sichtbar der Putin da, den wir in unserer oppositionellen Arbeit schon seit Langem gesehen hatten.
Unsere westlichen Freunde wollten nicht verstehen, wie Putin tickte, deshalb schätzten sie die Vorgänge in seiner Machtzentrale oft falsch ein. Aber nun lagen sie richtig, und wir hatten uns geirrt, schrecklich geirrt. Am 24. Februar 2022 begann der größte Krieg auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Alle unsere Prognosen stellten sich als falsch heraus. Wir dachten, wir hätten den Putinismus verstanden, wir glaubten zu wissen, wie er funktioniert. Wir sagten, Putin wird keinen Krieg gegen die Ukraine anfangen, weil er deren Armee nicht besiegen kann und weil solch ein Krieg die russische Wirtschaft in den Ruin treibt. Wir dachten, er ist zwar ein Verbrecher, ein Mensch ohne Skrupel, aber er ist nicht verrückt, er weiß Nutzen und Schaden einer Handlung rational gegeneinander abzuwägen und macht letztlich, was ihm und seinen Freunden die Möglichkeit gibt, sich weiter zu bereichern und für immer an der Macht zu bleiben.
Am 24. Februar 2022 beging Wladimir Putin den größten Fehler seines Lebens. Er hat sich katastrophal verrechnet. Putin wollte innerhalb von 72 Stunden Kiew erobern und die ukrainische Armee zerschlagen. Das hat nicht geklappt. Er dachte, dass die russischsprachigen Städte der Ostukraine seine Soldaten mit Brot und Salz empfangen, ihnen Blumen vor die Panzer streuen. Das Gegenteil war der Fall. Er dachte, er könne alle überrumpeln, und der Westen würde wie schon so oft passiv verharren. Auch darin hat er sich getäuscht. Der Westen hat mit nie da gewesenen Sanktionen reagiert, die Konsequenzen für die russische Wirtschaft sind verheerend. Ja, Putin hat sich verrechnet, aber inzwischen wissen wir auch, dass er im Rahmen seines Denksystems völlig rational entschieden hat, nur auf der Grundlage vollkommen falscher Informationen.
Die Schuld an dieser Tragödie, die sich seit Beginn des Jahres 2022 in Osteuropa abspielt, hat vor allem Wladimir Putin zu verantworten. Trotzdem wäre es zu einfach zu sagen, nur Putins Handeln habe zu dem Krieg und in die heutige Katastrophe geführt. Nach einem Treffen mit Putin 2014 soll Angela Merkel einen Satz gesagt haben, der berühmt wurde: Sie sei nicht sicher, ob er noch »in touch with reality« sei, er habe womöglich den Bezug zur Realität verloren.
Das war eine absolut zutreffende Diagnose. Aber ihr folgte keine Therapie. Einfach zu konstatieren, dass eine Nuklearmacht mit ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat von einem Mann geführt wird, der den Bezug zur Realität verloren hat, war zu wenig. Man akzeptierte Putin weiterhin als legitimes Staatsoberhaupt, man traf sich mit ihm, redete mit ihm, Russland nahm an allen möglichen internationalen Formaten teil, auch am G20-Gipfel, man drückte ihm die Hand und versuchte, den Dialog aufrechtzuerhalten. Als ließe sich mit einem Mann, der in einer Parallelwelt lebt, ein wirklicher Dialog führen.
Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 wurden Sanktionen gegen Russland beschlossen, die eher symbolische Bedeutung hatten und praktisch wirkungslos blieben. Ich denke, dass man im Kreml bei jeder neuen Sanktion damals die Korken knallen ließ, hieß das doch nur neues Futter für die Propaganda. Da seht ihr ja, konnte man sagen, der Westen will uns die Luft abschnüren, jeden Tag rückt der Feind näher an unsere Grenzen heran. Jetzt müssen wir zusammenhalten, unsere Reihen schließen, uns hinter unserem großen Führer versammeln, denn nur Putin weiß, wie wir uns wirksam verteidigen können gegen die immer größer werdende Gefahr aus dem Westen! Der Westen bedroht unsere Existenz, wegen ihm verdienen die Menschen bei uns so wenig und bleibt der Lebensstandard so niedrig. Für jedes Problem, mit dem der einfache russische Bürger zu kämpfen hat, kennt die Propaganda die Universalantwort: Der Westen mit seinen Sanktionen ist schuld.
Währenddessen entfernte sich Putin immer weiter von der Wirklichkeit. Besonders kritisch wurde es seit Beginn der Corona-Pandemie. Aus Angst vor dem Virus isolierte er sich praktisch vollständig von der Außenwelt. Seine Kontakte beschränkten sich bald auf den engsten Kreis weniger hochrangiger Generäle und ausgewählter Funktionäre, mit denen er sich, wie wir inzwischen wissen, vor allem mit der Planung seines Krieges beschäftigte. Der Westen kaufte unterdessen weiterhin fleißig Öl und Gas von Russland, ließ weiterhin Tag für Tag Milliarden Dollar, Euro und Pfund in Putins Kassen fließen und finanzierte ihm seinen persönlichen Luxus genauso wie seine Kriegsvorbereitungen.
Und so landeten wir da, wo wir heute sind. Weil wir Putin eben doch nicht wirklich verstanden haben und weil wir die Entwicklung, die in Russland vor unseren Augen vonstattenging, nicht ernst genug genommen haben. Der Westen hat verschlafen, was direkt vor seinen Augen passierte: die Metamorphose eines halbwegs demokratischen Landes zu einem vollständig faschistischen System, einen Aggressor, eine Gefahr für die gesamte Welt.
Dieses Buch sucht nach Antworten auf die Frage, wie all dies möglich wurde. Wie konnte dieses Russland, auf das wir nach dem Zerfall der Sowjetunion so viele Hoffnungen gesetzt hatten, das anfangs einen so vielversprechenden Weg der Demokratisierung eingeschlagen hatte, zu einem so leichten Opfer eines blassen politischen Emporkömmlings werden, dessen einzige herausragende Qualitäten...
Erscheint lt. Verlag | 4.10.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 24. Februar 2022 • Alexei Nawalny • Angela Merkel • Demokratie • freie Meinungsäußerung • Freiheit • Gerhard Schröder • Geschichte Russlands • Gesellschaft Russland • Korruption • Kreml Kritiker • Krieg gegen Ukraine • Krieg in der Ukraine • Krim • Leonid Wolkow • Markus Lanz • Menschenrechte in Russland • Moskau • Olaf Scholz • Oligarchen • Opposition • Opposition in Russland • Politik • Politik Moskau • Politik Russland • politische Bücher • putin biografie • putin biographie • Putin Buch • Putin Kritik • Putinland • putins armee der trolle • Putins Krieg • putins krieg wir sind im weltkrieg • Putins Netz • putins netz buch • putins netz catherine belton • Putins Welt • Putinversteher • russische Armee • Russische Besatzung • russische Oligarchen • russische Opposition • russische politik • russische regierung • Russischer Krieg • Russland • Russland Buch • russland fahne • russland flagge • Russland Geschichte • Russland im Zangengriff • russland karte • Russland Putin • russland trikot • russland ukraine krieg • Russland verstehen • russland von oben • sachbuch politik • Sahra Wagenknecht • Sowjetunion • Staat • St. Petersburg • UdSSR • Ukraine • Ukraine Krieg • Völkerrecht • Widerstand • Wladimir Putin • Wolodymyr Selenskyj |
ISBN-10 | 3-426-46663-5 / 3426466635 |
ISBN-13 | 978-3-426-46663-6 / 9783426466636 |
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