Wir werden einander viel verzeihen müssen (eBook)

Wie die Pandemie uns verändert hat - und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise
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2022 | 1. Auflage
304 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-29894-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir werden einander viel verzeihen müssen -  Jens Spahn,  Olaf Köhne,  Peter Käfferlein
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Wie ein Orkan ist die Pandemie übers Land gefegt. Nichts ist mehr, wie es war. Zum ersten Mal berichtet jetzt Jens Spahn sehr persönlich aus dem Zentrum des Orkans. Er erzählt, wie die Politik in einer historischen Situation, für die es kein Beispiel gibt, der Krise Herr zu werden versucht, wie Kanzlerin, Ministerpräsidentenrunde, RKI und Experten um den richtigen Weg ringen. Er spart nichts aus, schildert schwierige Entscheidungen, drastische Maßnahmen, Zumutungen und Fehler ebenso wie Momente der Erschöpfung und Verzweiflung, erzählt von maßlosen Angriffen und dem Riss, der durch die Gesellschaft geht. Aber er richtet den Blick auch nach vorn: Wie können wir uns wappnen für kommende Krisen? Wie die erbitterten Gegensätze versöhnen, wie heilen, was unheilbar scheint?
Ein bemerkenswert offener, ebenso kritischer wie selbstkritischer Blick auf unser Land in seiner bisher vielleicht größten Bewährungsprobe.

Jens Spahn, Jahrgang 1980, ist Mitglied im CDU-Präsidium und als Fraktionsvize zuständig für Wirtschaft, Klima und Energie. Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann studierte er Politikwissenschaft. Seit 2002 ist er Bundestagsabgeordneter. In seinem münsterländischen Wahlkreis hat er bereits sechsmal in Folge das Direktmandat errungen. Von 2009 bis 2015 war er gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, anschließend Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen. Als Bundesminister für Gesundheit von März 2018 bis Ende 2021 galt es in der Zeit der Corona-Pandemie schwere Entscheidungen zu treffen und auch unkonventionelle Wege zu gehen, um möglichst viel Schaden abzuwenden und das Land gut durch die Krise zu führen. Spahn lebt mit seinem Ehemann in Berlin.

I.

Dienstag, 25.02.2020:
»Jens, wir haben ein Problem.«


Das Virus kommt nach Deutschland


Dass es passieren würde, dass das Virus sich auch bei uns in Deutschland und Europa unkontrolliert ausbreiten würde, daran gab es im Februar 2020 schon bald keinen Zweifel mehr. Die Frage war immer: Wann? – Wann würde es so weit sein, wie lange schafften wir es, diesen Tag für Deutschland hinauszuzögern?

Wir wollten mit der gewonnenen Zeit zwei Dinge erreichen: Das Gesundheitswesen steht in jedem Winter durch die Grippewelle unter besonderem Stress – von Jahr zu Jahr in unterschiedlicher Intensität, aber fast immer unbemerkt von der breiteren Öffentlichkeit. Es galt also erstens, so viel Zeit wie möglich zu gewinnen, um eine gleichzeitige Belastung des Gesundheitswesens durch eine hoffentlich bald abflauende Grippewelle und ein neues Virus zu vermeiden. Und zweitens bedeutete jeder Tag, an dem sich Covid-19 nicht unkontrolliert in Deutschland ausbreiten konnte, mehr Zeit, um Wissen und Erfahrung zu einem nahezu unbekannten Virus zu sammeln.

Das Land mit dem ersten großen Corona-Ausbruch, die Volksrepublik China, verhielt sich wenig transparent oder kooperativ gegenüber der Weltgemeinschaft und der Weltgesundheitsorganisation, der WHO. Deshalb war unseren Expertinnen und Experten zu Ansteckungswegen und Übertragungsrisiken, zu Inkubationszeit, Krankheitsverlauf und Therapie in der Anfangszeit wenig bis nichts bekannt. Wir schafften es, die Lage für einige Wochen unter Kontrolle zu halten, indem bei den vereinzelten bestätigten Corona-Fällen in Deutschland zügig und durchgehend Kontakte verfolgt und die jeweiligen Infektionsketten gebrochen werden konnten. Und dann kam der Moment, mit dem uns bewusst wurde: Von heute an kommt etwas Gewaltiges auf uns zu. Das Virus war außer Kontrolle und nicht mehr aufzuhalten. Es war der Karnevalsdienstag.

Der Tag begann unter ganz anderen Vorzeichen. Meine Partei, die CDU, befand sich mitten in einer unerwarteten Umbruchphase. Annegret Kramp-Karrenbauer hatte am 10. Februar 2020 angekündigt, auf eine Kanzlerkandidatur zu verzichten und den Parteivorsitz abzugeben. Seitdem beherrschte die Frage ihrer Nachfolge für den Vorsitz der größten Regierungspartei die Schlagzeilen. Am Vormittag dieses Karnevalsdienstags, am 25. Februar 2020, saßen der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, und ich in der Berliner Bundespressekonferenz und verkündeten zur Überraschung vieler, dass wir gemeinsam als Team auf dem im April geplanten Parteitag antreten würden: Armin für den Vorsitz der Partei, ich als einer seiner Stellvertreter. Ich selbst würde mich also nicht erneut um den Chefposten bewerben. Bei dem vorherigen Vorsitzenden-Wettbewerb im Herbst 2018 war ich angetreten, um der Partei nach vielen Jahren der Führung durch Angela Merkel einen Generationswechsel anzubieten. Ich hatte verloren, doch die Kandidatur hatte sich richtig angefühlt. Jetzt war die Lage eine andere, unsere CDU war in einer veritablen Krise. Es gab zu viel Streit, der politische Gegner wurde zu oft innerhalb der eigenen Union gesehen. Es brauchte also jemanden, der in der Lage war, Christdemokratinnen und Christdemokraten wieder zusammenzuführen. Ich war überzeugt, dass Armin Laschet als erfolgreicher Ministerpräsident des größten Bundeslandes dafür der Richtige war, und unterstützte ihn daher. Dass der geplante Parteitag dann gar nicht mehr im Jahr 2020 stattfinden würde, ahnten wir beide an diesem Vormittag nicht.

Womit wir beim weiteren Verlauf des 25. Februars wären. Gleich nach der Pressekonferenz fuhr ich zum militärischen Teil des Flughafens Tegel und machte mich mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr auf den Weg nach Rom. Dorthin hatte Roberto Speranza, Italiens Gesundheitsminister, seine Kollegen aus den Anrainerstaaten Norditaliens sowie mich als Vertreter der Bundesregierung zu einem kurzfristig angesetzten Krisentreffen eingeladen, um über die aktuelle Corona-Situation in seinem Land zu berichten und das weitere Vorgehen abzustimmen. Bis dahin waren in Italien, dem ersten Corona-Hotspot in Europa, zehn Menschen nachweislich an den Folgen von Covid-19 gestorben, die Zahl der Infizierten stieg sehr schnell an. Das Treffen fasste ich später am Tag auf Facebook zusammen:

»Heute bin ich der Einladung meines italienischen Amtskollegen Roberto Speranza nach Rom gefolgt. Dort haben wir mit Blick auf das #Coronavirus die aktuelle Lage und das weitere Vorgehen in Europa besprochen. Die Gesundheitsminister Italiens, Österreichs, Kroatiens, der Schweiz, Sloweniens, Frankreichs und ich haben uns darauf geeinigt, Reisende von und nach Italien nach demselben Muster über das Virus zu informieren. Außerdem wollen wir Daten und Informationen, bspw. zum klinischen Management der Epidemie, untereinander austauschen. Reisebeschränkungen haben wir nicht vorgesehen.«

Noch dominierte unter uns Europäern also die Einschätzung, dass Reisebeschränkungen oder gar Grenzschließungen im Kampf gegen dieses neue Virus nicht nötig sein würden. Gespeist war diese Einschätzung übrigens aus zwei konkreten Beispielen: Zum einen war Italien damals das einzige Land der EU, das alle direkten Flugverbindungen mit China bereits gestoppt hatte. Und trotzdem war es das erste sehr heftig getroffene europäische Land. Das war nicht unbedingt ein Beweis für die Wirksamkeit von Flugunterbrechungen. Zum anderen schilderte der Gesundheitsminister der Schweiz, Alain Berset, in Rom eindrücklich die Folgen möglicher Grenzschließungen für die italienische Schweiz, deren Krankenhäuser beispielsweise auf die täglich pendelnden Pflegekräfte aus Italien angewiesen wären. Das Offenhalten der Grenzen deckte sich auch mit den damaligen Empfehlungen der WHO, die ausdrücklich von Reisebeschränkungen abriet.1 Das sollte sich im Laufe der Pandemie noch ändern.

Von diesem Treffen in Rom ist mir eine Gesprächssituation in besonderer Erinnerung geblieben. Mit eindringlichen Worten berichtete Minister Speranza von den Zuständen in Bergamo: von den vielen Infizierten mit blau angelaufenen Lippen, eine Folge von bereits eingetretenem Sauerstoffmangel. Und er sagte mit Verzweiflung in der Stimme: »Sie kommen zu spät in die Kliniken, sie kommen einfach alle viel zu spät.«

Jene dramatischen Bilder aus Bergamo haben sich in unser kollektives Gedächtnis gebrannt. Speranzas große Sorge war, dass die Krankenhäuser den vielen Corona-Patienten nicht gewachsen sein würden, vor allem im Hotspot Norditalien. Diese Sorge war berechtigt. Zeitweise zählten die überlaufenen Krankenhäuser selbst zu den Hauptübertragungsorten für das neue Virus. Beatmungsgeräte und Intensivbetten wurden erstmals seit ziemlich langer Zeit wieder knapp in Europa. Der vorher schon vorhandene Mangel an Pflegekräften verschärfte die Lage.

Im Anschluss an das Treffen ging es in rasender Fahrt mit Blaulicht durch den Feierabendverkehr Roms zurück zum Flughafen. Ich schaute aus dem Fenster und grübelte über die Frage, auf was wir uns in Deutschland noch alles würden einstellen müssen. Direkt nach der Landung gab ich dem heute journal aus dem ZDF-Studio in Berlin ein Interview zu meinem Besuch in Rom.

Spät abends kaum im Flur meiner Wohnung angekommen, klingelte das Telefon. Karl-Josef Laumann (CDU), langjähriger Weggefährte und erfahrener Gesundheitsminister Nordrhein-Westfalens, war dran und eröffnete das Gespräch mit den Worten: »Jens, wir haben ein Problem. In Heinsberg.«

Das Virus hatte das gesellige Beieinander eines einzigen dörflichen Karnevalsabends in Gangelt genutzt, um sich binnen Stunden so sehr zu verbreiten, dass es unmöglich wurde, die Infektionsketten noch zu verfolgen und brechen zu können.

An diesem Abend lag ich lange wach, denn mir war klar: Jetzt gibt es kein Zurück mehr, das Virus ist nun endgültig auch unser Virus. Was am Vormittag noch wichtig erschien, der große Auftritt vor der Presse, der ganze Rummel um die Frage des Parteivorsitzes und wie es mit der Regierungspartei CDU weitergehen würde, war zur Nebensache geworden. Es galt mehr denn je das Prinzip: Zuerst das Land, dann die Partei.

Am nächsten Tag, dem Aschermittwoch, wollte ich eigentlich in meinen münsterländischen Wahlkreis und dann bis zum Ende der Woche in den bayerischen Kommunalwahlkampf fahren. Noch in der Nacht aber hatte ich meinem Büroleiter geschrieben, er solle bitte alle Termine absagen, die nächsten Wochen würden wir uns nur noch mit Corona beschäftigen – und Berlin nur ausnahmsweise verlassen.

Ich trat vormittags vor die Presse, um über die neue Lage zu berichten: Die Pandemie war in Deutschland angekommen. Bis Karneval hatte es sechzehn Infektionsfälle in ganz Deutschland gegeben, vierzehn dieser Erkrankten waren bereits wieder genesen. Ich erläuterte den entscheidenden Unterschied, dass bei den jetzt neuen Fällen Infektionsketten nicht mehr nachverfolgt und somit gestoppt werden konnten. Der sogenannte »Patient Null«, also die Ursprungsinfektion für den Ausbruch in Gangelt, konnte nie zweifelsfrei ermittelt werden. Letztlich spielte es auch keine Rolle mehr. Die Karnevalssitzung wurde zum Synonym eines Superspreading-Events, so wie die Après-Ski-Party im österreichischen Ischgl wenig später. Superspreading, das ist ein Ort oder eine Veranstaltung mit idealen Bedingungen für das Virus, um sich zu verbreiten. Ein Ort, an dem Menschen im geschlossenen Raum dicht gedrängt miteinander reden, lachen, singen,...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Alexander Kekulé • Angela Merkel • astrazeneca • Biontech • Christian Drosten • Corona-Pandemie • Daniel Funke • Demokratie & Bürgerrechte • eBooks • Gesundheit • Gesundheit & Medizin • Gesundheitsminister • Hendrik Streeck • Impfstoff • Jonas Schmidt-Chanasit • Karl Lauterbach • Krisenmanagement • lockdown • Lothar Wieler • Markus Söder • Marylyn Addo • Masken, Atemschutzmasken und Mundschutzmasken • Maskenskandal • Medizin • moderna • Neuerscheinung • Pandemie • Pandemiebekämpfung • Robert Koch-Institut • Winfried Kretschmann
ISBN-10 3-641-29894-6 / 3641298946
ISBN-13 978-3-641-29894-4 / 9783641298944
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